Oma Otti – Autobiographie “Wildwuchs”
Oma Otti
Dass ich einer alten Berliner Familie entstamme, hätte mir vor allem durch „Oma Otti“, meiner Urgroßmutter Ottilie Droesse, bewusst werden können. 1865 geboren, war sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bereits über achtzig Jahre alt. Insbesondere als Heranwachsender hatte ich viel mit ihr zu tun. Sie lebte ja zunächst bei uns in der Schöneberger Wohnung, Eisenacher Straße 57. Auch Anfang der fünfziger Jahre, als sie zu ihrer Tochter Margarete, meiner Großmutter mütterlicherseits, zog, blieb sie in Reichweite. Sie bewohnte nun ein halbes Zimmer in der kleinen, insgesamt zweieinhalb Räume umfassenden Wohnung eines kargen Neubaus, der sich in der Winterfeldtstraße, einer Nebenstraße der Eisenacher Straße, befand. Man ging gern zu ihr, weil sie Humor hatte. Sie war keine repräsentative Erscheinung, vielmehr klein und gebeugt, ganz im Unterschied zu ihrer Tochter ohne jegliche modische Ambitionen. Mit dem schwarzen, samtenen Häubchen auf ihren dünnen weißen Haaren und ihren altmodischen Kleidern bekannte sie sich dazu, einer anderen Zeit zu entstammen. Der Stock gehörte wie ihr Häubchen zu ihren typischen Requisiten. Gelegentlich stampfte sie damit auf den Boden, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Wenn sie sprach, machte sich ihr schlecht sitzendes Gebiss bemerkbar. Äpfel konnte sie nur geschält essen. Uns Kindern überließ sie dann die Schalen, die wir damals, in der kargen Nachkriegszeit, durchaus zu schätzen wussten.
Sie legte keinen Wert darauf oder hatte es aufgegeben, Autorität hervorzukehren. Stattdessen wirkte sie verschmitzt, bauernschlau, vielleicht sogar etwas subversiv. Sie unterhielt gern mit Anekdoten und interessanten Details aus der Familiengeschichte. So erinnere ich mich an ihre Rede von einem „Droesse-Felsen“ in Thüringen und von Vorfahren mit dem französische Namen Drosé, angeblich französischen Hugenotten. Statt grüblerisch die unerledigten Hypotheken der Familiengeschichte zu wälzen wie ihre Tochter, suchte sie ihre Gäste durch Schwänke oder Witze zu erheitern. Am meisten lachte sie über ihre eigenen Witze. Man musste nur die Schlusspointe ihres immer wieder erzählten Lieblingswitzes zitieren, um sie garantiert zum Lachen zu bringen: „Lieber Gott, lass’ Pelle wachsen!“ Dieses Stoßgebet sprach ein Junge, der auf eine gebratene Gans aufpassen sollte, aber der knusprigen Haut dieser Gans nicht widerstehen konnte.
Wir spürten aber auch, dass es sich bei diesem Humor um eine Überlebensstrategie handelte. Die Abwesenheit von Autorität, ihre Ohnmacht, hatte nämlich mit ihrem belasteten Verhältnis zu ihrer Tochter zu tun, der sie in der letzten Phase ihres Lebens ganz ausgeliefert war. Diese Tochter konnte ihr nie verzeihen, früher, nach dem Ersten Weltkrieg, einen, wie sie meinte, kardinalen Fehler begangen zu haben. Und dieser Fehler sollte bis heute auf der Geschichte der Familie, insbesondere aber der Lebensgeschichte der Margarete Rühle, lasten. Es ging dabei um das bereits erwähnte Haus in der Eisenacher Straße. Dieses Haus war neben anderen Häusern nach der Jahrhundertwende von dem Ehemann Ottilies: Max Droesse erbaut worden. Als „Bildhauer“ – so seine offizielle Berufsbezeichnung – , genauer: als „Stuckateur“, profitierte er von dem Bauboom im Berlin jener Zeit. Schöneberg war damals allerdings noch nicht Bestandteil Berlins, sondern eine selbstständige Stadt mit einem repräsentativen, später, nach der Teilung Berlins, berühmt werdenden Rathaus. Max Droesse stieg durch seinen wirtschaftlichen Erfolg gesellschaftlich auf: Er wurde Stadtverordneter von Schöneberg und auch Mitglied der „Loge“, die über ein mächtiges Gebäude am oberen Ende der Eisenacher Straße verfügte. Von seinem Status als „Logenbruder“ zeugte ein sorgfältig besticktes Täschchen für seine Unterlagen, das viel später als Requisit aus einer märchenhaften Zeit bestaunt wurde.
