IDEOLOGISCHER SCHIFFBRUCH ALS AUSWEG. VOLKER BRAUN: BODENLOSER SATZ
Im September 1988 in der DDR geschrieben und 1990 bei Suhrkamp veröffentlicht1, zeugt Volker Brauns Text Bodenloser Satz von der Erosion der DDR. Seine besondere Note erhält er dadurch, dass hier jemand aus der Perspektive eines engagierten Sozialisten schreibt. Allerdings handelt es sich um einen solchen Sozialisten, der nicht wie die Dogmatiker seine Augen vor dem zunehmenden Wirklichkeitsverlust der DDR verschließt, sondern sie gerade offenhält. Er registriert schmerzhaft etwas, was er wegen seiner Überzeugungen eigentlich gar nicht registrieren möchte. So kann der Text als Protokoll einer Krise verstanden werden, in die ein überzeugter Sozialist angesichts sich aufdrängender Wahrnehmungen gerät. Der Ich-Erzähler vollzieht gleichsam am eigenen Leibe, bei Anfechtung seiner Identität, eine Krise mit, die auch diejenige seines Staates ist. In dem Maße, wie ihm das bloß Gewollte seiner Identität bewusst wird, lässt er sich widerstrebend in einen Zustand der Verwirrung hineingleiten. In formaler Hinsicht spiegelt sich dieser Prozess einer Destabilisierung dadurch wider, dass die einzelnen Sätze zumeist nicht durch Punkte, sondern durch Semikola voneinander geschieden werden. Wegen des übergroßen inhaltlichen Drucks, unter dem sie stehen, werden sie zu Gliedern eines atemlosen, anscheinend unabschließbaren Satzes. Der Titel des Textes findet, so gesehen, seine Entsprechung in dessen Form.
Um nicht den Wahrnehmungsverengungen der herrschenden Ideologie zu erliegen, verknüpft Volker Braun die politische Ebene des
- — Volker Braun, Bodenloser Satz, Berlin, Suhrkamp, 1990. Die Zitate aus dem Buch werden im Fließtext mit den Seitenzahlen in Klammern angegeben.
(RE)LECTURES
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Textes mit einer persönlichen Ebene. Nur indem er auf seine eigenen
Erfahrungen im Tagebau der Lausitz zurückgreift, meint er, gleichsam
von unten her, den falschen Weichenstellungen bei der Verwirklichung
des Sozialismus in der DDR auf die Spur kommen zu können. Als Ich-
Erzähler bringt er diese Erfahrungen ein. Diesem zur Seite steht ein Paar:
Klara und Karl, das von der Spannung zwischen den Imperativen der
Arbeit und ihrer Liebe zerrissen zu werden droht.
Dem Wort „Satz“ fällt nicht nur wegen des Titels, sondern auch
darüber hinaus eine Schlüsselrolle zu. Sechsmal kommt es, zumeist an
prominenten Stellen, vor (S. 16, 20, 27, 31, 32, 33). Der Satz wird deswegen
zur zentralen Instanz, weil durch ihn die Herausforderungen, die das
Projekt des Sozialismus mit sich bringt, in komprimierter Form Gestalt
annehmen. Die Erschütterungen, denen der Ich-Erzähler und das Paar
ausgesetzt sind, sind zugleich diejenigen des Satzes. So gesehen geht es in
dem Text wesentlich um das Schicksal des Satzes. Deswegen möchte ich bei
meinem Gang durch den Text vor allem den „Satz“ in den Blick nehmen.
Mithilfe des Satzes erhebt sich der Mensch über die Wirklichkeit. Er
soll dem Menschen garantieren, die Wirklichkeit, der er doch ausgeliefert
ist, in den Griff bekommen zu können. Wenn nach den Gründen für
den offensiven Impetus gefragt wird, durch den sich der Satz bei Volker
Braun auszeichnet, so stößt man auf das Projekt des Sozialismus in der
DDR und in theoretischer Hinsicht auf den von Marx hergeleiteten
historischen Materialismus. Der Satz wirkt dann als Ansporn dafür, bei
der Arbeit nicht nur eine optimale Leistung, sondern auch die Schaffung
einer neuen Gesellschaft anzustreben. So geht es bei der Braunkohleförderung
in der Lausitz nicht nur um möglichst hohe Erträge, sondern
auch um die Zukunft der Gesellschaft. Durch die zu leistende Arbeit soll
zugleich das Alte, das noch in der Gesellschaft vorherrscht, überwunden
werden. In dem Text von Volker Braun wird das Forcierte der Aktivitäten
deswegen besonders anschaulich, weil hier die radikale Umwälzung des
Erdreichs und die Umgestaltung der Gesellschaft kongruieren. So wie bei
der Braunkohleförderung das vorhandene Erdreich als das Alte gilt, das
es wegzuräumen gilt, so soll auch im gesellschaftlichen Leben das Neue
durch die Überwindung des Alten entstehen. Der Kampfmodus, in dem
man sich permanent befindet, schließt aus, dass man einen besonderen
Sinn für die Eigenart des Vorhandenen entwickelt, mit dem man es zu
tun hat. Dabei beansprucht aber die Politik, die auf dem historischen
Materialismus fußt, nur das durchzusetzen, was die Menschen im Grunde
wollen. Die Überlegenheit dieser Politik gegenüber anderen Formen der
Politik soll darauf beruhen, ihre Handlungsziele aus dem Wissen über
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Ideologischer Schiffbruch als Ausweg. Volker Braun: Bodenloser Satz
die Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung herzuleiten.
