Gerhart Hauptmann: auf der Suche nach dem Dichter hinter dem Monument

Gerhart Hauptmann: auf der Suche nach dem Dichter hinter dem Monument.

Vortrag anlässlich seines 150. Geburtstags am 15. November 2012 von Helmut Pillau.

I.

Es gibt Autoren, welche die Öffentlichkeit eine Zeit lang so beherrschen, dass man sie ganz gerne wieder vergisst. Gerhart Hauptmann gehört womöglich in diese Kategorie. Jedenfalls erkläre ich es mir so, dass ich mich niemals gründlich mit ihm beschäftigt habe. Vielleicht bietet aber ein Gedenktag wie sein 150. Geburtstag am 15. November 2012, die passende Gelegenheit dafür, Vorbehalte zu überwinden und nach dem Lebendigen in seinem Werk zu fragen.

Ganz ist er natürlich nie in Vergessenheit geraten. Die meisten von Ihnen wie auch ich haben sein wohl berühmtestes Drama „Die Weber“ in der Schule kennengelernt. Hinzu kam dann manchmal auch seine Erzählung „Bahnwärter Thiel“. In beiden Werken gelingt es Hauptmann, durch strikte literarische Askese eine elementare Realität mit ihrer vollen Wucht hervortreten zu lassen.

Im literaturwissenschaftlichen Studium lernte ich dann, ihn literaturgeschichtlich im internationalen Horizont einzuordnen. Er vor allem repräsentiere den „Naturalismus“ in Deutschland. Im Unterschied zu seinen Mentoren Arno Holz und Johannes Schlaf schaffte er es, eine internationale Ausstrahlung zu gewinnen. Man nannte ihn zu recht in einem Atemzug mit Autoren wie Émile Zola und Henrik Ibsen.

Indem er in seiner Schreibweise strikt auf ästhetische Abrundungen und idealistische Überhöhungen verzichtete, provozierte er das wohl situierte Publikum des „Wilhelminischen Zeitalters“. Er konzentrierte sich in seinen naturalistischen Dramen darauf, anhand von scharfen Beobachtungen das Morsche innerhalb der etablierten „bürgerlichen Gesellschaft“, insbesondere der familiären Verhältnisse, aufzudecken. Meisterhaft versteht er darzustellen, wie die allmähliche Aushöhlung zwischenmenschlicher Beziehungen unaufhaltsam in die Katastrophe einmündet.

Frappieren kann nun, wie sich dieser Störenfried alsbald in eine Figur von gleichsam zeitloser Klassizität verwandelte. Schon dieser merkwürdige Widerspruch mag dazu anregen, ihn näher in Augenschein zu nehmen. Dies soll zunächst unter einem biografischen Aspekt geschehen.

Man kann Hauptmann als einen bodenständigen Autor bezeichnen, denn seine schlesische Heimat ist für ihn immer sehr wichtig gewesen. In vielen seiner Dramen verwendet er auch seinen heimischen Dialekt. Später soll es in seiner Autobiografie heißen: „Ich wollte dem Dialekt seine Würde zurückgeben.“[1] Er wurde am 15. November 1862 als viertes Kind eines Hotelbesitzers in Ober-Salzbrunn, im schlesisch-böhmischen Grenzgebiet gelegen, geboren. Anfangs, vor Erbstreitigkeiten, gehörte seinem Vater das wichtigste Hotel am Orte; der Großvater fungierte als Bade- oder Brunneninspektor.[2] Der Urgroßvater hatte noch als Weber gearbeitet. So wurde Hauptmann schon früh mit der Lebenswelt und der Not der Weber vertraut. Präsent war ihm auch der Aufstand der Weber im Jahre 1844, der ihn später zu seinem Drama inspirieren sollte.

Bei dem jungen Gerhart handelte es sich zweifellos um alles andere als ein Wunderkind – etwa im Unterschied zu seinem zeitgenössischen, literarisch frühreifen Kollegen Hugo von Hofmannsthal. Sehr schwer tat er sich mit der Schule. Im Gymnasium kam er nur bis zur Quarta, also der ersten Klasse im Gymnasium. In seiner Autobiografie spricht er von seiner „unüberwindliche(n) Abneigung gegen die Schule.“[3] Eine anschließende landwirtschaftliche Ausbildung musste er wegen körperlicher Nichteignung abbrechen. 1879 wollte er in Breslau wenigstens das sogenannte „Einjährigen-Examen“ – als Voraussetzung für den „Einjährig-Freiwilligen-Dienst“ in der Armee – ablegen, woraus aber nichts wurde. Als man ihn 1880 in die Bildhauerklasse der „Kunst-und Gewerbeschule“ in Breslau aufnahm, schien er endlich am richtigen Platze zu sein. Doch selbst hier verlief nicht alles reibungslos, denn er wurde zeitweilig wegen mangelnden Fleißes und schlechten Betragens aus der Schule ausgeschlossen. Im Jahre 1881 trat eine glückliche Wende in seinem Leben ein: Er verlobte sich mit Maria Thienemann, was auch seiner materiellen Situation zu Gute kam. Die Verlobte entstammte nämlich einer sehr wohlhabenden Kaufmannsfamilie. So konnte er es sich leisten, an Universitäten herumzustudieren, vor allem aber, sich als freischaffender Bildhauer in Rom niederzulassen. Als Menetekel mochte jedoch gelten, dass die von ihm gefertigte monumentale tonnenschwere Skulptur eines germanischen Kriegers kurz vor dem Besuch seiner Verlobten zusammenbrach. Wenig später sollte sein eigener körperlicher Zusammenbruch erfolgen.[4] Auch unter dem Einfluss von Felix Dahns nationalistischem Riesenschmöker „Ein Kampf um Rom“ huldigte er damals dem Germanenkult. Einer „pangermanischen Blutsbrüderschaft“ trat er bei. Von solchen Neigungen zeugt etwa sein 1882 entstandenes Drama „Germanen und Römer“.

Als er sich nach seiner Heirat 1885 in Erkner, einem Vorort von Berlin, niederließ, begann seine ernst zu nehmende literarische Produktion. Wichtig dafür waren Kontakte mit avancierten Literaten jener Zeit, insbesondere den Naturalisten. Nun öffnete er sich für die zukunftsträchtigen Entwicklungen in der Literatur wie auch für die Konflikte innerhalb der zeitgenössischen kapitalistischen Gesellschaft. Mit Georg Büchner entdeckte er damals einen Autor, der ihm entscheidend bei der Klärung seiner eigenen Bestrebungen zu helfen vermochte. Büchner bestärkte ihn in seiner Opposition gegenüber einer Verzauberung der Wirklichkeit durch die Kunst, gegenüber der sogenannten „Kunstreligion“.

In Berlin sollte es 1889 mit der privaten Uraufführung seines „sozialen Dramas“ „Vor Sonnenaufgang“ zum literarischen Durchbruch kommen. Die Tumulte bei dieser Aufführung machten die Öffentlichkeit auf ihn aufmerksam. Der alte Fontane war von dem Stück sehr angetan. Seiner Meinung nach sei Hauptmann damit etwas gelungen, was Ibsen bislang nur vorgeschwebt habe. [5] Bei seinem Stück „Die Weber“ sollte es sogar zu Verboten in Berlin und Wien sowie zu Prozessen kommen. Der Kaiser kündigte aus Protest seine Loge im „Deutschen Theater“.

Um die Jahrhundertwende galt Hauptmann mit seiner Serie gesellschaftskritischer naturalistischer Stücke als der führende Dramatiker in Deutschland. 1901 ließ er sich im schlesischen Agnetendorf ein burgartiges Haus „Wiesenstein“ errichten, das ihm bis ans Ende seines Lebens als Refugium dienen sollte.