Oma Otti brachte es nach dem Tode ihres fünfzehn Jahre älteren Mannes in den zwanziger Jahren, der sogenannten Inflationszeit, fertig, dieses stattliche, zwei Seitenflügel und ein „Gartenhaus“ umfassende Mietshaus für einen zunächst imposant erscheinenden, dann aber wieder schnell dahinschmelzenden Betrag zusammen mit einem prächtigen Klavierflügel zu verkaufen. Seitdem galt Ottilie als leichtsinnig und unbedarft. Kompensieren vermochte sie ihr geschwundenes Ansehen nur durch ihren rauen Berliner Charme und ihren Humor. Da aber ihre berufslose Tochter Margarete nach der Scheidung von dem Musikalienhändler John Walter Rühle gerade auf diese Besitztum angewiesen gewesen wäre, setzte sich bei ihr ein tiefer, immer wieder aufbrechender Groll gegen ihre Mutter fest.
Oma Otti war wahrscheinlich deswegen allseits beliebt, weil sie mit dem geheimen, aber einschneidenden Ringen um eine Positionierung innerhalb der Familie nichts mehr zu tun hatte. Diejenigen fühlten sich zu ihr hingezogen, die aus familiärer Sicht wenig galten oder die sich von dem gewöhnlichen Ringen um Anerkennung erholen wollten. Auch „Onkel Rolf“, der Bruder meiner Mutter, hing, wie es hieß, besonders an ihr. Sie stach mit ihrer humanen Resignation und Wurstigkeit von seiner Mutter ab, die nach ihrer Scheidung krampfhaft eine Fassade bürgerlichen Glamours zu wahren suchte. Wenn sie dabei verbittert und hart zu werden drohte, so konnte er bei Oma Otti eine zerfließende Herzenswärme genießen. In politischer Hinsicht war sie anscheinend so unbedarft wie in ökonomischer Hinsicht. Sie galt als „deutschnational“ und jubelte zunächst, traumatisiert durch die Inflation und die Weltwirtschaftskrise, wie so viele Deutsche dem vermeintlichen Messias Hitler zu.
Oma Otti war für mich – vielleicht auch für meinen Bruder Jörg – Exponentin unserer Berlinischen Familiengeschichte und zugleich, in ihrer absoluten Ohnmacht, Zeugin für das endgültige Verlöschen dieser Geschichte. In ihrer Gegenwart fühlte man sich zu etwas hingezogen, was, sonst, in unserer Gegenwart, überhaupt keine Rolle mehr spielte. Familie, von der man sich als einzelner getragen fühlen konnte, war mit ihr zu einem hilflosen Partikel zusammengeschrumpft. Sie war damit auf anrührende Weise lebendig und doch zugleich – unwiederbringlich – Antiquität. Während ihre Tochter, von uns „Omi“ genannt, meinen Bruder und mich, immer zur Raison zu bringen suchte, brachte uns Oma Otti eher zur Unvernunft. Schuleschwänzen und Nonsense konnten wir mit ihr assoziieren. Ich erinnere mich, wie sie von ihrem defätistischen Vater, einem Bierbrauer in Berlin, erzählte. Dessen Patriotismus reichte nicht aus, um sich 1870 für die Teilnahme an dem deutsch-französischen Krieg begeistern zu lassen. So verletzte er sich selbst mit Hilfe einer abgebrochenen Bierflasche und konnte sich auf diese Weise dem Kriegsdienst entziehen.