Die Handlungsziele sollen dem immanenten Telos der gesellschaftlichen
Entwicklung entsprechen. Die Krux für diese Politik scheint nun aber
darin zu bestehen, dass gerade durch diese vorausgesetzte theoretische
Durchdringung der gesellschaftlichen Wirklichkeit der unmittelbare
Kontakt zur Wirklichkeit verloren zu gehen droht. Das sichere Wissen
darüber, was ist, verleitet dazu, das nicht mehr recht wahrzunehmen,
was wirklich ist. Es wird insofern zum Besserwissen, als es sich über die
Dinge erhebt, statt sich ihnen unterzuordnen. Die Gewissheit, durch
den historischen Materialismus bereits über die Entwicklungsgesetze
der gesellschaftlichen Realität informiert zu sein, kann also gerade die
Wahrnehmung dieser Realität trüben. Man neigt dann dazu, in der
Realität nur das wahrzunehmen, was man durch den historischen
Materialismus schon weiß. Dieses Besserwissen nährt sich aus einem
missverstandenen Hegel. Das Ganze zu wissen, ist, wie Hegel weiß, nur
retrospektiv möglich und wird, ins Prospektive gewendet, wie es die
Linkshegelianer tun, repressiv.
Der Satz, der sich als sichere Leitlinie für das Handeln empfiehlt,
mag sich demnach als Falle für das Handeln entpuppen. Volker Braun
stößt bei seiner Verunsicherung durch die Existenzkrise der DDR auf
die Paradoxie, gerade durch das sichere, gar „wissenschaftliche“ Wissen
über die gesellschaftliche Wirklichkeit dieselbe womöglich zu verpassen.
Diese Paradoxie treibt ihn um und wird zum Movens seines Textes.
Die Hinwendung zu den Dingen, die durch den Satz programmiert
wird, ist insofern zugleich Abwendung von ihnen, als es vor allem
auf ihre Verwertung ankommt. Sich näher auf sie einzulassen, würde
bedeuten, den Zweck des Tuns, denjenigen der Arbeit, zu verfehlen. Diese
Umgangsweise mit den Dingen prägt aber die Umgangsweise mit der
Wirklichkeit überhaupt. So wirkt sie sich nicht nur auf das Verhältnis
des Menschen zur Natur aus, sondern auch auf das zwischenmenschliche
Verhältnis. Zum Prüfstein wird nach Volker Braun die Liebe. Zur Sprache
kommt mit diesem Wort das, was den Menschen eigentlich lebendig
macht; zugleich zeugt es aber auch von der Unmöglichkeit, dieses Lebensspendende
zu erfassen. Insbesondere die Sprache, die vom Satz geprägt
wird, verhindert dies.
Die Frau erscheint in Brauns Text im Unterschied zum Mann als
diejenige, die trotz dieser ungünstigen Umstände für die Liebe kämpft.
Der Mann, im Banne des Satzes, bleibt dabei eher passiv. Bei ihr, im Text
Klara, liegt also die Initiative. Er akzeptiert sie als „Herrin“ (S. 33) oder
„[…] sie befahl […] ihm ihre Lust […]“ (S. 17). Wenn zu Beginn des
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Helmut Pillau
Textes eine Frau, ohne sich zu erkennen zu geben, den halbschlafenden
Ich-Erzähler zum Liebesakt bringt, so zeugt die Punktualität dieses Aktes
zugleich von der Möglichkeit und der Unmöglichkeit der Liebe. Da alles
wieder schnell vorbei ist, stört hier die Liebe das Arbeitsleben nicht weiter.