Der Reigen seiner spektakulären Ehrungen beginnt 1905, als ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Oxford verliehen wurde. 1909 soll die Universität Leipzig folgen. Die Krönung bildete sicherlich der Nobelpreis 1912. Im Ersten Weltkrieg verhielt er sich so patriotisch, wie man es von ihm wie auch den Sozialdemokraten vielleicht gar nicht erwartet hatte. So verlieh ihm der Kaiser für seine Kriegslyrik den „Roten-Adler-Orden“, wenn auch nur vierter Klasse.[6]

Nach dem Krieg, also während der „Weimarer Republik, verwandelte er sich von einem intensiv zeitbezogenen Autor in einen zeitenthobenen Dichter mit beinah priesterlichen Allüren. Er machte sich nicht nur dazu, sondern er wurde auch von seinem autoritätsgläubigen deutschen Publikum dazu gemacht. Zu einem „lebendigen Monument“[7] begann er nun zu werden. Dass jüngere Dramatiker wie Georg Kaiser und insbesondere Bertolt Brecht bald den Ton angeben sollten, schadete seinem Ansehen nicht. Im Gegenteil schien er durch seine gewisse Entrücktheit dazu prädestiniert zu sein, das Land zu repräsentieren. Kurz nach dem Kriege dachte man sogar daran, ihn, der sich zur „Weimarer Republik“ bekannte, als Kandidaten für das Amt des Reichspräsidenten aufzustellen. Zum „Dichterfürsten“ stilisierte er sich insbesondere dadurch, dass er sich an Goethe anlehnte. Ihm gefiel die Vorstellung, dem alten Goethe ähnlich zu sehen. In einigen seiner Werke lassen sich Bezüge zu Goethe nachweisen.[8] Ein Vierzeiler mit dem Titel „An Goethe“ lautet folgendermaßen:

„Großer Lehrer an meiner Seite,/ großer Freund, mit dem ich schreite:/ angeschlossen in Gottes Namen, / stets bereit, dich nachzuahmen.“[9]

Als er 1932 zu einer Reise in die USA aufbricht, gehen die Feiern zu seinen Ehren und zum 100. Todestag Goethes zwanglos ineinander über. Im folgenden Jahr, 1933, kommt Hitler an die Macht. Insbesondere nach dem Brand des Reichstags im selben Jahr wird ihm bewusst, dass er nun mit seinen 71 Jahren nicht mehr recht in die neue Zeit passt. So lautet der Beginn einer Tagebucheintragung vom 1. März 1933: „Mit dem Brande des Reichstagsgebäudes […] schließt das Deutschland ab, in dem ich seit 1862 gelebt habe.“[10]

Pauschal kann man sagen, dass Hauptmann die charakterliche Prüfung, die das „Dritte Reich“ für ihn bedeutete, nicht bestanden hat. Zu unpolitisch, auch allzu sehr auf Deutschland fixiert und wahrscheinlich auch zu alt war er, um den Nazis Paroli bieten zu können. Thomas Mann, der ja bekanntlich mit seiner Emigration einen ganz anderen Weg als der in Deutschland verbleibende Hauptmann eingeschlagen hatte, brachte Verständnis für den älteren Kollegen auf. Alte Weggefährten wie der brillante Berliner Kritiker Alfred Kerr, ein deutscher Jude, verdammten ihn dagegen wegen seiner Anpassung. Als Hauptmann 1933 den von Hitler beschlossenen Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund lauthals begrüßt, verfasst Kerr, damals schon im englischen Exil, eine Abrechnung mit dem alten Freund. Dort heißt es z. B.: „Hauptmann, Gerhart, ist ehrlos geworden.[…] Hauptmann schmeichelt dem Raubgesindel. […] Der weltberühmte Dichter eines antikapitalistischen Stückes wurde durch Geld zur Strecke gebracht.“[11] Es sollte aber auch registriert werden, dass sich Hauptmann  gegenüber seinen jüdischen Freunden damals durchaus loyal verhalten hat . Die „Völkischen“ verdächtigten ihn ja schon lange, ein „Judengenosse“[12] zu sein. Dem Hauptmann-Forscher Peter Sprengel zufolge lehnte er die ideologischen Grundlagen der nationalsozialistischen Rassenpolitik rundweg ab. [13]

Wie ambivalent die Haltung der Nazis ihm gegenüber war, lässt sich an den Kulturpolitikern Joseph Goebbels und Alfred Rosenberg ablesen.[14] Der letztere bekämpfte ihn geradezu, wobei er dem Urteil in seinem Buch „Mythus des 20. Jahrhunderts“ folgte. Goebbels dagegen meinte, dass man sich das große Renommee dieses Dichters mit den gebotenen Vorbehalten zunutze machen sollte. Hauptmann ließ sich offizielle Schmeicheleien leider gern gefallen. Er genoss es z. B., dass sein antikisierendes Drama „Iphigenie in Aulis“ am 15. November 1943, also zu seinem 81. Geburtstag, am Burgtheater in Wien mit staatstragendem Pomp uraufgeführt wurde. Gegen Ende des Krieges, als er den Untergang Dresdens hautnah miterlebte, suchte Goebbels Hauptmanns literarisch formulierte Klage über dieses Ereignis noch propagandistisch auszuschlachten. Auch nach dem Ende des Krieges wollte man ihn politisch instrumentalisieren. Johannes R. Becher besuchte ihn noch kurz vor seinem Tode in Agnetendorf, um ihn für den „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ zu gewinnen. Als er schließlich am 28. Juli 1946 auf der Insel Hiddensee, seinem zweiten Wohnsitz, beigesetzt wird, hält Becher, der künftige Kulturminister der DDR, eine Rede.

Das Oeuvre Hauptmanns ist von einem einschüchternden Umfang. Vierzig Dramen, vier Romane, zahlreiche Erzählungen, autobiografische Texte, Tagebücher und Gedichte gehören dazu. Statt aber weiter so pauschal wie bisher über ihn zu sprechen, möchte ich im Folgenden versuchen, einige ausgewählte Dramen Hauptmanns aus einem bestimmten, hoffentlich erhellenden Blickwinkel vorzustellen. Den Ausgangspunkt dafür bildet kein Gedanke, sondern eine Beobachtung, die ich bei der Lektüre seiner Texte gemacht habe. Mir fiel auf, dass er kein so inniges Verhältnis zur Sprache zu haben schien, wie man es gemeinhin von einem „Dichter“ erwartete. Er zweifelte anscheinend an dem dichterischen Credo, dass die Sprache den Dingen durch das erweckende Wort zu ihrem wahren Leben verhelfen könnte. Der Blick auf die Welt, den er als Bildhauer einmal gehabt hatte, mochte dabei eine Rolle spielen. Da über das künstlerische Gelingen aus seiner Sicht jedenfalls nicht mehr allein in der Sprache entschieden wurde, stellte sich bei ihm auch eine gewisse ästhetische Ungezwungenheit beim Umgang mit der Sprache ein. Er kapitulierte etwa in seiner Prosa davor, die Überfülle von Eindrücken und Visionen, die auf ihn einstürmte, sprachlich zu bannen. Ich denke hier insbesondere an seine „dionysische“ Erzählung: „Der Ketzer von Soana“, die von seiner abgründigen Bezauberung durch die Sinnlichkeit des Südens zeugt. Damit gehörte er von vornherein in eine andere Kategorie als Sprachästheten wie Hugo von Hofmannsthal, Stefan George und Rilke. George, der unerbittliche Stilist und Schöpfer einer neuen, insgeheim katholisch gefärbten Kunstreligion, stand ihm ganz fern.[15] Aber auch Thomas Mann hob sich mit seiner kultivierten Urbanität und seinem prononcierten Stilbewusstsein von ihm ab. Von einem Ungenügen an der Sprache, nicht aber einer Krise der Sprache wie sporadisch bei Hofmannsthal könnte man bei ihm reden. Er entzündet sich sprachlich gerade an dem, was auch beim besten Willen sprachlich nicht gestaltet werden kann. Eben dadurch möchte er aufrütteln. Zu Hauptmanns Genius wird die Scheu vor einer ästhetischen Brillanz, die nur zu blenden scheint.[16]

Statt sich von den hohen Ansprüchen der Sprache wie Verständigung und Wahrheit beflügeln zu lassen, richtet Hauptmann seinen Blick lieber auf die krude Realität der Sprache. Gesellschaftlich funktionieren kann sie anscheinend nur, wenn diese Ansprüche suspendiert werden. Mich interessiert nun, wie es ihm gelingt, diese skeptische oder realistische Sicht der Sprache in seiner dramatischen Dichtung fruchtbar zu machen.[17] Er erhellt, wie die Sprache auf signifikante Weise verdeckt. Unter diesem Gesichtspunkt möchte ich nun vier seiner Dramen näher ins Auge fassen: „Die Weber“, „Vor Sonnenaufgang“, „Der Biberpelz“ und „Fuhrmann Henschel“.

