Ein Intellektueller in der Universität

Helmut Pillau (Heidesheim am Rhein)
Zu: Jerry Z. Muller. Professor der Apokalypse. Die vielen Leben
des Jacob Taubes. Aus dem Englischen von Ursula Kömen.
Berlin: Suhrkamp Verlag/Jüdischer Verlag, 20221
Für Bernd Kiefer
1.
Dieses Buch über Jacob Taubes schlägt bereits durch die Prägnanz seines Titels
in den Bann. Wer diesem Mann in irgendwelchen Zusammenhängen schon einmal
begegnet ist und sich womöglich über ihn gewundert hat, beglückwünscht
den Autor2 dafür, mit diesem Titel ins Schwarze getroffen zu haben. Anscheinend
geht es hier um den Grenzfall eines Professors, der sich weniger durch die
Wissenschaft als vielmehr durch prophetische Impulse verwirklichen will. Hier
schlüpfte jemand in die Rolle eines Professors, um als „Seher“ (15) zu wirken.
Als ein junger Mann in Jerusalem Taubes einmal begegnete, hatte er den Eindruck,
dass sein Partner „kurz davor [stehen würde], eine große Offenbarung zu
verkünden […].“ (620)
Allerdings geht es dem Autor nicht darum, eine exponierte Figur der akademischen
Welt in diesem Sinne zu desavouieren. Stattdessen möchte Jerry Z.
Muller insbesondere schildern, wie sich bei Jacob Taubes schlummernde visionäre
Neigungen plötzlich unter dem Eindruck eines krisenhaften geschichtlichen
Momentes wie „1968“ (universitäts-)politisch kristallisieren. Taubes
schien da zu einem Höhenflug anzusetzen, der die akademische Welt und vielleicht
sogar die Welt überhaupt hinter sich ließ. Die Auseinandersetzung mit
dieser Figur, die zwischen Respekt und Verachtung der Universität schwankte,
brachte mich auch dazu, grundsätzlicher über die strukturelle Problematik der
Universität nachzudenken als zuvor.
Ich glaube, kein wissenschaftliches Buch dieses Umfangs – ca. 900 Seiten
– mit einer solchen Spannung und so schnell gelesen zu haben wie dieses.
Zunächst liegt das daran, dass man hier vielen Persönlichkeiten begegnet, die im
Geistesleben der westlichen Welt eine herausragende Rolle gespielt haben bzw.
noch spielen. Offensichtlich war Taubes sehr daran interessiert, mit Prominenten
zusammenzutreffen. Woran es bei ihm selbst haperte, nämlich die Publikation
fundierter Werke – nur eine Monographie: Abendländische Eschatologie,
seine Dissertation, sollte er 1947 veröffentlichen –, suchte er vielleicht durch
solche Kontakte zu kompensieren.3
1 Auf das Buch wird im Text durch in Klammern gesetzte Seitenzahlen verwiesen.
2 Nach dem Klappentext: Professor emeritus für Geschichte an der Katholischen Universität
Washington D. C.
3 Eine Liste der Persönlichkeiten, mit denen er zu tun hatte: Georg Lukács, Martin
Buber, Carl Schmitt, Gershom Scholem Jürgen Habermas, Susan Sontag, Ingeborg
244
In dem Maße, wie er die Schriftlichkeit scheute, lag ihm umgekehrt die
Mündlichkeit. Als Lehrer soll er fasziniert haben. Bekannt war er auch dafür, die
akademische Welt durch Klatsch und Tratsch zu beleben. Wegen seiner guten
Vernetzung wurde er zu einer Art Kommunikations- und Informationszentrum.
Von dem amerikanischen Germanisten Walter Sokel stammt das Bonmot:
„Bevor es Google gab, gab es Taubes.“ (341)
Muller meint im Nachwort seines Buches zu Recht, hier nicht nur ein Porträt
von Jacob Taubes, sondern auch ein „Mosaik des Geisteslebens des 20. Jahrhunderts“
(767) zu bieten. Elektrisiert hat mich dieses Buch aber vor allem deswegen,
weil ich die ‚große Zeit‘ von Jacob Taubes, die Zeit der Studentenbewegung
in Berlin um 1968, selbst miterlebt habe. Das soll auch im Folgenden zur Sprache
kommen.
2.
Als inneres Movens von Taubes’ Existenz – 1929 in Wien geboren, 1987 in Berlin
gestorben – schält sich nach Mullers Darstellung der Drang heraus, jeweils
das wieder zu verwerfen, was er zuvor, womöglich mit großer Mühe, erlangt hat.
Das, was ihn vielleicht hätte stabilisieren können, wie seine in Zürich 1949 abgeschlossene
Ausbildung zum Rabbiner, taugt ihm letztlich nur dazu, ihm sein
Streben nach etwas ganz anderem bewusst zu machen.
Eine Staatsbürgerschaft, die er nach einer langen Zeit der Staatenlosigkeit in
Österreich und der Schweiz 1964 in den USA erwirbt, hindert ihn nicht daran,
sich ganz von diesem Land abzuwenden. (156) Obwohl ihm die Shoah wohl
bewusst ist, sehnt er sich stattdessen nach der deutschen Sprache, Philosophie
und der akademischen Kultur. (306) Als er mit großem Geschick endlich zum
Professor an der Columbia University in New York geworden ist (4.4.1966),
dient ihm dieser Erfolg nur als Sprungbrett für eine Professur an der FU Berlin
im Jahr 1966. Dort richtet man für ihn ein Institut für Judaistik ein. Nicht an
diesem Fach, sondern nur an einem außerdem noch gewährten Institut für Hermeneutik
ist er aber wirklich interessiert.