Klara versucht demgegenüber ihrem Partner Karl bewusst zu machen, wie
wenig sich ihre gemeinsame Liebe mit seiner vom Satz bzw. der Arbeit
geprägten Sichtweise verträgt. Klar soll ihm werden, inwiefern ihm seine
„vernünftige“ Sicht der Liebe nur dazu dient, ihn vor der Realität dieser
Liebe abzuschirmen. Solange sie nur über ihre Liebe sprechen würden,
würden sie sich gerade vor dieser Realität drücken und „[…] unter dem
Dreck, unter den Worten, dem elenden Text“ (S. 32) begraben werden. Da
die geläufige Sprache gerade das übergeht, worauf es ankommt, bleibt für
die Frau nur die Unmittelbarkeit einer schmerzhaften Konfrontation von
Arbeitsrealität und Liebe. Dass das Bescheidwissen dazu dient, sich die
Wirklichkeit vom Leibe zu halten, weiß sie nur zu genau. So beginnt ihr
Gespräch über ihre Liebe ausgerechnet, als beide dem Arbeitsgeschehen,
also der Wühltätigkeit des Baggers, physisch ausgeliefert sind. Beinah
verzweifelt registriert Karl in dieser Situation, wie die Chancen ihrer
Liebe genauso zu schwinden drohen wie das Erdreich, das von dem
Bagger vertilgt wird. Während Karl unbedingt an dieser Liebe festhalten
will, spürt Klara die Unvereinbarkeit ihrer Liebe mit seiner Arbeit umso
intensiver: „[…] und sie fühlte wieder den Haß auf seine Tätigkeit […]“
(S. 31). Wenn sie die Bedrohung der Liebe durch „[…] diese[n] Satz, den
ich hasse; […]“ (S. 32) anprangert, so wirkt dies wie ein Notschrei. Ihr ist
bewusst, dass das Funktionieren der Gesellschaft gerade von der Verdrängung
dessen abhängt, wofür sie kämpft. Das, wodurch der Mensch lebt
und das, wodurch die Arbeits-Gesellschaft funktioniert, klaffen zu weit
auseinander. Die optimistischere Sicht des Mannes kann sie deswegen
nicht teilen, weil ihr diese wie eine kalkulierte Kurzsichtigkeit vorkommt.
Indem er voraussetzt, über die Liebe Bescheid zu wissen, versucht er
bloß, sie in seinem Sinne einzuhegen. Seine Strategie, zunächst nur halb
Mensch zu sein, um es später ganz sein zu können, scheitert deswegen,
weil er dadurch verlernt, überhaupt Mensch zu sein. Die Frau weiß das,
der Mann aber nicht.
Aufmerksam macht die Frau den Mann nicht auf etwas, was er übersehen
hat, sondern auf die ausgrenzende Funktion seiner Art zu sehen. Um
dem Ausgegrenzten trotzdem beizukommen, müsste er also nicht nur
seinen Blick schärfen, sondern auch seine Art zu sehen ändern. Da aber
in der Arbeitsgesellschaft diese Sehweise dominiert, kommt gerade das
nicht in Frage. Dass der vorherrschende Blick nicht nur ablenkt, sondern
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Ideologischer Schiffbruch als Ausweg. Volker Braun: Bodenloser Satz
auch verzerrt, zeigt sich nicht nur angesichts der Liebe, sondern auch
angesichts der Natur. Im Zusammenhang mit der Braunkohleförderung
wird dies besonders deutlich, weil die Natur, mit der man es in der Lausitz
zu tun hat, auf besonders konsequente Weise nur aus dem Blickwinkel
der Arbeit gesehen wird. Wenn sich Klara über die Obsession Karls für
seine Arbeit erregt, so kommt sie dabei in einem Atemzug auf die Natur
und die Liebe zu sprechen: „[…] und dafür hasse sie ihn, daß er die Erde
erkläre und verrate, ihre Krume, ihren Lehm, ihren Kies, ihre Kohle…
ihre Liebe verrate und das seine Arbeit nenne, was für schreckliche Arbeit
[…]“ (S. 18).
Sie kann die Natur und die Liebe deswegen in einem Atemzug nennen,
weil beide Male die Erklärung oder die Objektivierung nur dazu dienen,
die Natur bzw. die Liebe verfügbar zu machen. Das Verhältnis des Mannes
zu beiden zeigt der Frau, wie er dem, was ihn erst lebendig werden lässt,
systematisch den Rücken kehrt.
Dass diese Einstellung aber nicht selbstverständlich ist, sondern Selbstüberwindung
erfordert, zeigt Volker Braun, indem er die unmittelbaren
Vorbereitungen für das Umpflügen des Erdreichs schildert. In die Augen
springen zunächst nicht die Ergebnisse der Braunkohleförderung, sondern
die noch intakte Natur und die menschlichen Siedlungen, die dafür
geopfert werden müssen. Wie in der direkten Konfrontation mit den zu
opfernden Dingen offenbar wird, reicht die theoretische Einsicht in die
Notwendigkeit des Tuns nicht aus. Dies spiegelt sich in dem Verhalten
des Bürgermeisters wider, der für die Gegend zuständig ist, in welcher
der Bagger in Aktion treten soll. Trotz seines prinzipiellen Einverständnisses
mit dem geplanten Unternehmen scheint er doch unmittelbar
vor dem Fällen einer „riesigen Linde“ (S. 15) weich zu werden: „[…] der
Bürgermeister, ich sehe es jetzt genau, zerkniff eine Träne im zerfälteten
Augenlid […]“ (S. 16).