II.

Hauptmann wirkungsmächtigstes Stück „Die Weber“ unterscheidet sich dadurch von der dramatischen Tradition, dass hier nicht mehr einzelne Helden den Ton angeben, sondern ein Kollektiv im Mittelpunkt steht. Das Kollektiv kann deswegen so dominieren, weil es sich in der Empörung über unerträglich gewordene Lebensverhältnisse zusammenfindet. Vor Augen steht hier dem Autor, wie schon erwähnt, der Aufstand der schlesischen Weber im Jahre 1844. Hauptmann gelingt es in seinem Stück, diese Empörung in ihrer Komplexität, ihrem leidenschaftlichen Aufschwung wie auch ihren inneren, unterschiedlich motivierten Zweifeln, zu vergegenwärtigen. Zeigen möchte ich nun, wie sich diese spontane Eruption in ihren unterschiedlichen Facetten entfaltet und wie die Gegenseite, der Exponent der ökonomischen Macht, darauf reagiert.

Das Kollektiv der Weber gewinnt seine Identität im sprachlicher Hinsicht durch den schlesischen Dialekt. Dieser reicht dazu aus, akute Nöte und Emotionen direkt zur Sprache zu bringen, versagt aber bei einer reflektierten und zukunftsgerichteten Vermittlung der Erfahrungen. Hoffnungsvoll kann aber stimmen, dass die Weber mit ihrem Elend nicht mehr nur fatalistisch umgehen, sondern sie dagegen aufzubegehren beginnen. Dieser Umschlag erfolgt im ersten Akt, der im Kontor des Fabrikanten Dreissiger spielt. Die Weber nehmen zunächst resignativ hin, dass Pfeifer, ein ehemaliger Weber und jetziger Expedient, ihre zaghaften Bitten um einen Vorschuss brüsk und zynisch zurückweist. So klagt etwa der alte Baumert: „Ieberall hat’s was. Wo eemal’s Armutt is, da kommt ooch Unglicke ieber Unglicke. Da is kee Halt und keene Rettung.“[18] Als sich jedoch der junge Weber Bäcker diese Behandlung nicht gefallen lässt, beginnt der Widerstandsgeist bei den Webern zu erwachen. Bei Bäcker äußert sich dies zunächst auf eine ganz individuelle Weise, nämlich durch die Beleidigung des Expedienten: „ O du Fennigmanndl, halt och deine Fresse.“[19]

Indem sich die Weber zu Attacken auf die Fabrikanten zusammenschließen, verliert zwar ihr Widerstand seinen bloß individuellen Charakter und gewinnt eine öffentliche Dimension. Das Bewusstsein, mit dem er vollzogen wird, bleibt aber eher unpolitisch. Dass sie überhaupt handeln, nicht aber ein bestimmtes Handlungsziel ist ihnen wichtig. Der Lumpensammler Hornig, der mit den Webern solidarisch ist, verteidigt sie nach ihrer Disqualifikation durch den Wirt Welzel in diesem Sinne: „A jeder Mensch hat halt ‚ne Sehnsucht!“[20] Den Wert des Aufbegehrens bei den Webern sieht er demnach weniger darin, dass es Aussichten auf eine Verbesserung ihrer Lage eröffnen würde, als vielmehr darin, dass es eine bislang vorwaltende Apathie der Weber vertreiben würde. Beflügelt wird es eben durch eine „Sehnsucht“, nicht aber durch klare Zielsetzungen. Als die Weber schließlich gegen die Häuser der Fabrikanten zu wüten beginnen, ist ihm ordentlich „feierlich“[21] zu Mute. Er versteht diese Aktivitäten gleichsam als eine Zeremonie, durch die sich die Weber endlich als Subjekte konstituieren.

Dass es den Aufständischen primär auf einen solchen Initialakt ankommt, wird von ihnen auch selbst zum Ausdruck gebracht. Zweiter junger Weber: „Mit uns hat o keener Erbarmen gehabt. Weder Gott noch Mensch. Jetzt schaffen wir uns selber Recht.“[22] Erster junger Weber: „Mir wollen leben und weiter nischt. Und deshalb haben mer a Strick durchgeschnitten, an dem mer hingen.“[23]

Der alte Baumert verteidigt das Aufbegehren der Weber gegenüber dem abweisenden alten Hilse mit dem fundamentalen Recht des Menschen auf den Atem.[24] Existenzielle Leidenschaften, nicht aber rationale Überlegungen bestimmen das Handeln der Weber. Als einziges konkretes Ziel ließe sich ein rein destruktives, blindwütiges, nämlich die Maschinenstürmerei nennen.[25]

Inwiefern das Handeln der Weber eher von einem dunklen Drang als einem klaren Willen bestimmt wird, spiegelt sich auch in dem „Zungenreden“ des dritten alten Webers wider. Dieses wirft zudem ein Licht auf das Verhältnis, das zwischen der „normalen“ Rede und dem Wollen der Weber herrscht. In dem Maße, wie dieses Wollen im Rahmen der „normalen“ Rede noch nicht angemessen zum Ausdruck gebracht werden kann, bleibt eben nur dieses ekstatische Reden übrig. Auffällig ist aber, dass der alte Weber dabei aus seinem Dialekt herausfällt und Hochdeutsch redet. Man spottet zunächst über ihn, hält ihn gar für alkoholisiert. Dann lässt man ihn aber gewähren. Man spürt womöglich, wie wenig man sich noch bei der Artikulation der eigenen Bestrebungen auf die „normale“ Rede verlassen kann. Nebenbei wird hier auch die Offenheit der christlichen Religion für die gegensätzlichsten Interpretationen deutlich. Statt wie bei dem Pfarrer Kittelhaus zur Stabilisierung der herrschenden Verhältnisse beizutragen, kann sie auch zum Umsturz dieser Verhältnisse inspirieren.[26]

Dass die Weber sich mit ihrem Aufbegehren auf eine öffentliche, politische Ebene ohne eine rechte Fundierung wagen, wird auch durch ihre eigenen Leute gesehen. Ein alter Weber etwa bezeichnet die Aktionen seiner Kollegen gegen die Häuser der Fabrikanten als „Tollheit“: „Da is doch kee Sinn und kee Verstand o nich drinne. Ums Ende wird das noch gar sehr a beese Ding.“[27]

Der Schmied Wittig, der mit der Sache der Weber sympathisiert, misst deren Aufbegehren kritisch am Maßstab der Französischen Revolution. Seiner Meinung nach muss diese Revolte deswegen scheitern, weil ihr eine konsequente Strategie wie diejenige der Jakobiner fehle. Um historisch erfolgreich sein zu können, müsste man sich auch zu einer radikalen Ausschaltung der Privilegierten, also auch zum Einsatz der Guillotine, bereit finden.[28]

Am schärfsten wird das Vorgehen der Weber durch den alten, zudem kriegsversehrten Hilse kritisiert. Seine Ablehnung fußt auf dem christlichen Glauben. Er identifiziert aber das Christentum nicht wie der Pfarrer Kittelhaus mit der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung, sondern geht im Gegenteil von einem tiefen Widerspruch zwischen dieser Ordnung und dem Glauben aus. So ist er nicht prinzipiell gegen ein Handeln zugunsten gerechterer Verhältnisse. Aktionen, die jedoch primär aus negativen Impulsen wie Wut, Hass und Rache erwachsen, zieht er das Abwarten vor. Legitim wäre ein Handeln aus seiner Sicht nur, wenn es nicht nur von Trieben lebte. Er sieht also in den Aktionen der Weber eine blindwütige Verzweiflung am Werke, die als solche zu nichts Gutem führen kann. Er zitiert die Bibel: „Mein ist die Rache, spricht der Herr“. Rache, die dagegen durch die Menschen selbst geübt wird, kann nur eine Kontinuität von Gewalttätigkeiten stiften.[29] Ausgerechnet der alte Hilse, der sich auf den Status quo eingestellt hat, soll am Schluss des Dramas einem Querschläger aus Gewehren der Soldaten zum Opfer fallen.