In seinem Privatleben wie auch in seinem Denken treibt ihn die Befürchtung
um, durch das, was er jeweils erreicht hat, vielleicht gerade das zu verpassen,
worauf es wirklich ankommt. In theoretischer Hinsicht nimmt diese existenzielle
Disposition durch die Denkfigur des Antinomischen Gestalt an. (230)
Muller hat herausgearbeitet, wie diese Denkfigur Taubes als Schlüssel dient, die
Geschichte religiöser Bewegungen, Sekten, aber auch die Sezession des Christentums
vom Judentum zu analysieren.
Was das Judentum betrifft, rückt der Begriff des Gesetzes in den Fokus. Taubes
arbeitet sich an einem geheimen Zwiespalt des Gesetzes ab: Die Genugtuung
darüber, die von Gott stammende Wahrheit mithilfe des Gesetzes fixiert
Bachmann, Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Dieter Henrich,
Hans-Georg Gadamer, Hans Blumenberg, Emil M. Cioran, Paul Celan, Peter Szondi,
Eugen Rosenstock-Huessy…
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zu bekommen, schlägt in das Unbehagen darüber um, diese Wahrheit wegen
ihrer Fixierung nur noch als erstarrte vorzufinden. Unfassbares wandelt sich als
Gesetz verlustreich in Fassbares. Taubes schließt daraus, dass durch die Opposition
gegen das Gesetz der nicht mehr präsente Sinn des Gesetzes eher aktualisiert
werden kann als durch die strikte Befolgung des Gesetzes. Um diesen
„antinomischen“ Umgang mit dem Gesetz zu veranschaulichen, bezieht sich
Taubes gern auf die Abhandlung Erlösung durch Sünde4 von Gershom Scholem.
Scholem untersucht dort die Geschichte der „sabbatianischen Bewegung“, d. h.
die „dramatischen Ereignisse bis zur Apostasie Sabbatai Zwis.“5 Dabei zitiert er
den „alten Begriff […] der Erfüllung des Gesetzes durch seine Übertretung.“6
Taubes ist fasziniert, geradezu besessen von diesem Gedanken. Er meint, dass
ihm jemand wie der Apostel Paulus in dieser Hinsicht besonders nahestehen
würde. Seiner Wahrnehmung nach wird der Versuch von Paulus, den Zwiespalt
zwischen der Formulierung des Gesetzes und dessen lebendigem Sinn ohne eine
bloße Annullierung des Gesetzes zu lösen, zu seiner Lebensaufgabe. Der Geist
des Gesetzes sollte Paulus zufolge entbunden werden, indem man sich von der
starren Fixierung auf die einzelnen gesetzlichen Regelungen wie insbesondere
die Beschneidung löste.7 Dadurch sollte dieser Geist von der jüdischen Identität
im ethnischen Sinne unabhängig und damit auch für Nichtjuden zugänglich
werden. Schon seit seiner Jugend dachte Taubes in dieser Richtung, wobei er
auch von seinem Vater, einem Rabbiner, angeregt worden war. In einem Brief an
Margarete Susman vom 22.8.1947 spricht Taubes von seiner Vision einer „Entschränkung
des Jüdischen ins Christliche und des Christlichen ins Universale.“
(132, vgl. auch 225)
Da es sich beim „Antinomischen“ im Falle von Taubes aber nicht nur um eine
Kopfgeburt, sondern auch eine existenzielle Disposition handelt, hat Muller
Recht, wenn er in diesem Lichte auch das Privatleben, gar das Sexleben von Taubes
in den Blick nimmt. Wie wenig Taubes dafür disponiert war, sich durch die
‚bürgerliche‘ Ehe zu stabilisieren, soll sich im Laufe der Zeit durch das Scheitern
seiner beiden Ehen (mit Susan Taubes und Margherita von Brentano) zeigen.
Wenn die Ehe mit Susan eine Weile hielt, so nicht deswegen, weil sie gut miteinander
auskamen, sondern nur deswegen, weil sie anscheinend guten Sex miteinander
hatten. (203) Ihre beiden Kinder mussten unter den egozentrischen
Eltern leiden. Die Ehe mit Susan scheiterte aber nicht nur – die Frau sollte sich
später auch das Leben nehmen. Im Falle von Margherita von Brentano ignorierte
er mit großer Selbstverständlichkeit das Gebot der ehelichen Treue. Als
er später bei Nicolaus Sombart untergekommen war, registrierte dieser zu seiner
4 Gershom Scholem. Judaica 5. Erlösung durch Sünde. Hrsg., aus dem Hebräischen
übersetzt und mit einem Vorwort versehen durch Michael Brocke. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 1992.
5 Ebd., S. 9.
6 Ebd., S. 43.
7 Inwiefern sich Paulus gegen eine Annullierung des Gesetzes im Sinne eines radikal
antinomischen Umgangs mit ihm verwahrt, wird in Römer 3, 8 deutlich. (Anmerkung
H. P.)
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Verwunderung, wie Taubes all die Studentinnen, mit denen er die Nacht verbracht
hatte, morgens wieder aus dem Haus warf. (696) Es scheint so, als ob er
sich durch den schnellen Sex darüber hinwegzutrösten suchte, dass eine Erfüllung
für ihn sonst, in existenzieller Hinsicht, aber auch seinem Selbstverständnis
nach, nicht in Frage kam.