In diesem kritischen Moment hebt der Ich-Erzähler zu dem „Satz“ an
(ebd.). Aus seiner Sicht gilt es nun, alle an ihre gemeinsame große Aufgabe
zu erinnern. Bevor er sich aber recht ins Zeug legen kann, kommt ihm
schon der Bürgermeister mit seinen Anfeuerungen dazwischen. Das Land,
für das er zuvor noch eine sentimentale Anhänglichkeit gezeigt zu haben
scheint, offeriert er nun den Arbeitern mit „einer großzügigen Geste: “[…]
nehmt euch, Kinder! Nehmt es euch! Nehmt euch mein Land!”“ (ebd.)
Die Art des Lachens, mit der er diese Aufforderung begleitet: „[…] mit
trockenem, bellendem Lachen […]“ (ebd.), verrät allerdings, wie ihm
dabei wirklich zu Mute ist. Statt dass es wegen seiner Ungezwungenheit
ansteckend wirken würde, macht es wegen seiner Freudlosigkeit eher
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Helmut Pillau
beklommen. Dass der „Satz“, der, wie der Ich-Erzähler nochmals betont,
„[…] zu sagen [ist]“ (ebd.), auf die Ermahnung abzielt, sich selbst mit
seinen spontanen Reflexen zurückzunehmen, kann unterstellt werden.
Obwohl der Satz bis zum Schluss die Richtung für das Handeln
vorgibt, wird er doch durch die Erfahrungen, die bei seiner Umsetzung
gemacht werden, immer fragwürdiger. Da er nicht nur das Handeln,
sondern auch das Denken beherrscht, können die sich nun aufdrängenden
Erkenntnisse bloß aufblitzen, statt sich zu kristallisieren. Dass
sich Zweifel in dem Satz einzunisten beginnen, ohne ihn aber ganz zu
entkräften, spiegelt sich in der Rede vom „tiefen Satz“ (S. 20) wider.
Hervorgehoben wird sie typographisch durch die Verwendung von
Majuskeln. Die unterschwellig bleibenden Zweifel rühren sich, als ein
besonders aktiver Antreiber bei der Arbeit, ein Hauptmann namens Stapf,
auftritt. Dieser fällt durch einen militärisch, gar kriegerisch wirkenden
Elan auf. Dadurch verblasst die offizielle „sozialistische“ Zielsetzung der
Arbeit. Man beginnt sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob dieser Mann
seine militärische Ausbildung von der „Volksarmee“ oder schon durch
die „Wehrmacht“ erhalten habe. In diese Schilderung platzt eine Frage
mit dem Schlüsselwort „Satz“ hinein: „[…] WAS WILLST DU SAGEN
MIT DIESEM TIEFEN SATZ“ (ebd.). Offen bleibt, wer diese Frage stellt
und an wen sie gerichtet ist. Jedenfalls zeugt sie von einer Verunsicherung.
Der „Satz“, dessen Autorität auf der Verknüpfung von Arbeit und Aufbau
des Sozialismus beruht, gerät ins Zwielicht. Gedanken drängen sich auf,
die man gar nicht haben möchte. So der Gedanke, dass „Volksarmee“
und „Wehrmacht“ durch die Verabsolutierung von Effizienz und Schlagkraft
einander ähnlich werden. Wenn demnach in der „sozialistischen“
Gesellschaft das Prinzip der Effizienz die Oberhand gewinnen sollte, so
würden die Unterschiede zwischen den Systemen verschwimmen. Dass
dies auch im Hinblick auf die Systeme Sozialismus und Kapitalismus
gilt, wird Karl zu seinem Schrecken später bewusst, als er seine Arbeit
bei der Braunkohleförderung mit dem hemmungslosen und insofern
destruktiven Expansionsstreben kapitalistischer Firmen vergleicht. Er
meint sogar bei seiner Arbeit noch konsequenter zu verfahren als „[die]
Bankiers, [die] Schlotherren, [die] großen Sächsischen Werke.“ (S. 35)
Die Entfesselung der destruktiven Kräfte, die der menschlichen Arbeit
auch innewohnen, dominiert so sehr, dass alles andere darüber verblasst.
Das Handeln, das sich auf der Linie des Satzes bewegt, im Sinne
der herrschenden Propaganda als schöpferisch anzusehen, kommt dem
Ich-Erzähler zunehmend zweifelhaft vor. Er fühlt doch, wie er bei seiner
Tätigkeit als Baggerfahrer von einer negativen Energie überwältigt zu
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Ideologischer Schiffbruch als Ausweg. Volker Braun: Bodenloser Satz
werden droht. In dem Maße, wie er vom Rausch dieser umwälzenden
Tätigkeit erfasst wird, beginnt er auch über die zerstörerischen Effekte
dieses Tuns zu erschrecken. Da seine Tätigkeit nicht vom Projekt des
Sozialismus zu trennen ist, muss auch ein kritisches Licht auf dieses
Projekt fallen.