Zu einem Hoffnungsträger für die Weber wird Moritz Jäger, der im preußischen Militär eine gewisse Karriere gemacht hat. Er fühlt sich weiterhin den Webern verbunden. Diese trauen ihm einiges zu, weil er im Unterschied zu ihnen über ein wenig „Bildung“ verfügen soll.[30] Er wird auch zu einem Anführer der Weber, der sich dabei allerdings gern durch den Alkohol beflügeln lässt. Mit dem alten Baumert diskutiert er über die Frage, ob nicht die Misere der Weber durch eine bessere Information der Regierung in Berlin behoben werden könnte. Jäger verwirft jedoch diese Idee Baumerts. Seiner Einschätzung nach ist in dieser Hinsicht, auch was die Aufklärung der Öffentlichkeit betrifft, alles Denkbare getan worden. Er hat das Vertrauen in den öffentlichen Diskurs verloren. Obwohl dieser sich womöglich objektiv und überparteilich gibt, befindet er sich doch völlig unter dem Einfluss der Herrschenden. Diese verstehen es, ihre eigenen Interessen als das Gemeinwohl erscheinen zu lassen. Deswegen könnte eine Diskussion mit ihnen nur schaden. Am Ende würde den Webern ihr Elend, das sie doch umzubringen droht, womöglich wie eine bloße Einbildung vorkommen:

„ Ooch nich aso viel nutzt das, Vater Baumert. `s sein er schon genug in a Zeitungen druf  zu sprechen gekommen. Aber die Reichen, die drehen und wenden die an Sache aso .. die ieberteifeln a besten Christen.“ [31]

 

Da der Diskurs unter diesen Bedingungen versagt, kommt für Moritz Jäger nur die gewalttätige Revolte in Frage. Diese wird zur wahren Sprache der Weber. In ihrem sprachlosen Elend finden sie aber auch zu einer besonderen Ausdrucksform. Das gelingt ihnen durch das sogenannte „Weberlied“, welches das ganze Stück refrainartig durchzieht. Darüber heißt es in einer Regieanweisung: „Alles klingt heraus: Verzweiflung, Schmerz, Wut, Haß, Rachedurst.“[32]

Wut und Verzweiflung, die im „Weberlied“ optimal zum Ausdruck kommen sollen, überwältigen auch die Sprache der Weber bis hin zur Sprachlosigkeit. Der Dialekt spannt sich  zwischen diesem Verstummen aus übergroßen Leid und dem Affektausbruch. Bei ihm handelt es sich insofern um einen solchen Aggregatszustand der Sprache, in dem sich die Affekte eher manifestieren als dass sie artikuliert würden. Da die Affekte primär durch Gebärden zum Ausdruck kommen, ist hier die Sprache noch nicht klar von der Gebärde geschieden.[33]

Von dieser sprachlichen Praxis sticht deutlich die kultivierte und argumentativ niveauvolle Sprache der Herrschenden ab. Ihr Hochdeutsch und die innere Schlüssigkeit ihrer Argumentation prallen auf die sprachliche Unbeholfenheit der Weber. Inwiefern diese sprachliche Souveränität aber auch mit der Verweigerung von Erfahrung einhergeht, spiegelt sich bereits im ersten Akt auf eine eindringliche Weise wider.

Der Fabrikant Dreissiger wird in seinem Kontor mit der plötzlichen Ohnmacht eines kleinen Jungen konfrontiert. Dass dies auf den Hunger des Kindes zurückzuführen ist, liegt für die Umstehenden auf der Hand. Obwohl sich auch der Junge selbst nach einer Anrede durch den Fabrikanten entsprechend, wenn auch nur flüsternd, äußert, will Dreissiger dies nicht wahrhaben: „Man versteht ihn nicht.“[34] Dass er ihn aber sehr wohl verstanden hat, signalisiert der Wechsel seiner Gesichtsfarbe: „Dreissiger wird bleich.“[35] Der Körper spielt also bei dieser mutwilligen Ausblendung der Wirklichkeit nicht mit. Der Fabrikant vertraut nun darauf, dass ein herbeigerufener Arzt, ein Mann seines Vertrauens, schon die genehme Diagnose stellen wird: „Wir werden ja hören, was der Doktor sagt.“[36] Dreissiger passt es überhaupt nicht, dass das Offensichtliche, das Elend und der Hunger der Weber, zur Sprache kommt. So würde ja auch seine Mitverantwortung an diesen Verhältnissen offenbar werden.

Wie sehr ihm an einem intelligenten Wegreden des Offensichtlichen gelegen ist, soll sich auch später zeigen. Nun vertritt er die These, dass der Protest der Weber auf ihre Indoktrination durch „Humanitätsdusler“[37] zurückzuführen sei. Sie würden also nur deswegen protestieren, weil ihnen ihr Elend durch Ideologen eingeredet worden sei. Die Sprache wird hier also für denjenigen, der sie virtuos beherrscht, zu einem Mittel dafür, peinliche Erfahrungen, die ihn selbst in Frage stellen, wegzureden. Ein alter linker Slogan – abgeleitet aus dem „Kommunistischen Manifest“ – kommt mir in den Sinn: ‚Die herrschende Sprache ist die Sprache der Herrschenden’.[38] Dies wird auch von Hornig, dem Lumpensammler, so gesehen. Im Gespräch mit einem Reisenden äußert er seinen prinzipiellen Zweifel daran, dass Untersuchungen der Regierung über die Lebensverhältnisse der Weber zu etwas führen würden. Dabei würde sowieso nur das herauskommen, was man schon vorausgesetzt habe.[39]

In einer aktuellen Inszenierung des Stückes ist diese Polarisierung zwischen dem unartikulierten Ausdruck des Elends bei den Webern und der wohl artikulierten, aber realitätsverleugnenden Rede der Herrschenden scharf herausgearbeitet worden. Es handelt sich um eine Aufführung der „Weber“ in Halle von 2011; der Regisseur war Jo Fabian. In einer Besprechung heißt es: „[…] die Unteren in einem kaum verständlichen Schlesisch, das mehr Stimmung als Text ist. Die Oberen in ihrem zynisch anmutenden Eigentümer-Hochdeutsch.“[40]

Die Sprache bleibt in diesem Stück demnach insofern unterhalb ihrer Möglichkeiten, als sie entweder wie bei den Webern noch von den Erfahrungen der Not überwältigt wird oder weil sie wie bei den Herrschenden solche Erfahrungen gerade zu tilgen sucht. Sie ist blind durch oder gegenüber Erfahrungen geworden. So wie die Hoffnung im Dunkel des Unartikulierten verbleibt, so tarnt sich Hoffnungslosigkeit mit dem Glanz der sprachlichen Artikulation.

Trotz seines historischen Zeitbezuges verfügt das Stück auch heutzutage noch über ein kritisches Potenzial. Es stört uns etwa dabei, wenn wir der Sprache mehr zutrauen sollten als sie aufgrund ihrer Determination durch akute Nöte und Machtinteressen einzulösen vermag. Zugleich sensibilisiert es für einen Widerstand, dessen aktuelles Scheitern gerade nicht als seine generelle Disqualifikation zu werten ist. (Überhaupt: wenn es bei Hauptmann so etwas wie Zukunftsperspektiven geben sollte, so handelte es sich dabei allenfalls um die fraglichen Perspektiven des Nicht- oder Noch-Nicht-formulierbaren, des Amorphen.)

Inwiefern sich manche Dramenfiguren Hauptmanns mithilfe der Sprache nicht mehr wie tendenziell im klassischen Drama selbst offenbaren, sondern eher auf brillante Weise maskieren, lässt sich anhand der Figur des Loth aus Hauptmanns „sozialem Drama“ „Vor Sonnenaufgang“ studieren. Die Maske wirkt hier so überzeugend, dass man sie kaum noch vom Authentischen der Figur unterscheiden kann.