Die Tendenz von Taubes, sich den größten, eigentlich unlösbaren Fragen
zu widmen, ging bei ihm einher mit der Blockade seines Vermögens zur systematischen
Arbeit. So sehr es ihm gelang, durch seine „Geistesblitze“ (469) die
intellektuellen Blockaden von Denkgewohnheiten aufzusprengen, so wenig fand
er die Geduld für die konzentrierte Arbeit an umfangreicheren Werken. Als
Gershom Scholem, den Taubes in Jerusalem als seinen Mentor auserkoren hatte,
diese Schwäche seines Schülers bemerkte und außerdem noch ein schwerer Vertrauensbruch
hinzukam, brach er mit ihm endgültig. Die Versuche von Taubes,
sich mit seinem bewunderten Vorbild wieder zu versöhnen, scheiterten allesamt.
Die Judaistik, für die er doch an die FU Berlin berufen worden war, blieb seine
Schwachstelle. Das zeigte sich auch, als er mit Marianne Awerbuch, einer robusten
Berliner Jüdin, aneinandergeriet. Diese hatte sich 1939 mit siebzehn Jahren
im letzten Moment nach Palästina retten können. 1967 kehrte sie in ihre Heimatstadt
zurück und begann dort mit siebenundvierzig Jahren an der FU eine
akademische Karriere. Bevor sie promovierte und sich auch habilitierte, konnte
sie Taubes aufgrund ihrer in Israel erworbenen Qualifikationen als Assistentin
für sein brachliegendes judaistisches Institut gewinnen. Aufschlussreich ist, wie
Marianne Awerbuch mit ihrer Berlinischen Nüchternheit auf den Paradiesvogel
Taubes reagiert. (457) In ihrer Autobiographie heißt es:
Sein Charisma, seine Intelligenz, seine überschnelle Auffassungsgabe, die zu nicht
sehr seriösen oder stichfesten Ergebnissen führte, machten einen gewaltigen Eindruck
auf manche Studenten, die in seiner Methode den ersehnten Bruch mit veralteten
Wissenschaftsmethoden erkennen wollten. Sie schwärmten und merkten
nicht oder wollten es nicht zur Kenntnis nehmen, dass sie langsam aber sicher
untauglich für ein geregeltes Studium wurden.8
3.
Offensichtlich hatte Taubes den richtigen Instinkt, als er mit seiner Affinität
für Krisenzustände gerade nach Berlin strebte. Attraktiv musste die Halbstadt
West-Berlin für ihn schon deswegen sein, weil sie inmitten eines kommunistischen
Staates lag. Wichtiger war aber aus seiner Sicht, dass die FU durch ihre
Fortschrittlichkeit alle anderen Universitäten im westlichen Deutschland
überragte: Im Unterschied zu diesen war sie weniger durch alte Nazis belastet,
außerdem stach die Studentenschaft durch ein überdurchschnittliches
8 Marianne Awerbuch: Erinnerungen aus einem streitbaren Leben. Von Berlin nach
Palästina. Von Israel nach Berlin. Hrsg. von Hermann Simon und Hartmut Zinser
unter Mitarbeit von Werner Grimm und Daniela Gauding. Reihe Jüdische Memoiren.
Band 15, hrsg. von Hermann Simon. Teetz: Hentrich & Hentrich 2007, S. 458-
459.
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politisches Engagement hervor. Als die Studenten mit ihren Forderungen nach
einer Demokratisierung der Universität und einem allgemeinen politischen
Mandat in die Offensive gingen, konnte sich Taubes in seinem Element fühlen.
Die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg am 2.6.1967 durch einen Polizisten
während einer Demonstration gegen den Besuch des persischen Schahs
versetzte die gesamte Universität, mich eingeschlossen, in Aufruhr.
Es schien sich hier insofern um „apokalyptische Momente“ (499) zu handeln,
als nun nicht nur die Ordnung der Universität, sondern auch diejenige des Staates
ins Wanken geriet. Taubes war für diese Ausnahmesituation bestens gerüstet,
weil er inzwischen Margherita von Brentano, eine Philosophin mit entschieden
linker Gesinnung, an seiner Seite wusste: „In Berlin schien sich die Geschichte
in Richtung Apokalypse fortzubewegen. Und Jacob und Margherita sollten
vorne mitmarschieren.“ (435)
Wie aufgewühlt die Studenten nach dem Tod von Benno Ohnesorg waren,
zeigte sich, als am 12.7.1967 unter Beteiligung von ca. 3.000 Studenten im
Audimax der FU eine Veranstaltung stattfand. Taubes war elektrisiert. Dies
nicht nur deswegen, weil er hierbei den Vorsitz hatte, sondern vor allem deswegen,
weil ein Vortrag seines Freundes Herbert Marcuse mit dem Titel Ende der
Utopie im Mittelpunkt stand. Taubes hatte bereits 1965 versucht, ihn als Honorarprofessor
an der FU zu installieren – allerdings vergeblich. Bei Marcuse handelte
es sich um den Vertreter der „Kritischen Theorie“, der im Unterschied zu
Adorno die revoltierenden Studierenden unmittelbar inspirieren konnte. Durch
zahlreiche Interventionen gelang es Taubes, sich zum „spiritus rector“ (486) der
Studentenbewegung aufzuschwingen. Er mauserte sich gar zum „öffentliche[n]
Gesicht des politischen Radikalismus an der Universität.“ (507)
Aufschlussreich ist vielleicht, wenn ich das zwischendurch einschalte, wie
Taubes damals auf mich gewirkt hat. Durchaus einverstanden war ich mit den
Zielen der Studentenbewegung wie Demokratisierung der Universität, Kampf
gegen die „Ordinarienuniversität“ und Proteste gegen den von den Amerikanern
geführten Krieg in Vietnam. Der Anti-Amerikanismus vieler Studenten
behagte mir aber nicht. Mir war Taubes deswegen nicht ganz geheuer, weil er
mir mit seiner eher metapolitischen Manier nicht recht zum politischen Charakter
der aktuellen Konflikte zu passen schien. Sicherlich spielte dabei auch
eine Rolle, dass ich in West-Berlin sozialisiert worden war und mich insofern
von den vielen, aus Westdeutschland kommenden Studenten mit ihrem pseudorevolutionären
Elan unterschied. Mir kam es so vor, als ob hier jemand West-
Berlin zur Aufführung eines Revolutionsdramas missbrauchen würde, für das
sich die bedrängte Halbstadt kaum eignete. Das Theatralische, gar Melodramatische
der öffentlichen Auftritte von Taubes stieß mich ab. Wohl auch unter
dem Einfluss seiner sehr weit links stehenden Gefährtin Margherita von Brentano
neigte er wie viele an der Universität dazu, durch den pauschalen Verdacht
eines wieder drohenden Faschismus die demokratischen Ansätze in West-Berlin
und darüber hinaus zugunsten einer ominösen sozialistischen Zukunft wieder
zunichte zu machen.