Durch seine Arbeit meint er zunehmend in einen Strudel hineingerissen
zu werden. Er identifiziert sich mit den Opfern des Krieges, deren
Gräber durch die Wühltätigkeit des Baggers zerstört werden und fühlt
sich, als ob er selbst unter die „Greifer“ und das „scharfe Schild der Raupe“
(S. 26) geraten sei. Er befindet sich insofern in einem schizophrenen
Zustand, als er einerseits seine Pflicht als Baggerfahrer erfüllen möchte,
ihm aber andererseits die Destruktivität dieses Tuns bewusst wird. Über
diesen Zwiespalt kommt er nicht hinaus. So genießt er zunächst das
gleichsam revolutionäre Freiheitsgefühl, das sich durch die konsequente
Vernichtung des Alten einstellt. Von der „endgültigen Öde“ ist die Rede,
die sich nun ausbreitet. Da durch diese Endgültigkeit alle Bindungen an
das verworfene Alte gekappt wurden – „[…] bewältigt die alte Geschichte
[…]“ (S. 27) – , sind die Voraussetzungen für einen radikalen Neuanfang
geschaffen worden: „[…] und wir können beginnen in aller Unschuld“
(ebd.). Diese Euphorie schlägt aber schnell in ihr Gegenteil um. Spürbar
wird nämlich die Kälte, die sich durch die absolute Konzentrierung auf die
Gegenwart einstellt. Da alles nur noch dem Gesetz der Effizienz gehorcht,
werden eine „Weite des Vergessens“ und ein „Karst der Gleichgültigkeit“
(ebd.) vorherrschend.
Obwohl die Gedanken, die dem Ich-Erzähler nun kommen, ihn aus
dem Konzept zu bringen drohen, lässt er sie passieren. So scheint ihm
die Zukunftsperspektive, die das durchgreifende Handeln legitimieren
soll, in einem anderen Licht. Er wagt sich zu fragen, ob die Zukunft
durch die Gewaltsamkeit, mit der sie gewonnen werden soll, nicht gerade
verspielt wird. Die Prämisse, dass das Bestehende in der Perspektive der
angestrebten Zukunft vor allem als hemmend und nicht als förderlich zu
gelten habe, weckt Unbehagen bei ihm. Muss nicht die Zukunft schon
allein dadurch verdorben werden, dass es sich bei ihr nur um die Zukunft
des Siegers handelt? Drastisch wird vom „Gestank der Zukunft in der
Wüste der Sieger“ (S. 27) gesprochen. Ohne Resonanz im Vergangenen
schrumpft die Zukunft zu einem nackten Willensakt zusammen. Sie lebt
allein vom Triumph des Siegers und bleibt deswegen leblos.
An dieser Stelle des Textes kommt wieder das Schlüsselwort
„Satz“ ins Spiel. Die verstörenden Erfahrungen, die der Ich-Erzähler
bei seiner Baggertätigkeit gemacht hat, wecken bei ihm Zweifel an der
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Helmut Pillau
Zukunftsträchtigkeit des Satzes: „[…] wo wird der Satz enden?“ (ebd.)
Dass dem Ich-Erzähler seine eigene Denkweise problematisch geworden
ist, spiegelt sich an einer anderen Stelle des Textes wider: „[mein]
Bewußtsein: rasch und roh, mit dem ich alles begriff, ohne daß mir die
Notwendigkeit erklärt werden mußte, […]“ (S. 14). Diese Denkweise ist
deswegen aller Selbstkritik enthoben, weil sie sich durch den praktischen
Erfolg des Handelns unmittelbar legitimiert. Volker Braun betont die
Reflexionslosigkeit dieser Denkweise, indem er sie zum automatischen
Funktionieren einer Maschine in Beziehung setzt: „[…] der Ausschnitt
vom Kuchen der Erde… EINBEGREIFT; […]“ (S. 28). Das Begreifen
wird mit dem maschinellen Greifen des Baggers verglichen.
Obwohl der Text insgesamt im Banne einer unausweichlich wirkenden
Krise steht, gibt es auch einen Lichtblick. Utopisch muss er aber
deswegen bleiben, weil er sich nur abseits von dem alles beherrschenden
Arbeitsleben zeigt. Dass es da noch etwas gibt, was aber noch nicht zum
Ausdruck kommen darf, hatte sich durch die verdrückten Tränen des
Bürgermeisters beim Fällen der riesigen Linde angedeutet.