Loth gerät von außen an eine Familie, die moralisch und physisch verkommen ist. Der Reichtum, zu dem es diese schlesische Bauernfamilie durch die Kohleförderung auf ihren Ländereien gebracht hat, hat ihr nicht gut getan. Einige wie insbesondere der Bauer selbst sind dem Alkohol verfallen, andere wie der Schwiegersohn dieses Bauern sind zu Zynikern geworden. Loth, beflügelt von seiner Zukunftsvision einer gerechten und gesunden Menschheit, möchte eine soziologische Studie über die Lebensverhältnisse dieser Bauern und der ausgebeuteten Arbeiter in den Kohleminen anfertigen. Seiner wissenschaftlichen Perspektive ist es zu verdanken, dass überhaupt ein Licht auf die vom Reichtum umhüllte Misere dieser Familie fällt. Da er sich in Helene, eine Tochter des Bauern, verliebt, wird aber selbst er in diese familiäre Situation mit hineingezogen. Das kann auch deswegen geschehen, weil Helene sich weitgehend gegenüber der Verkommenheit der Familie abzuschirmen vermochte. Nun hofft sie, sich durch die Verbindung mit Loth aus dem familiären Sumpf retten zu können. Als Loth jedoch von Dr. Schimmelpfennig, dem Hausarzt der Familie und einem Kumpan aus alten Zeiten, über die angeblich genetisch verwurzelte Degeneration der Familie informiert wird, gibt er seine Heiratsabsichten schnell wieder auf. Er verfährt damit konsequent im Sinne seiner Philosophie, sich in der Zukunft nicht nur für eine gerechte, sondern eben auch gesunde Menschheit zu engagieren. Angesichts des hoffnungslosen Zustandes der Familie mag diese Entscheidung zunächst einleuchten. Von manchen ‚linken’ Interpreten des Stückes ist er auch als die einzige Lichtgestalt des Stückes gepriesen worden.[41] Das kann aber nur dann geschehen, wenn die schlimme Konsequenz seines Handelns: der Selbstmord Helenes, unterbelichtet bleibt.

Die intellektuelle Souveränität Loths und sein menschliches Versagen sind also auf eine fatale Weise ineinander verschränkt. Sie überdeckt sein Unvermögen, sich menschlich zu binden. Konsequent, im Sinne dessen, was man theoretisch proklamiert, zu leben, bedeutet hier also gerade, nicht zu leben. Andererseits gibt die moderne aufgeklärte Gesellschaft Loth alle Mittel dafür an die Hand, um sein Tun zu rechtfertigen. Er könnte sogar für sein verzweifeltes Bekenntnis: „[…] also leben! kämpfen!-Weiter, immer weiter.“[42] als Held gefeiert werden. Dieses „weiter“, also die Orientierung an einer idealen Zukunft, bedeutet jedoch den Verrat an der Gegenwart. Die menschliche Gegenwart, in der Loth und Helene existieren, kommt in dieser Vision nicht vor.

Anhand dieser Figur lässt sich also ablesen, wie die Sprache zu einem Mittel dafür geworden ist, sich der Wirklichkeit zu entziehen. Mit Hilfe der schönen und programmatisch überzeugenden Worte, die Loth findet, vermag er gut vor den anderen und vor sich selbst zu verbergen, wie er persönlich versagt. Die Lüge ist hier so brillant geworden, dass sie die Wirklichkeit aussticht. Die Zustimmung, die Loth für seine progressiven Ansichten erhält, wird ihn zudem davor bewahren, dieses Versagen überhaupt wahrzunehmen. Es transformiert sich zu der heroischen Konsequenz, mit der er seinen Idealen folgt.

Wenn er, wie in der Rezension einer aktuellen Inszenierung dieses Stückes geschehen, als „Charakterschwein“[43] bezeichnet wird, so ließe sich leicht dagegen argumentieren. Beweist er nicht gerade dadurch „Charakter“, dass er seinen Idealen treu bleibt?

Hauptmann hat also mit Loth die paradoxe Figur eines Unmenschen geschaffen, die den Glanz eines fortschrittlichen Humanismus ausstrahlt.[44] Dieser Glanz macht blind für das allzu Naheliegende, menschliche Schwächen. Im Lichte der großen Gedanken werden sie so klein, dass sie sich beinah dem Blick entziehen – eben auch demjenigen mancher Interpreten des Stückes. (Durch seine ideologische Fixierung wird das vorgeblich Wesentliche zum Grab für das angeblich Unwesentliche.) Die Frage, die Hauptmann hiermit aufwirft, verstört: Sollte etwa das Prinzip der Humanität nur durch ein Absehen vom konkreten Menschen formuliert werden können? [45]

Die „konservative“ Gegenposition zu Loth fällt als überzeugende Alternative aus. Diese wird nämlich durch den ehemaligen Freund Loths, Hoffmann, repräsentiert, der als Schwiegersohn des reichen Bauern auf zynische Weise von den Ausbeutungsverhältnissen profitiert. Zudem ist er durch seine Annäherungsversuche an Helene, seine Schwägerin, moralisch kompromittiert.

In einer aktuellen Mainzer Inszenierung des Stückes aus dem Frühjahr 2012 lässt der Regisseur Christoph Mehler die Figuren anscheinend unmotiviert über lange Strecken hinweg schreien. Dies ist von Kritikern moniert worden. Vielleicht liegt aber diesem Regieeinfall die Einsicht zu Grunde, dass Hauptmann hier prinzipiell an der Kompetenz der Sprache für die menschliche Wirklichkeit zweifelt. Die Sprache der Figuren ist darauf programmiert, dieser Wirklichkeit auf eine idealistische oder zynische Weise zu entkommen. Wenn die Wirklichkeit trotzdem sprachlich zur Geltung gebracht werden soll, so bleibt nur das Schreien übrig. Es disqualifiziert eine Sprache, der mit ihrer hohen Artikuliertheit die Wirklichkeit entglitten ist. Im Schreien wird eine Wahrheit laut, die in der Sprache verstummen muss.

Bemerkenswert ist übrigens, dass sich die hochsprachlichen Figuren dadurch dem dialektsprachlichen Hausmädchen Miele annähern. In der Mainzer Aufführung schreit diese arme und wütende Kreatur ständig, ohne dass man sie verstehen könnte und auch sollte.

Das, worauf es im menschlichen Leben ankommt, scheint also unartikulierbar, gar vielleicht undenkbar geworden zu sein. Der Titel des Stücks: „Vor Sonnenaufgang“ wirkt vor diesem Hintergrund euphemistisch.

In dem Stück „Der Biberpelz“ von 1893 gelingt es Hauptmann, aus dem Missverhältnis zwischen sprachlicher und wirklicher Welt Funken der Komik zu schlagen. Mit Hilfe einer ideologisch voreingenommenen Rede wird hier eine offensichtliche Realität bei Seite geräumt, die gerade nicht ins Konzept passt.

Die Handlung des Stückes dreht sich um den Diebstahl einer Holzfuhre, insbesondere aber eines Biberpelzes. Dieser wurde von dem Geschädigten, dem Rentier Krüger, bei einer Amtsstelle unweit des Berlin in der Kaiserzeit angezeigt. Der Amtsleiter Wehrhahn hat aber deswegen keine Lust, sich der Angelegenheit anzunehmen, weil ihm Krüger politisch suspekt ist. Insbesondere kommt ihm aber Dr. Fleischer verdächtig vor, der bei dem Rentier wohnt: „Bei Kaisers Geburtstag, wer war nicht dabei? Natürlich der Fleischer. Dem Manne trau ich das Schlimmste zu.“[46] Er sieht in ihm sogar einen potenziellen Terroristen: „[…] aber wenn’s drauf ankommt, sprengen die Hunde janz jroße Ortschaften in die Luft.“[47]

Wehrhahn werden die Elemente zur Lösung des Falls gleichsam auf dem Silbertablett präsentiert. Neben dem Geschädigten treten bei ihm nämlich der Käufer des Diebesguts, der Schiffer Wulkow, und die Anstifterin des Diebstahls, die Waschfrau Wolff, in Erscheinung. Obwohl Wehrhahn von einem Schiffer mit einem Biberpelz durch Dr. Fleischer berichtet worden ist, stellt er keinen Zusammenhang zwischen dem anwesenden Schiffer und dem Diebstahl her. Im Gegenteil leitet er aus der Erklärung des Schiffers, selbst einen Biberpelz zu besitzen, die Entscheidung ab, diese Spur gerade nicht zu verfolgen. So trumpft er gegenüber dem Geschädigten auf: „Na sehn Sie, der Mann hat selbst einen Pelz.“[48] Wenn sogar jemand wie Wulkow über einen solchen Pelz verfüge, so sei damit doch die weite Verbreitung solcher Kleidungsstücke bei Schiffern bewiesen. Die „Beobachtung“[49], auf die sich Krüger beruft, disqualifiziert er mit Hilfe dieser Logik: „Ich wollte Ihnen nur mal vor Augen führen, was es auf sich hat mit dieser ‚Beobachtung’.“[50]

Auf eine analoge Weise disqualifiziert er wenig später eine unmittelbare Wahrnehmung des Geschädigten, eine „Erfahrung“[51]. Diese wird durch eine angeblich „lange Erfahrung“[52]des Amtsleiters ausgeschaltet, wonach solches Diebesgut gewöhnlich im nahen Berlin verschwinden würde. Die zutreffende Annahme Krügers: „Ich klaube, der Dieb ist hier am Ort.“[53] wird damit vom Tisch gefegt.