Zu meiner Überraschung las ich in Mullers Buch, dass sich Taubes als Maoist
bezeichnete. (499) Das zeugt meiner Meinung nach von seiner politischen
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Unbedarftheit. Apokalyptisch zu denken wie Taubes bedeutete ja, einem politischen
Denken die Grundlage zu entziehen. Wer apokalyptisch denkt, kann sich
deswegen über die praktische Politik erhaben fühlen, weil er Fundamentaleres
wie die Implosion ‚weltlicher‘ Strukturen im Blick hat.
4.
Taubes war jemand, der immer auf der Höhe der Ideen sein wollte und deswegen
ihre geduldige Ausarbeitung scheute. Die im Grunde verständliche Aversion
gegenüber Mediokrität und Routine hinderte ihn daran, das groß Gedachte auf
vorzeigbare Weise schriftlich umzusetzen. Er faszinierte wegen seiner Orientierung
am Vertikalen, stieß aber zugleich ab wegen seiner Unstetigkeit. Es gab
jedoch an der Peripherie des akademischen Betriebes auch Zusammenhänge,
in denen er mit seiner genialischen Eigenart produktiv sein konnte. So spricht
Muller ausführlich über die langjährige Beteiligung von Taubes an der Arbeitsgruppe
Poetik und Hermeneutik, die in gewisser Regelmäßigkeit Tagungen zu
bestimmten Themen abhielt. (465-478) Hier diskutierten Geisteswissenschaftler
aus verschiedenen Disziplinen über Referate von Mitgliedern der Gruppe,
die zuvor eingereicht worden waren. Taubes schätzte man in diesem Rahmen,
weil er auf anregende Weise mitzudiskutieren pflegte. Andererseits fiel er aber
auf, weil er nur selten Papiere für die Diskussionen einreichte.
Muller erwähnt in diesem Zusammenhang einen Text von Taubes mit dem
Titel Noten zum Surrealismus. (472-477)9 Taubes versucht hier, seine guten
religionswissenschaftlichen Kenntnisse über die Gnosis fruchtbar zu machen,
indem er einen Zusammenhang zwischen der Gnosis als Lehre von der Verworfenheit
der Welt und dem Surrealismus herstellt. Interessant wird es, als Hans
Blumenberg kritisch auf diese Sichtweise reagiert. (Muller geht darauf im Einzelnen
nicht ein.) Blumenberg bestreitet die These von Taubes: Da sich die Neuzeit
gerade durch die Überwindung der Gnosis konstituiert habe und es sich beim
Surrealismus um ein spezifisches Phänomen der Neuzeit bzw. der „Moderne“
handele, könne auch schwerlich von einer Prägung des Surrealismus durch die
Gnosis gesprochen werden. Blumenberg informiert Taubes in einem Brief vom
9.1.1967 darüber, dass dieser ihn dazu angeregt habe, die Grundthese seines
Buches Legitimität der Neuzeit besonders deutlich zu formulieren.10 (675)
Taubes hatte zweifellos ein großes Talent darin, sehr rasch die Gedanken von
theoretischen Werken zu erfassen, auf die es ankam und die zur Diskussion reizten.
Andauernd war er von einem Ideengipfel zum anderen unterwegs. Nach
Schlüsselwerken für die aktuellen Diskussionen fahndete er, ebenso aber nach
zu Unrecht vergessenen Werken der Vergangenheit. Sein Horizont war auch
9 Jacob Taubes: Noten zum Surrealismus. In: Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion.
Lyrik als Paradigma der Moderne. Kolloquium Köln 1964. Vorlagen und Verhandlungen.
Hrsg. von W. Iser. München: Fink 1966, S. 139 – 143.
10 Zur Kritik von Hans Blumenberg an Jacob Taubes siehe ebd. S. 437 – 439; Antwort
darauf von Taubes S. 439 – 442.
Helmut Pillau
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deswegen sehr weit, weil er aufgrund seiner Biographie und seiner entsprechenden
sprachlichen Kenntnisse mit den Geisteswissenschaften in der deutschen,
englischen bzw. amerikanischen und französischen Welt in Kontakt war. Wegen
dieser Qualifikation wurde der Suhrkamp Verlag auf ihn aufmerksam. Man
engagierte ihn als Scout für wichtige Bücher aus diesen Bereichen, was ihm gute
Nebeneinkünfte einbrachte. So fungierte er neben Jürgen Habermas, Dieter
Henrich und Hans Blumenberg als Mitherausgeber der Reihe „Theorie 1“. Zu
einem Konflikt und letztlichem Ausschluss aus der Reihe kam es, als er später,
d. h. 1974, den politisch rechts stehenden Historiker Ernst Nolte, den er, wie
auch andere rechte Autoren, schätzte, durchsetzen wollte. (595)
5.