Die Prämisse, dass der Mensch nur durch die Bezwingung der Natur
existieren könne, wird erschüttert. Als Alternative dazu rückt die Möglichkeit
einer Welt ins Blickfeld, in welcher der Mensch nicht nur auf Kosten
der Natur, sondern in Einklang mit ihr existieren würde. Der Sinn dafür
wird bei Karl durch den Anblick der „[…] sogenannten REKULTIVIERTEN
FLÄCHEN der südlichen Aue“ (S. 38) geweckt. Befreit wird
er von dem Zwang, in der Natur nur eine fremde, zu unterwerfende
Macht zu sehen. Stattdessen wird er davon angerührt, wie „[…] dünne
Reihen zarter Pappeln, […] leichtsinnig schwache Gehölze, Birken
[…] und junge Eichen“ (ebd.) sich anscheinend vertrauensvoll dem
Menschen zuwenden. Der alte Argwohn gegenüber der Natur, diese sei
Widersacherin
des Menschen, verfliegt. Die Natur wird aber nicht nur als
etwas wahrgenommen,
was den Menschen anzurühren vermag, sondern
auch als eine großmütige Macht, die ihn von seiner verkrampften Einstellung
ihr gegenüber heilen kann: „[…] grün und kühn entwuchsen sie
der Wüste unter dem mißgünstigen Himmel, wie um uns zu ermutigen,
wie um uns zu Hilfe zu eilen dem verwirrten, verrotteten Menschen; […]“
(ebd.) Beschämt fühlt sich Karl von der Natur deswegen, weil sie ihn an
ihr Wohlwollen gegenüber den Menschen erinnert, das er in seinem
Arbeitsfuror verdrängt hatte: „[…] und Karl entdeckte beschämt das
Blühn, das ihn in die Arme schloß…“ (S. 39)2. - — Zum Interesse von Volker Braun für die ökologische Thematik vgl. z. B. Wilfried
Grauert, „Gegenwartskonstruktion und Evokation des Möglichkeitssinns. Zu Volker Brauns
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Ideologischer Schiffbruch als Ausweg. Volker Braun: Bodenloser Satz
Auch im Verhältnis zwischen Klara und Karl ändert sich etwas.
Der Frau gelingt es, sich aus ihrer negativen Fixierung auf die seelische
Deformation des Mannes durch die Arbeit zu lösen. Allen Grund hatte
sie dafür gehabt, sich als Liebende von ihm abzuwenden. Indem sie ihn
nun aber „ganz ohne Grund“ (S. 40) umarmt, beweist sie, von der allgemein
vorherrschenden, vom Manne verinnerlichten Logik unabhängig
geworden zu sein.
Statt dass aber die Entdeckung der ökologischen Dimension
hoffnungsvoll wirken würde, macht sie eher deutlich, wie stur die
Entscheidungsträger im ‚real existierenden Sozialismus‘ an dem einmal
eingeschlagenen Weg festhalten. Dass dieser Sozialismus in eine Sackgasse
geraten ist, wird durch eine merkwürdige Begegnung zwischen
den Machthabern und einem alt gewordenen Dissidenten anschaulich.
Zweifellos ist es den Machthabern gelungen, durch ihre Zielstrebigkeit auf
eine äußerliche Weise erfolgreich geworden zu sein. Der Alte führt ihnen
jedoch vor Augen, wie fadenscheinig dieser Erfolg tatsächlich ist. Statt
der lebendigen Fülle, die versprochen wurde, gibt es nur eine pompöse
Hülle. Mit beinah biblisch anmutenden Worten wird der Schock dieser
Konfrontation folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: „[…] wenn
die Wahrheit in die Türe tritt, steht die Macht als Bettler da.“ (S. 30)
Der Ich-Erzähler, der trotz allem noch dem eingeschlagenen Weg folgt,
fühlt sich durch den widerspenstigen Alten irritiert. Er erinnert an die
Bedeutungslosigkeit dieses Mannes: „Ich kenne dich nicht, alter Mann,
wo sind deine Orden. […] Man hat dich in die Wüste geschickt.“ (ebd.)
Ein Wortwechsel scheint sich zwischen beiden anzubahnen. Während der
Alte auf die Trostlosigkeit des gegenwärtigen Zustandes verweist: „Es ist
kein Gras gewachsen.“ (ebd.), leitet der andere die Legitimität der bestehenden
staatlichen Ordnung trotzig aus ihrem bloßen Vorhandensein
ab: „Das ist unsere Ordnung, das alles in Ordnung ist.“ (ebd.) Als der
Ich-Erzähler den Alten für einen bevorstehenden Marsch umfassen will,
entzieht sich dieser. Im Unterschied zu den anderen kann er nicht mehr
durch den Pomp derjenigen, die den Staat repräsentieren, geblendet
werden: „[…] und die Obrigkeit lächelnd besah in ihrem Untergang,
den einen Mann, der ihre stumme Verzweiflung trug, […]“ (ebd.). Die
Assoziation zu Honecker liegt nahe. Obwohl sich der Alte rücksichtslos
durch die Menge drängt, bringen ihm die Leute, wenn auch „verstohlen“
Gedichtzyklus Wilderness“, Wirkendes Wort 2/ 2019, S. 247. Allgemein zum Werk Brauns in der
Spätphase der DDR und kurz danach: Lily Tjahandari, Literatur in der Übergangsgesellschaft.