Frau Wolff, die Anstifterin und Nutznießerin des Diebstahls, wappnet sich dadurch gegenüber peinlichen Nachforschungen, dass sie Wehrhahn vor einem schnellen Wegreden des Offensichtlichen warnt: „Na, na, ma soll nischt verreden, Herr Vorsteher.“[54] Indem sie als geheime Täterin die verdrehte Argumentationsweise der Amtsperson auf den Punkt bringt, sucht sie sich selbst aus der Schusslinie zu bringen: Wer so intensiv bei der Fahndung nach dem Täter mitdenkt, kann ja nicht selbst der Gesuchte sein.

Die Szene kulminiert darin, dass Frau Wolff den gut gepflegten Schein ihres Freimuts taktisch als Nachweis ihrer Harmlosigkeit einsetzt: „Ich bin immer geradezu, Herr Vorsteher. Wenn ich mit’m Maule nich immer so vorneweg wär’, da hätt’ ich könn schon viel weiter sein.“[55]

Wehrhahn identifiziert sich in diesem Sinne mit ihr: „Das ist nämlich hier unsere fleißige Waschfrau. Die denkt, alle Menschen sind so wie sie.“[56] Seine Ignoranz gegenüber dem Offensichtlichen feiert er als besondere Begabung für den Durchblick: „Unsereins blickt nun schon etwas tiefer. […] die Wolffen ist eine ehrliche Haut.“[57]

Die kriminelle Gewitztheit der Waschfrau und die ideologische Verbohrtheit der Amtsperson haben sich demnach zu einer seltsamen Symbiose zusammengefunden. Angesichts ihrer robusten Unabhängigkeit wären der Wolffen aber auch politisch subversive Neigungen zuzutrauen. Wenn das Stück kurz danach, also ohne eine Aufklärung der Kriminalfälle, endet, so entspricht dies Hauptmanns eigenen Erfahrungen mit der preußischen Obrigkeit – während seiner Zeit in Erkner – und überhaupt seiner pessimistischen Einsicht: Solange es bei der Durchsetzung von Recht und Ordnung im wesentlichen nur um die paranoide Stabilisierung eines autoritären Staatswesens geht, muss man die Hoffnung auf gerechtere Verhältnisse ganz aufgeben.

In dem „Schauspiel“ „Fuhrmann Henschel“ von 1899 gewinnt das Versagen der Sprache gegenüber den maßgeblichen Prozessen im menschlichen Leben eine tragische Dimension. Der Titelheld handelt hier angesichts unglücklicher Lebensumstände so, wie es die Vernunft zu gebieten scheint. Dass jedoch diese Vernunft auch mit einer ruinösen Dynamik im Bunde steht, soll er im Laufe der Handlung schmerzlich erfahren.

Die Frau des schlesischen Fuhrunternehmers Henschel liegt im Sterben. Während seiner Abwesenheit kümmert sich die junge und resolute Magd Hanne um sie, die allerdings recht lieblos mit der Kranken umgeht. Frau Henschel hegt den Argwohn, dass Hanne nach ihrem Tode an ihre Stelle treten könnte. Sie beginnt sogar über ein mögliches Verhältnis zwischen ihrem Manne und der Magd zu fantasieren. Man versucht, ihr das auszureden. Insbesondere Herr Siebenhaar, ein bei Henschel verschuldeter Mitbewohner des Hauses – laut Regieanweisung ein „intelligenter Typus“[58] – tut sich dabei hervor: „Frau Henschel, Sie sind `ne vernünftige Frau.[…] Sie leiden an Einbildungen.“[59]

Auch Henschel selbst wird von seiner Frau mit solchen Ängsten konfrontiert. Sie prophezeit ihm, dass nach ihrem Tode im Falle seiner Verbindung mit Hanne auch ihre schwächliches halbjähriges Kind Gustl sterben würde. Ihr gelingt es schließlich, ihrem Manne kurz vor ihrem Tode ein Versprechen abzupressen. Er verspricht ihr „in die Hand“[60], die Magd nicht zu heiraten.

Nach ihrem Tode wird Henschel bewusst, wie sehr doch im Hause eine Frau fehlt. Eigentlich würde ja Hanne diese Lücke gut schließen können, da sie sich bislang durch zupackende und haushälterische Fähigkeiten bewährt habe. Im Widerspruch dazu steht aber nicht nur der große Altersunterschied, sondern vor allem das seiner Frau gegebene Versprechen.

Herr Siebenhaar tritt in dieser Lage wieder als Advokat der Vernunft in Erscheinung. Vorher hatte er ja versucht, Frau Henschel ihre „Einbildungen“ über die Beziehung ihres Mannes zu der Magd auszureden. Nun versucht er, Henschel im Namen der Vernunft eine mögliche Verbindung mit Hanne schmackhaft zu machen. Schließlich könne er doch als Mann in den besten Jahren nicht ohne Frau leben und letztlich würde doch der ganze Betrieb von ihrer Tüchtigkeit profitieren. Hanne, der diese Erwägungen nicht verborgen bleiben, beginnt schon zu triumphieren: „Ich wersch euch zeigen, paß a mal uf!“[61] Sie scheint demnach ihren wohl bevorstehenden sozialen Aufstieg auch als Gelegenheit dafür zu verstehen, sich für Demütigungen in ihrem bisherigen Leben zu rächen.

Die Dinge entwickeln sich so, wie sie es anscheinend müssen. Die Magd wird zur neuen Frau Henschel. Als böses Vorzeichen könnte allerdings gelten, dass die kleine Gustl stirbt. Henschel denkt nun daran, die uneheliche Tochter Hannes ins Haus zu holen. Sie drohe bei ihrem trunksüchtigen Großvater zugrunde zu gehen. Außerdem könne sie doch an die Stelle des verstorbenen Kindes treten. Zu seinem Erstaunen kommt es jedoch deswegen zu einer schweren Verstimmung mit seiner Frau, weil diese sich durchaus nicht zu ihrem eigenen Kind bekennen möchte.

Im vierten Akt, der in einer Wirtsstube spielt, bahnt sich die Katastrophe an. Der Stein wird durch Hauffe, einen alten und körperlich verbrauchten Angestellten Henschels, ins Rollen gebracht. Wütend ist er darüber, dass er vor allem auf Betreiben von Frau Henschel entlassen werden soll. Einer solchen Zielstrebigkeit der jetzigen Frau Henschel sei seiner Meinung nach letztlich auch ihre Vorgängerin zum Opfer gefallen. Anschließend kommt man noch auf die eheliche Untreue Hannes zu sprechen. Sie, das junge Vollweib, habe sich mit Georg, dem feschen jungen Kellner eingelassen. Als Henschel hinzukommt, wird offenbar, wie sehr er sich seit seiner Heirat verändert hat. Aus dem gutmütigen Menschen von einst ist ein reizbarer und unleidlicher Mensch geworden. Nach einem heftigen Wortwechsel mit Hauffe wirft er diesen aus dem Wirtshaus hinaus.