Taubes konnte man in der FU, insbesondere zur Zeit der Studentenbewegung,
kaum entgehen. Ich begegnete ihm manchmal, weil Peter Szondi, dessen Doktorand
ich war, mit ihm kooperierte. Szondis Institut für „Allgemeine und Vergleichende
Literaturwissenschaft“ war 1965 gegründet worden, Taubes’ „Institut
für Judaistik“ 1966. Wegen ihrer Unterstützung der Studentenbewegung
standen sie sich hochschulpolitisch nahe und blieben deswegen innerhalb der
Professorenschaft der FU relativ isoliert. Szondi fungierte sogar, wie ich durch
Mullers Buch zu meiner Überraschung erfuhr, 1967 als Trauzeuge bei der Eheschließung
von Jacob Taubes und Margherita von Brentano. (440)
Bei Diskussionen legte er meinem Eindruck nach Wert darauf, durch pointierte
Stellungnahmen aufzufallen. Da er mir eher suspekt war, scheute ich aber
im Unterschied zu anderen aus dem Kreis um Szondi, mit ihm in Verbindung
zu treten. An drei Veranstaltungen mit seiner Beteiligung erinnere ich mich.
Einmal durften die Doktoranden Szondis als Zaungäste an einer Tagung der
Arbeitsgruppe Poetik und Hermeneutik in Berlin teilnehmen. Dort trat neben
Taubes auch sein Kontrahent Hans Blumenberg in Erscheinung. Als anhand
eines Vortrages des Philosophen Ernst Tugendhat über die Philosophie Heideggers
diskutiert werden sollte, beteiligte sich Taubes mit einer These an dieser
Diskussion. Schließlich nahm er an einer Sondersitzung zu dem von mir initiierten
Seminar über die Rezeption von Diderots Neveu de Rameau bei Goethe
und Hegel teil und formulierte dort eine These über den Eigenwert einer
geschichtsphilosophischen Interpretation im Vergleich zu einer philologischen
Interpretation.
6.
Wenn man meint, Taubes aufgrund seiner Identifikation mit der ‚linken‘ Studentenbewegung
ideologisch einordnen zu können, so muss man durch die Entdeckung
seiner Vorliebe für den extrem rechten Denker Carl Schmitt ziemlich
irritiert werden. Muller informiert darüber, dass sich Taubes schon lange zu diesem
Staatsrechtler – nicht nur ein brillanter Ideologe des Nationalsozialismus,
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250
sondern auch ein prononcierter Antisemit – hingezogen fühlte. Gegenüber seinem
alten Freund, dem politisch ebenfalls weit rechts stehenden Armin Mohler,
hatte er seine Bewunderung für Schmitt wie auch für Heidegger bereits 1952
bekundet. (227) Es fällt aber nicht so schwer, sich über die Konvergenz zwischen
dem ‚linksextremen‘ Taubes und dem ‚rechtsextremen‘ Schmitt klar zu werden.
Als gemeinsamer theoretischer Nenner erweist sich die „politische Theologie“.
Diese entzieht der alltäglichen Politik insofern die Grundlage, als es hier nicht
mehr auf die geduldige Arbeit an gesellschaftlichen Missständen, sondern auf
die schlagartige Beseitigung der Voraussetzungen solcher Missstände ankommt.
Als ihre Hauptgegner betrachten Schmitt und Taubes die liberalen Bürger, die
sich über diese Voraussetzungen hinwegsetzen und nur noch die Sicherstellung
eines ungefährdeten Lebens im Auge haben. Wenn sich diese Bürger allein der
Pflege einer „liberale[n], bürgerliche[n] Normalität“ (663) widmen, so werten
Taubes und Schmitt dies als Verdrängung einer Krise, die sie letztlich doch einholen
wird. Während sich also die wohletablierten Bürger durch eine vorsätzliche
Blindheit gegenüber dem fundamentalen Krisenzustand der Gesellschaft
kennzeichnen, haben Taubes und Schmitt nichts weiter als diese Krise im Blick.
Ihr politisch-theologischer Ansatz bedeutet, das „Bestehende“ oder die „Welt“
im Lichte einer Transzendenz zu delegitimieren. Sich hier häuslich einrichten
zu wollen, bedeutet aus ihrer Sicht, sich etwas vorzumachen. Der Reformer ist
für sie nur ein verkappter Feigling. Sie plädieren dafür, dass die in den gegenwärtigen
Verhältnissen rumorende Apokalypse offen zum Ausbruch kommt.
Da Walter Benjamins Denken ebenfalls als „apokalyptisch“ zu charakterisieren
wäre, gehört er im Sinne von Taubes auch in diesen Zusammenhang. (553)11
Taubes und Schmitt unterscheiden sich allerdings im Hinblick auf den
Umgang mit dem erwarteten Zusammenbruch. Während nach Taubes der
Zenit der Krise die Möglichkeit ihrer Überwindung bergen soll, setzt Schmitt
auf die Bändigung der Krise durch den absoluten Staat. Taubes erweist sich als
Revolutionär, Schmitt als Konterrevolutionär.
Nach dem Beginn einer Korrespondenz mit Schmitt gelingt es Taubes vor
allem durch die Vermittlung seines Freundes Armin Mohler, den schon sehr
alten Schmitt in seinem Haus in Plettenberg zu besuchen und mit ihm zu diskutieren.
Kurz vor seinem Tod wird Taubes 1985 sogar eine öffentliche Vorlesung
über Schmitt halten – Titel: „Carl Schmitt – ein Apokalyptiker der Gegenrevolution“.