Untersuchungen zum Werk Volker Brauns vor und nach der Wende (1981-1992), Dissertation,
Humboldt Universität, 2007.
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Helmut Pillau
(ebd.), Respekt entgegen. Man ist sich bewusst, dass sich der Alte wegen
seiner Hoffnungen mit dem Staat überworfen hat: „[…] der ausschritt
in die Steppe, mit nichts in den Händen als der zusammengerollten, der
rötlichen Fahne; […]“ (ebd.). Dass sich der Staat damit begnügt, im Sinne
von Hegels Konzeption des Staates als Vormund einer ungebärdigen
Gesellschaft statt als Geburtshelfer einer neuen, sich selbst befreienden
Gesellschaft zu fungieren, empfindet er als Verrat.
Die Entzweiung zwischen denen, die ängstlich um die Absicherung
des Erreichten bemüht sind, und dem, der diese Absicherung als fatale
Selbstblockade wertet, führt zur Rückbesinnung auf die ursprünglichen
Motive des Projekts. Es bleibt aber nur, die elementare Frage, auf die das
Projekt eine Antwort zu geben sucht, mit dem Schock über die Hohlheit
der gegebenen Antwort zu konfrontieren: „[…] was braucht der Mensch;
Satz, der den Boden verliert; […]“ (S. 30-31).
Herausgestellt hat sich jedenfalls, wie das Projekt durch das energische
Beiseiteräumen vermeintlicher Hindernisse Schaden genommen hat.
Offensichtlich war das, was im Namen des Satzes übergangen wurde,
mindestens genauso wichtig wie der Satz selbst. Da aber die herrschende
Sprache diejenige des Satzes ist, fällt es schwer, die passenden Worte für
die Krise des Projekts zu finden. Sie ist so groß, dass zu ihrem Verständnis
auf Worte wie „Boden“, „Mutterboden“ (S. 40) „Bindung“ (S. 33) und
„Liebe“ zurückgegriffen werden muss, die nicht der Intention des Satzes
entsprechen. Es gilt, einen Mangel zu benennen, der zwar auf der Hand
liegt, den es aber nach der Logik des Satzes gar nicht geben kann. Wenn
etwa Klara in Übereinstimmung mit dem Ich-Erzähler die mangelnde
innere Bindung an das Land beklagt, das doch im Namen des Satzes zu
einem Land der sozialen Gerechtigkeit gemacht werden soll, so ist dem
Erzähler bewusst, wie sehr er den Satz damit desavouiert und ihm eine
„sadistische“ Note verleiht: „WEIL WIR DAS LAND NICHT LIEBEN,
NICHT MEHR, NOCH NICHT; […]“ (ebd.). Um für die Krise die passenden
Worte zu finden, muss also auf Worte zurückgegriffen werden, die
wie poetische Worte mehr zu denken geben als sie fassen können.
Die Krise, in die überzeugte Sozialisten wie der Ich-Erzähler und Karl
geraten sind, lässt sich auch als Spaltung ihrer selbst beschreiben: Zum
einen sind sie jemand, der die Wirklichkeit erfasst, aber nicht erreicht,
zum anderen jemand, der sie erreicht, aber nicht erfasst. Man könnte
insofern von einer geborstenen Dialektik sprechen, als hier der Gedanke
im Unterschied zum dialektischen Gedanken im Hegelschen Sinne nicht
mehr dazu in der Lage ist, das, was ihm entgegensteht, ihn selbst verwan173
Ideologischer Schiffbruch als Ausweg. Volker Braun: Bodenloser Satz
delnd, zu assimilieren. Der Dualismus von Gedanke und Wirklichkeit,
der übrig bleibt, wirkt wie eine klaffende Wunde.
Karl ist an den Punkt gekommen, da ihm bewusst wurde, als Sozialist
und als Mensch überhaupt nur überleben zu können, wenn er die
Wirklichkeit nicht nur erfasst, sondern auch erreicht. Angesichts der
freundlichen Natur erscheint ihm sein Sozialismus plötzlich als forcierter
Anthropozentrismus, der ihm den Weg zur Natur und zur Wirklichkeit
schlechthin verstellt. Vom „verwirrten, verrotteten Menschen“ (S. 38)
war die Rede. Auch nimmt er ein Wort wie „Gnade“ (S. 39) in den Mund,
das wegen seiner religiösen Konnotationen einem ‚wissenschaftlichen
Sozialismus‘ widerstreitet.