Im fünften Akt kulminiert die Katastrophe. Man bemerkt, wie Henschel außer sich gerät. Er fantasiert, vom Geist seiner Frau heimgesucht zu werden. Sie scheint ihn an sein gebrochenes Versprechen und den Tod Gustls erinnern zu wollen. Vor allem quält er sich mit der Frage, ob nicht Hanne für diesen Tod verantwortlich sein könne. Henschel redet von seiner eigenen Schuld, glaubt aber weiterhin auch an die Rationalität seines Handelns. So sieht er sich einem Geschehen ausgeliefert, das ihm letztlich unbegreiflich bleibt: „Schlecht bin ich geworn, bloß ich kann nischt dafür. Ich bin ebens halt aso neingetapert. Meinswegen kann ich auch schuld sein. Wer weeß’s?“[62]

Er fasst allerdings auch eine Ebene ins Auge – hypothetisch oder gläubig – , auf der diese Unwissenheit überwunden wäre: „Unser Herrgott und ich: wir beede, wir wissen’s.“[63] Es gibt demnach für Henschel ein inneres Wissen, das sich der Mitteilbarkeit entzieht. Insofern verweist diese lapidare Äußerung auf eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem eigentlich zu Sagenden und dem Sagbaren, die das Stück insgesamt wie auch viele von Hauptmanns Stücken zu kennzeichnen scheint.

Henschel meint nun, dass entweder seine Frau oder selbst zu weichen hätten.

Siebenhaar profiliert sich ein weiteres Mal als Exponent der Vernunft. Seiner Meinung nach handelt es sich bei der Krise Henschels im wesentlichen um den Ausbruch einer Krankheit, die mit Hilfe eines Arztes überwunden werden könne: „Gehen Sie und fragen Sie einen Arzt. Denken Sie sich: ich bin krank, ich bin sehr krank, aber jagen sie diese Gespenster fort. Das sind Hirngespinste, sind Phantasien.“[64] Die Rolle, die er hier den Arzt zuschreibt, kann an die Funktion des Arztes erinnern, die der Fabrikant Dreissiger angesichts der peinlichen Ohnmacht des kleinen Jungen in Anspruch nehmen möchte. In beiden Fällen wäre es die Aufgabe des Arztes, eine zutiefst beunruhigende Wirklichkeit auf eine förderliche Weise zu definieren. Allerdings würde es nun darauf ankommen, dass Henschel vorher seinen Zustand selbst auf diese Weise definierte: „Denken Sie sich, ich bin krank […]“. Dies ist ihm jedoch nicht möglich. Die Wirklichkeit, die er erlebt, lässt sich aus seiner Sicht nicht auf solche gewöhnliche Begriffe bringen. Durch sein Geständnis, dem Geschehen sprachlich nicht gewachsen zu sein, fällt auch ein Licht auf die eloquente Vernünftigkeit Siebenhaars: „Aso’ne Geschichten, die muß man durchmachen eh man se kennt. Erzählen kann man die eemal nich.“[65] Diese Äußerung Henschels sticht deswegen hervor, weil er hiermit angesichts eines elementaren, sprachlich nicht mehr einholbaren Geschehens als sprachliches Subjekt abdankt.

Bei der Lösung seiner häuslichen Probleme hatte er sich doch gerade an die Rezepte gehalten, die im Namen des gesunden Menschenverstandes empfohlen wurden. Verloren fühlt er sich nun deswegen, weil sich eben diese Vorgehensweise als Quelle des Unheils erwiesen hat.

Henschel ergibt sich dem Dunkel, das ihm als sein Leben gilt und das nur um den Preis einer gefälligen Selbsttäuschung erhellt werden könnte. Jedes Wort kommt ihm wie eine Verharmlosung dessen vor, worum es eigentlich geht. Sein Verstummen wirkt beunruhigenderweise gehaltvoller als die Beredsamkeit Siebenhaars.

An das „tragische Schweigen“ muss ich denken, von dem Walter Benjamin in Anschluss an Franz Rosenzweig spricht.[66] Thomas Mann fühlt sich an die „attische Tragödie“ erinnert: „[…] im rauen Gewand volkstümlich-realistischer Gegenwart eine Tragödie.“[67]

Das Stück endet mit dem Selbstmord Henschels. Nur ein solches Handeln bleibt ihm also noch übrig, in dem sich seine Ohnmacht auf eine definitive Weise manifestiert. Danach kommt es zu einem kurzen Wortwechsel zwischen Wermelskirch, einem ehemaligen Schauspieler, und Siebenhaar:

„Wermelskirch: Den Doktor? / Siebenhaar: Zu spät! Der kann nichts mehr helfen.“[68]

Diese Worte Siebenhaars wirken so, als ob er zumindest für den Augenblick seinen Glauben an die Macht der Ärzte, gar der Vernunft verlieren würde.

Hauptmann hat die Handlung durch die Lebensumstände der Handelnden so genau motiviert, wie es die Lehre des Naturalismus verlangt. So machte er sich das psychologische und soziologische Wissen seiner Zeit zu Nutze. In dieser Perspektive wird etwa deutlich, inwiefern die Konfliktsituation des Dramas mit der Rolle der Geschlechter zur Zeit der Jahrhundertwende zusammenhängt. Henschel leidet demnach darunter, dass die traditionellen Geschlechterrollen durch eine weibliche Dominanz in seinem Haushalt auf den Kopf gestellt werden. So meint etwa jemand im Wirtshaus im Blick auf Hanne: „Sei Weib hat eben die Hosen an.“[69]

Für Hauptmann bilden jedoch diese sozialpsychologischen Voraussetzungen des Geschehens nur den Hintergrund. Im Vordergrund steht für ihn die Erfahrung, wie ohnmächtig die Menschen gegenüber dem Geschehen sind. Die Vernunft fungiert hier nur als Wegbereiterin dieses Geschehens. Siebenhaar, der auf die Vernunft setzt, bleibt der Lebenswirklichkeit entfremdet. Dass er bei Henschel ständig verschuldet ist und am Ende deswegen sogar ausziehen muss, kann wie die Außenseite seiner mangelnden Fundiertheit erscheinen.[70] Henschel, der in diese Lebenswirklichkeit eingetaucht ist, bleibt sprachlos. Der Mensch scheint hier durch das, worauf er bewusst abzielt, gerade das zu verfehlen, worauf es in seinem Leben ankommt. Hauptmann beunruhigt uns wie alle Tragiker mit einer solchen Ahnung. Er verwendet also die Mittel des Naturalismus in diesem Drama nur deswegen, um eine tiefe Ratlosigkeit des Menschen gegenüber dem eigentlich Treibenden in seinem Leben herauszuarbeiten. Erst in seiner letzten Schaffensphase, d. h. ab 1941, wird sich Hauptmann übrigens explizit mit seiner „Atriden-Trilogie“ dem Genre der Tragödie zuwenden, wobei er sich mit dem ersten Teil davon: „Iphigenie in Aulis“ an Goethes „Iphigenie auf Tauris“ misst. Immer mehr wühlt er sich bei diesem Projekt in eine Welt hinein, der, religiös gesprochen, die „Gnade“ fehlt.

Auffällig an „Fuhrmann Henschel“ finde ich, wie das Stück zwischen unterschiedlichen rezeptiven Orientierungen pendelt. Es kommt daher wie eine naturalistische Studie über den misslingenden Lösungsversuch einer elementaren häuslichen Krise. Dann stellt sich heraus, dass hier dem Naturalismus mit seinem wissenschaftlichen Optimismus durch einen prinzipiellen Zweifel am menschlichen Wissen der Boden entzogen wird. Das „Schauspiel“, wie Hauptmann das Stück selbst klassifiziert, verwandelt sich unter der Hand in ein existenziell verstörendes Spiel, insofern in eine „Tragödie“. Bei der Tragödie handelte es sich um ein Drama, dessen Konflikte auch den Zuschauer selbst angehen. Die Eigenart dieses Stückes scheint es demnach auszumachen, die neutrale, gleichsam wissenschaftliche Distanz gegenüber dem dargestellten Fall aufzuheben. Die Fragen, die es aufwirft, müsste man   nämlich auch sich selbst stellen: Sollten etwa die Sprache und die Vernunft, denen man doch alles zu verdanken scheint, mehr verhüllen als enthüllen?

III.