(693)
7.
Angesichts seines konfrontativen Lebensstils verwundert es nicht, dass es
1973/1974 zu einem psychischen Zusammenbruch kommt. Ausgelöst wird
er durch die Zerrüttung seiner Ehe mit Margherita von Brentano, die am

  1. 5. 1975 zur Scheidung führt, und große Probleme mit seinen Kindern.
    Eine schwere Psychose wird bei ihm diagnostiziert, hervorgerufen durch eine
    11 Schade nur, dass man vergessen hat, ihn im Register des Buches zu berücksichtigen.
    Helmut Pillau
    251
    „bipolare Störung vom Typ II.“ (568) Es kam zu erfolglosen Behandlungen in
    Berlin, dann zu einer relativ erfolgreichen Behandlung mit einer Elektroschock-
    Therapie in New York. Auch nach seiner offiziellen Gesundschreibung Ende
    1976 blieb er psychisch instabil; manische und depressive Phasen lösten sich ab;
    Klinikaufenthalte wurden nötig.
    Muller überschreibt das Kapitel, in dem er diese Zäsur in Taubes’ Leben darstellt,
    mit dem Titel „Deradikalisierung und Krise 1969-1975.“ Mit dem Begriff
    der „Deradikalisierung“ möchte er umschreiben, wie Taubes auf die weitere Entwicklung
    der Studentenbewegung an der FU reagiert.
    So sehr Taubes durch die Infragestellung der institutionellen Ordnung von
    Universität und Staat in der Studentenbewegung auch animiert wurde, so wenig
    konnte er sich doch mit den allmählich zutage tretenden Resultaten der Bewegung
    anfreunden. Seinem Eindruck nach opferten nun die Studenten ihre großen
    Visionen, indem sie diese in schlagkräftige Organisationen und Doktrinen zu
    transformieren suchten. Man wollte endlich ernst machen mit seinen Visionen
    und erstickte sie nach Taubes gerade durch diesen Ernst. So fiel ihm auf, wie die
    „Arbeitsgemeinschaft von Demokraten und Sozialisten“, kurz „Adsen“ genannt,
    mit ihrem keineswegs mehr originären, sondern von der DDR entliehenen und
    über die SEW nach West-Berlin transferierten „Marxismus-Leninismus“ in den
    geisteswissenschaftlichen Fächern und insbesondere im Institut für Philosophie
    immer einflussreicher wurde. Taubes, der doch als radikaler Linker galt, scheute
    nicht davor zurück, sich mit den machtbewussten Linken in der Universität
    anzulegen. Dazu gehörte auch seine bald nur noch ehemalige Frau Margherita
    von Brentano, die eisern an ihrer Solidarität mit den Linken festhielt.
    Taubes wurde zur Selbstkorrektur bereit, als er registrierte, wie die von ihm
    ursprünglich geförderte Infragestellung einer traditionellen Wissenschaftlichkeit
    in eine pseudorevolutionäre Doktrin umschlug. Auch ihm war es zu
    verdanken, dass das Institut für Philosophie gleichsam neu gegründet wurde.
    (589-594) Er nutzte seine Kontakte zu dem Wissenschafts-Redakteur des Berliner
    Tagesspiegel Uwe Schlicht, um mit Peter Glotz, dem sozialdemokratischen
    Senator für Wissenschaft und Kunst, in Verbindung zu treten. Dieser schaffte es,
    renommierte Wissenschaftler wie Michael Theunissen und Ernst Tugendhat zu
    gewinnen und dieses Institut damit aus der Sackgasse herauszuführen.
    Entsetzt war ich, als ich in diesem Zusammenhang in Mullers Buch über
    einen schlimmen Konflikt zwischen dem Philosophen Michael Landmann,
    damals Leiter des Philosophischen Instituts, und Jacob Taubes erfuhr. (578-
    588) Ich habe Landmann recht gut bei verschiedenen Gelegenheiten kennengelernt
    – letztlich als Mitglied der Kommission für meine Dissertation im Jahre
  2. Taubes war recht erfindungsreich darin, seinen braven Kollegen mit
    Gemeinheiten zu quälen und ihn beruflich unter Druck zu setzen. Dieses Verhalten
    empörte mich insbesondere deswegen, weil Taubes seine Berufung an die
    FU nicht zuletzt Landmann zu verdanken hatte. Dieser, ein assimilierter Jude
    ohne lebendigen Bezug zum Judentum, setzte sich dafür ein, das „Institut für
    Judaistik“ an der FU einzurichten. Taubes schien ihm – zunächst – der richtige
    dafür zu sein. Landmann ist mir als ein Professor in Erinnerung geblieben, dem
    man sich als Student anvertrauen konnte – im Gegensatz zu Taubes.
    Ein Intellektueller in der Universität
    252
    8.
    Die Stadt Berlin hat Taubes wohl im Wesentlichen nur als die passende Bühne
    für seine wirkungsbewussten Auftritte, kaum aber als solche recht wahrgenommen.
    In dem Kapitel „Ein wandernder Jude. Berlin-Jerusalem-Paris, 1976-1981“
    schildert Muller, wie Taubes in seinem letzten Lebensabschnitt zwischen Berlin,
    Paris und Jerusalem pendelt. So wie man sich in Berlin über ihn ärgerte,
    so sehr genoss man in Paris seine Geistesblitze. Jerusalem erscheint ihm als der
    passendste Ort dafür, sich wieder zumindest zeitweilig in sein Judentum zu versenken.
    Er fühlt sich durch eine „illiberale, antibürgerliche und antizionistische
    Sekte“ wie „Reb Arele“ angezogen. (609) In der Stadt fällt er auf, weil er sich
    einmal wie ein orthodoxer Jude, dann wie ein protestantischer Pfarrer kleidet.