Da der Alte registriert, wie das Projekt des Sozialismus in der DDR auf
die bürokratische Verwaltung des Bestehenden zusammengeschrumpft
ist, können für die Krise nur derartige Worte benutzt werden. Angebracht
sind sie schon deswegen, weil sich die Machthaber über sie ärgern dürften.
Die Worte zielen darauf ab, Kräfte freizusetzen, die nicht von oben zu
mobilisieren sind, sondern die von selbst kommen. Auf solche Kräfte
wäre das Projekt zu seinem Gedeihen angewiesen. Wenn der Satz wirklich
Erfolg haben wollte, müsste er sich eine Dimension jenseits seiner selbst
erschließen. Aber gerade das ist undenkbar.
Wegen der Krise des Satzes werden Gedanken möglich, die sich nicht
durch Stringenz, sondern Dringlichkeit empfehlen. Absurd aus der rationalistischen
Perspektive des Satzes mutet es an, wenn die Priorisierung
der Arbeit mit der Ignoranz gegenüber der Liebe in Verbindung gebracht
wird. Das verstößt gegen die immanente Logik der Arbeit. Die Rede ist
von der „[…] Verwerfung der Gegend der Liebe im Sachzwang der Arbeit
für morgen, das gestern war“ (S. 40). Die paradoxe Einsicht wird hier
formuliert, dass eine Arbeit, die sich ganz dem Fortschritt, dem „morgen“,
verschrieben hat, in Wirklichkeit dem „gestern“ verhaftet bleibt.
Aus Überdruss an einem Denken, das alles auf den Begriff bringen will,
kommt es zu dem überraschenden Ausruf: „O ETWAS UNBEWIESENES!“
(ebd.). Die Maxime, sich allein an Beweisen und Gründen zu
orientieren, wird plötzlich als Zwang empfunden. Es kann ja sein, dass
dadurch günstige, aber unverhoffte Gelegenheiten verpasst werden.
Vielleicht unterwirft man sich insbesondere dann einem solchen Zwang,
wenn sich solche Gelegenheiten kaum ergeben. An die Politik, wie sie in
der DDR üblich geworden ist, wäre zu denken. Da ihr zu wenig entgegenkommt,
verlässt sie sich vor allem auf die Stringenz ihrer Planungen.
Was so überlegen, gar mit wissenschaftlichen Anspruch auftritt, zeugte
demnach von einem mangelnden Zuspruch von unten. Den versucht man
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sich auf synthetischem Wege, durch die propagandistische Vermittlung
der eigenen Intentionen zu verschaffen.
Registriert wird auch, wie die lebendigen Kräfte, die vom ‚real existierenden
Sozialismus‘ abgewiesen werden, aus der erstarrten staatlichen
Ordnung ausbrechen und „[…] das Loch […] in der Mauer, […]“ (S. 39)
finden. Das, was sich jenseits der Mauer zeigt, kann jedoch deswegen nicht
als Alternative zum erzwungenen Sozialismus gelten, weil dort nur ein
genusssüchtiger Individualismus vorherrscht: „ICH KENN AUCH DAS
LOCH IN DER MAUER, die Republikflucht der Utopien in die Messer
der Konsumschlacht, […]“ (ebd.). Angesichts dieser Erkenntnis sind die
Fragen, die vom ‚real existierenden Sozialismus‘ vorschnell beantwortet
wurden, prinzipiell wieder offen.
Die Orientierungskrise, in welche die Figuren von Volker Brauns
Text während der Endphase der DDR geraten, äußert sich dadurch, dass
ihnen ständig Gedanken in die Quere kommen, die zwar nicht auf der
Linie ihrer sozialistischen Überzeugungen liegen, die aber nur durch
eine rigide Selbstzensur zu unterdrücken wären. Ihr Denken verwirrt
sich, weil sie bislang Undenkbares zu denken beginnen. Ihnen wird
bewusst, wie sie durch den Kampfmodus, in den sie durch den ‚Aufbau
des Sozialismus‘ gerieten, auf ein einseitiges Verhältnis zur Wirklichkeit
festgelegt wurden. Sie konnten sich deswegen nicht der Wirklichkeit
anvertrauen, weil sie nur darauf aus waren, sie zu verändern. Ohne sich
ihr anzuvertrauen, entglitt ihnen aber gerade das, was sie zu verändern
suchten. Diese irritierende Erfahrung mussten sie machen.
Man täte Volker Braun Unrecht, wenn man seinen Text als prinzipielle
Absage an den Sozialismus verstünde. Er antizipiert in seinem
1988 entstandenen Text den Zusammenbruch der DDR von 1989/90,
ohne dabei die von diesem Staat aufgeworfenen Fragen preiszugeben. Es
scheint so, als ob er dazu bereit wäre, den ‚real existierenden Sozialismus‘
in der DDR zu opfern, um den Sozialismus zu retten.