Wie fadenscheinig der familiäre Zusammenhalt in Wirklichkeit geworden war, konnten wir gerade durch den Bruder Ottilies: Paul Koebe, erfahren. Dieser „Onkel Paul“, uns Kinder mit seinem mächtigen Glatzkopf beeindruckend, war wegen seines Sarkasmus gefürchtet. Eine gewisse Tradition war es, einmal im Jahr in der Wohnung von „Onkel Paul“ und „Tante Lotte“, Koertestraße am Südstern, zu einem Familientreffen zusammenzukommen. „Tante Lotte“ hatte schwarze, wahrscheinlich gefärbte Haare und wackelte schon etwas mit dem Kopf. Sie wirkte durch ihre leicht prätentiöse Redeweise vornehmer als der eher grobschlächtige Onkel Paul mit seiner Berlinischen Direktheit.
Die Wohnung erschien mit ihrem wuchtigen und düsteren Mobiliar wie eine unerschütterliche Bastion gegenüber der modernen Zeit. Angenehm war der leichte Backstubenduft, der sie durchzog und von einer darunter liegenden Bäckerei herrührte. Die Wohnung profitierte auch, jedenfalls in der kalten Jahreszeit, von der Wärme dieser Bäckerei. Bewirtet wurde man viele Jahre hindurch immer auf die gleiche Weise. Es gab Kassler und Kartoffelsalat, dann Bier für die Erwachsenen und Limonade für die Kinder. Etwas unbehaglich war mir bei diesen Zusammenkünften deswegen zu Mute, weil wir, meine Mutter und ich, nicht ganz in diesen gutbürgerlichen Rahmen zu passen schienen. Toleriert wurden wir offensichtlich, denn man hatte uns ja eingeladen. Aber wir spürten doch mehr oder weniger, dass man uns als leicht problematische, jedenfalls familienuntypische Fälle wertete. Die Solidität, über die Onkel Paul als Beamter mit Pension verfügte, fehlte uns offensichtlich. Meine Mutter hatte sich unmittelbar nach dem Kriege scheiden lassen – ihr Mann war sowieso nie so recht von der übrigen Familie akzeptiert worden – und musste sich, zeitweise arbeitslos, allein mit ihren zwei Kindern durchschlagen. Angesichts unseres Schicksals eröffnete sich für die anderen Familienangehörigen ein Abgrund der Proletarisierung, in den man nicht so gern hineinschauen mochte. Schon aus Selbstschutz war es besser, sich mit uns nicht allzu sehr, über die familiäre Verpflichtung hinaus, einzulassen. Ich selbst hatte mich auf meine Weise darauf eingestellt: Introvertiert zu werden bedeutet ja, auf die Herausdrängung aus der wohlsituierten Welt mit der Schaffung einer eigenen Welt zu reagieren. Tante Lotte meinte einmal zu mir, eigentlich wäre ich doch mit meinen dunklen Haaren und blauen Augen recht attraktiv – warm werden könnte sie aber nicht mit mir. Statt mich verletzt zu fühlen, verstand ich sie gut. Wohl nicht der Welt, aber doch der Familie war ich abhanden gekommen. Da ich „Familie“ kaum verinnerlicht hatte, sollte es mir entsprechend schwer fallen, von mir selbst abzusehen.
Wie ohnmächtig Oma Otti war, zeigte sich in den letzten Jahren ihres Lebens besonders deutlich. Es sah auf den ersten Blick so wunderbar aus, sie gemeinsam mit ihrer Tochter aus dem geschundenen Berlin an dem lieblichen Bodensee zu bringen. So zogen beide in die untere Etage eines großen, in Markdorf-Fitzenweiler gelegenen Hauses ein, das dem wirtschaftlich so erfolgreichen „Onkel Rolf“ gehörte. Dieser, noch in Hamburg wohnend, hatte das Anwesen mit großem Garten und Swimmingpool zunächst für die Sommerfrische vorgesehen. Selbstverständlich schien es zu sein, dass sich Oma Otti in diesem Hause mit Blick auf den Bodensee und die Alpen wohl fühlte. Wenn man sie besuchte, klagte sie aber. Sie stellte, für sie eher ungewöhnlich, Forderungen: Sie wollte unbedingt zurück nach „ihrem Berlin“. Dort hieß es: „Einen alten Baum verpflanzt man nicht!“ Der glamouröse Plan, ihren hundertsten Geburtstag am Bodensee zu feiern, konnte jedenfalls nicht realisiert werden. Sie starb dort 1964 mit neunundneunzig Jahren, wurde dann aber in „ihrem“ Berlin begraben.
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