    Muller nennt ihn ein „spirituelles Chamäleon.“ (624) Manche wie der Germanist
    Stéphane Moses von der „Hebräischen Universität“ meiden ihn wegen seines
    schlechten Rufes. (609)
    9.
    Dem Ehepaar Aleida und Jan Assmann – sie Anglistin von der Universität Konstanz,
    er Ägyptologe von der Universität Heidelberg – ist es zu verdanken, dass
    Taubes trotz seiner Desorganisiertheit doch noch zu einer Formulierung seiner
    Lieblingsgedanken kam. Dies wurde deswegen zu seinem Vermächtnis, weil
    er kurz nach seinen Vorträgen über „Die politische Theologie des Paulus“ am
    21.3.1987 in Berlin an einer Krebserkrankung starb. Die Assmanns kümmerten
    sich um alles. Sie arrangierten seine Vorträge vom 23. bis zum 27. Februar 1987
    in Heidelberg und sorgten für ihre Tonbandaufzeichnung. Viel Mühe investierten
    die Assmanns, insbesondere Aleida Assmann, um aus den Tonbandaufzeichnungen
    einen druckreifen Text zu machen. Das Buch erschien erst 2003
    unter dem Titel Die politische Theologie des Paulus im Fink-Verlag.12 Margherita
    von Brentano lehnte das ganze Projekt ab, insbesondere deswegen, weil Taubes
    selbst keine Kontrolle mehr darüber hatte. Trotzdem wurde das Buch zu einem
    „internationalen Erfolg“ und „in mindestens ein Dutzend Sprachen“ übersetzt.
    (11, 736) Prominente Autoren wie Giorgo Agamben, Alain Badiou und Slavoj
    Žižek bezogen sich darauf.
    Taubes geht es in seinen Vorträgen vor allem darum, Paulus von allen Eindeutigkeiten
    frei zu halten. Zunächst verwahrt er sich gegen die Verdammung
    von Paulus durch die rabbinischen Juden, die in ihm nur einen Feind des Judentums
    sehen. Wenn Paulus das Gesetz als das wesentliche Kriterium des Judentums
    problematisiert, so denkt er dabei nicht an eine Abkehr vom Judentum.
    12 Jacob Taubes. Die politische Theologie des Paulus. Vorträge, gehalten an der Forschungsstätte
    der evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg 23.-
  3. Februar 1987. Nach Tonbandaufzeichnungen redigierte Fassung von Aleida Assmann.
    Hg. Aleida und Jan Assmann in Verbindung mit Horst Folkers, Wolf-Dieter
    Hartwich und Christoph Schulte. München: Fink, 2003.
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    Vehement bekennt er sich ja dazu. (Römer 11,1) Vielmehr möchte er auf diese
    Weise nur das lebendige Potenzial des Judentums wieder entbinden, das durch
    eine pedantische Auslegung des Gesetzes womöglich verschüttet wurde. Wenn
    sich Taubes, der sich mit Paulus identifiziert, als „‚Erzjuden‘“ und ‚Urchristen‘“
    (726) bezeichnet, so will er damit seine Distanzierung von einem bloß formellen
    Judentum zugunsten eines agilen Judentums zum Ausdruck bringen. Taubes
    verwahrt sich andererseits auch dagegen, dass Paulus vom Christentum
    vereinnahmt wird. Dies kann schon deswegen nicht geschehen, weil dieses zu
    Lebzeiten von Paulus noch gar nicht existierte. Die kritischen Vorbehalte von
    Paulus gegenüber einem legalistischen, gleichsam „identitären“ Judentum weisen
    indirekt darauf hin, wie wenig er umgekehrt von einem strikten, gar kirchlichen
    Christentum in Anspruch genommen werden kann. In Abgrenzung dazu
    bezeichnet sich Taubes als „Urchrist“. Um dem Gegensatz zwischen Judentum
    und Christentum zu entkommen, begibt er sich in ein Niemandsland zwischen
    beiden. Wenn er sich „Pauliner“13 nennt, so möchte er die Vereinbarkeit seines
    bewussten Judentums mit seiner Öffnung zum Christentum unterstreichen.
    Statt dass sich Paulus also durch seine Opposition gegenüber dem etablierten
    Judentum von diesem entfernte, bewegte er sich damit nach Taubes, wie Muller
    formuliert, weiterhin „innerhalb und nicht außerhalb des jüdischen Empfindens“.
    (717) Obwohl Paulus Israel als „Feind“ (Römer 11, 28) wegen der Ablehnung
    des Evangeliums bezeichnet, bleibt es doch „Gottes auserwähltes Volk“.
    (716) Dieser Status geht nicht durch die Ablehnung Evangeliums verloren,
    sondern bleibt als ewige Auszeichnung erhalten. Nach der kühnen Interpretation
    von Taubes wird die Opposition gegen das etablierte Judentum noch durch
    diese Ausnahmestellung der Juden als Volk Gottes beflügelt. Nach Taubes sind
    die Christen in ihrem Verhältnis zu den Juden deswegen auf einen Irrweg geraten,
    weil sie die „Dialektik“ (716) einer provokanten Verfestigung des Judentums
    nicht verstanden haben. Nur durch diese Verfestigung des Judentums sei
    die Opposition gegen das Judentum möglich geworden, die zur Öffnung des
    jüdischen Geistes für die Heiden und damit letztlich zum Christentum geführt
    habe. Als Paulus die Heiden missionierte, sei er eben bewusst Jude geblieben.
    Dies hebt Muller hervor, indem er Taubes zitiert: „Paulus war nicht nur ‚der
    Apostel für die Heiden‘, er war ‚der Apostel von den Juden für die Heiden‘.“14
    (715)
    10.
    Dieses ungewöhnliche Buch über einen ungewöhnlichen Mann konfrontiert
    mich wieder mit Fragen zur strukturellen Problematik der Universität, die mich
    schon länger beschäftigen. Das umfassende Porträt von Jacob Taubes, in dem
    die wissenschaftlichen und menschlichen Schwächen dieses Mannes, sogar seine
    abstoßenden Züge, deutlich hervortreten, provoziert zu einem negativen Urteil
    13 Ebd., S. 122.
    14 Ebd., S. 24. (Eigentlich: „[…] der Apostel zu den Heiden […].“ )
    Ein Intellektueller in der Universität
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    über diesen Mann. Ich halte jedoch deswegen dabei inne, weil mir bewusst wird,
    dadurch in die unerwünschte Gesellschaft von Befürwortern einer primär effizienzorientierten
    Universität zu geraten. Statt nur über das Spannungsverhältnis
    zwischen Taubes und der Wissenschaft zu klagen, sollte auch danach gefragt
    werden, inwiefern durch dieses Spannungsverhältnis womöglich eine innere Problematik
    der Universität zum Vorschein kommt – nun unabhängig von Mullers
    Buch. Taubes will sich nicht damit abfinden, dass der Wissenschaftler durch die
    gebotene Entäußerung an seinen Gegenstand von diesem letztlich beherrscht
    wird. Da der Wissenschaftler sein Denken ganz in seinen Gegenstand investiert
    hat, vermag er schließlich nicht mehr über ihn hinaus, also „selbstständig“, zu
    denken. Er wird zum ‚Fachidioten‘. Wissenschaftler und Intellektuelle sind demnach
    zweierlei – das kann man bei der Lektüre von Mullers Buch lernen. (178)
    Taubes sinniert ziemlich fahrig über die Problematik einer Selbstaufopferung
    des Geistes in der Wissenschaft, als er seine Vorträge über Paulus hält. Wenn er
    dort über den „Geist“ als deutsche Version von „pneuma“ nachdenkt,15 so fragt
    er sich nach den Möglichkeiten eines universalen, nicht nur dienstbaren Denkens,
    eben des „Geistes“, unter den Bedingungen einer zunehmenden Verwissenschaftlichung.
    Auf Hegel meint er deswegen kommen zu müssen, weil dieser
    Philosoph noch den „Geist“ und die Wirklichkeit mit ihren verschiedenen
    Bereichen miteinander in Einklang zu bringen sucht. Dass aber diese Synthese
    zerbrechen muss und der Geist und die Wissenschaft sich letztlich entzweien,
    bringt er durch einen polemischen Stoßseufzer über die „Geisteswissenschaften“
    zum Ausdruck. Für „Nebbich“, also höheren Unfug, hält er sie.16 Sie machen
    ihn deswegen ratlos, weil hier etwas verwissenschaftlicht werden soll, was gerade
    die erdrückende Autorität vorgeblich sicheren Wissens aufzuheben sucht: „Der
    Geist der Geisteswissenschaften ist mir unklar, den versteh’ ich nicht.“17 In der
    Tat trifft man in der akademischen Welt nicht selten Leute, die ihren Gegenstand
    so „wissenschaftlich“ behandeln, dass man von seinem „Geist“ nichts mehr
    verspürt. Armen Avanessian nennt sie „Geistes-Bürokraten.“18 Dieser Ausdruck
    findet sich in seinem Buch, das von dem Leiden der Geisteswissenschaftler an
    der intellektuellen Schein-Freiheit in der Universität handelt.
    Der lobenswerte Vorsatz, sich bei der intellektuellen Arbeit vor allem um
    wissenschaftliche Korrektheit zu bemühen, kann dazu führen, sich der Routine
    zu überlassen und seine Geistesgegenwart entsprechend zu mindern. Das,
    was man nun tut, könnte wahrscheinlich auch gut von der „KI“ („Künstliche
    Intelligenz“) erledigt werden. Als Alternative dazu kann der Intellektuelle gelten.
    Seine unverminderte Geistesgegenwart schlösse eine maschinenförmige
    Zurichtung der Gedanken von vornherein aus. Indem er seinen Halt nicht mehr
    nur in dem findet, was ihm vorgegeben ist, sondern in dem, was in ihm selbst ist,
    überholt er die Maschine.
    15 Ebd., S. 59f.
    16 Ebd., S. 60.
    17 Ebd.
    18 Armen Avanessian. Überschrift. Ethik des Wissens – Poetik der Existenz. Berlin:
    Merve-Verlag, 2015, S. 103.
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    Der Schriftsteller Emil R. Cioran, ein Freund von Taubes, charakterisiert diesen
    in seinem Beitrag für die Festschrift zu Taubes’ sechzigstem Geburtstag mit
    folgenden Worten: „Ein Geist, den das Wissen nicht verfälscht hat.“ (650)
    Vergessen sollte man aber nicht, dass es einer genügenden mentalen und auch
    sozialen Stabilität bedarf, um von geistreichen Leuten dieser Art: Intellektuellen
    – gar mit Charisma und mit Entertainment-Qualitäten – profitieren zu
    können. Ohne diese Stabilität drohte man von ihnen – nach der Einsicht von
    Marianne Awerbuch –, aus der Bahn geworfen zu werden.
    Eine Figur wie Jacob Taubes aus der Universität auszuschließen, könnte
    jedenfalls bedeuten, den Typus des Intellektuellen überhaupt aus der Universität
    auszuschließen.
    Ein Intellektueller in der Universität