Auf einer vordergründigen Ebene lässt sich Hauptmanns Verhältnis zur Sprache an den äußeren Entstehensumständen seiner Dramatik ablesen. Statt die dramatischen Dialoge selbst niederzuschreiben, pflegte er sie beim Herumwandern seiner Sekretärin zu diktieren. [71] Offensichtlich kam es ihm darauf an, das Wort, hier den dramatischen Dialog, möglichst in Distanz zu sich selbst zu bringen. Statt dass es als „poetisches“ Wort sein Inneres verkörperte, sollte es von ihm Unabhängiges wie die Figuren des Dramas in Bewegung setzen. Insofern war es von vornherein funktionalisiert. Hauptmann entzaubert es damit so sehr – ganz ‚realistisch’ – , dass es auf eine geradezu hämische Weise die Inkompetenz des Menschen gegenüber seinem eigenen Schicksal anzeigt.

(Das Drama wird nach Peter Szondi dadurch zum „absoluten Drama“, dass die den Menschen bestimmende Wirklichkeit ausschließlich auf eine dem Menschen selbst gemäße Weise, nämlich durch die dialogische Sprache, vermittelt werden kann. Indem der Mensch damit eine volle Präsenz seiner selbst gewinnt, wird die Kategorie des „Schicksals“ gegenstandslos. Von einer anthropozentrischen Vision könnte man hier sprechen, die allerdings nach Szondi in der Renaissance Gestalt anzunehmen vermochte – eben durch das „absolute Drama“[72]. Die Dramatik Hauptmanns entfaltet sich aber gerade aus einem empirisch begründeten Desinteresse an einer solchen Vision. Bei ihm erscheint der Mensch als das Wesen, das notorisch hinter seiner sprachlichen Bestimmung zurückbleibt. Wenn Szondi unter dem Leitbegriff der Episierung die Erosion der dramatischen Form bei Hauptmann diagnostiziert („Krise des Dramas“)[73], so ignoriert dieser bewusst einen normativen Begriff des Dramas zugunsten der vorsprachlichen und externen Gegebenheiten der menschlichen Existenz. Das Drama als d i e Form eines sprachlich fundierten Anthropozentrismus zu verstehen, bedeutete ihm zufolge, es allzu sehr einzuengen. Die hochgemute, anhand der Renaissance formulierte Vorstellung, dass die Welt überhaupt mit der Welt des menschlichen Dialogs zusammenfallen könnte, beseelt ihn sicherlich nicht. Ihm schwebt dagegen eine Dramatik vor, deren sprachliche Orientierung gerade nicht auf Kosten der sinnlichen Existenzerfahrung geht. Die Fixierung auf das „absolute Drama“ bedeutete zudem, die damit nicht zu vereinbarenden Aspekte der menschlichen Existenz allein unter einem negativen Aspekt, als Krisenerscheinungen, erfassen zu können. Der Befund der Krise wird zur verkappten Konservierung eines Idealzustandes. Da sich Hauptmann nicht an einer solchen Norm orientiert, kann bei ihm auch nicht von Krisen- oder Verfallserscheinungen gesprochen worden. Es handelt sich hier eher um Symptome eines unentwirrbaren Ineinanderspielens von menschlicher Autonomie und kreatürlicher Heteronomie. [74])

Von der gewissen „Papierscheu“[75] Hauptmanns ist in diesem Zusammenhang auch die Rede. Anscheinend wollte er es vermeiden, in seiner Wahrnehmungsweise allzu sehr von der Arbeit am Schreibtisch geprägt zu werden. Der Glaube an die Sprache, der doch den Dichter ausmachte, drohte aus seiner Sicht womöglich zu einer „déformation professionelle“ zu führen. Der suchte er zu entgehen. Vielleicht wollte er insgeheim der dialektsprachige Naturbursche bleiben, der er in seiner Jugend in Abgrenzung von seinem bürgerlichen Elternhaus und der Schule einmal gewesen war.[76] Seine Anhänglichkeit gegenüber dem heimischen Dialekt als einem sinnlicheren Aggregatszustand der Sprache dürfte bei seinem Unbehagen an der vorherrschenden sprachlichen Praxis eine gewisse Rolle spielen, ohne dass aber dieses Unbehagen allein daraus abgeleitet werden könnte.

Auf gedankenlyrische Weise hat er selbst über sein Verhältnis zur Sprache reflektiert. Das geschieht in seinem unvollendet gebliebenen Alterswerk: „Der große Traum“, einem jambischen Terzinen-Epos in 22 Gesängen. Im 19. Gesang heißt es:

„[…] Kein Wort ist hier genug.// Als Schiff in dieses Rätselmeer zu schiffen – / kaum aus dem Hafen, scheitert’s, sinkt, zerfällt.[…] // Mag lieber denn die Sprache untergehen, // als daß die heilige Wahrheit des Gesichts / wie eines Sehers je bezweifelt werde! / Die Runenzeichen dieses Weltgedichts // sind Opferflammen auf dem chtonischen Herde.“[77]

Wenn sich ein Dichter durch den Glauben an die Sprache kennzeichnen sollte, so könnten diese Verse als ein Abschied Hauptmanns vom Dichtertum interpretiert werden. Was nämlich für den sprachgläubigen Dichter das Ende bedeuten würde: die Einsicht in die Ohnmacht der Sprache, bedeutet aus Hauptmanns Sicht eben noch kein Ende. Vielmehr führt diese Erfahrung bei ihm dazu, den Vorrang des Visuellen, der „heiligen Wahrheit des Gesichts“, anzuerkennen. Von hier aus könnte sich die Sprache neu orientieren – gleichsam unter einem postpoetischen Vorzeichen. Ihre Aufgabe wäre es nun, das Gesehene ohne den Anspruch auf seine sprachliche Assimilation zu vermitteln. Wenn am Schluss dunkel von „Runenzeichen“ die Rede ist, so verweist dies umgekehrt auf eine Indienstnahme der Sprache durch das Visuelle. Statt das Visuelle oder Visionäre in sich einzuschmelzen, hätte sie nun von ihm eindringlich zu zeugen. Die Kompromittierung der Sprache gegenüber der (inneren) Wirklichkeit wertet Hauptmann als Chance für die Wirklichkeit.

Dem Germanisten Karl S. Guthke zufolge wird die sprachliche Desillusionierung bei Hauptmann durch die Genugtuung über die sprachliche Vermittlung des Visuellen aufgewogen: „[…] statt die Freude an der Sprachbeherrschung die Lust am Bilden […]“.[78]

In der Tat stellt uns Hauptmann seine Dramenfiguren plastisch in ihrem Milieu und mit ihren Verschrobenheiten vor Augen, statt ihnen zum befreienden Wort zu verhelfen. Die Annahme des Menschen, sich mithilfe der Sprache prinzipiell über das Dunkel seines Gelebtwerdens zu erheben, meint Hauptmann als bloße Einbildung entlarven zu können. Der Mensch ist bei ihm wesentlich derjenige, dem es, auch bei größter Eloquenz, die Sprache verschlagen hat. Mit seinem radikalen Zweifel an dem hoffnungsstiftenden Potenzial der Sprache taumelt Hauptmann, weltanschaulich gesehen, zwischen einem materialistischen Determinismus und einem gnadenlosen Fatalismus. Einmal abgesehen von gelegentlichen neoromantischen, gar mystizistischen Eskapismen  – z. B. „Hanneles Himmelfahrt“, „Die versunkene Glocke“ sowie „Und Pippa tanzt“ – praktiziert er einen Realismus, der nicht über sich selbst hinausweist und deswegen erdenschwer, stickig, gar deprimierend anmuten kann.

Was die primär sinnliche Vergegenwärtigung von Figuren betrifft, hat Hauptmann auch Schule gemacht. Sein rheinhessischer Verehrer und vielleicht sogar „Schüler“ Carl Zuckmayer zeugt davon.[79] Wie nahe sich beide kommen, zeigt übrigens Zuckmayers wohl berühmtestes Stück „Der Hauptmann von Köpenick.“ Hier geht es wie in Hauptmanns Stück „Der Biberpelz“ um die Verblendung durch ein borniert obrigkeitliches Denken.

Da Hauptmanns Stücke stark vom Visuellen leben, sind sie auch sehr früh für die Filmindustrie interessant geworden. Die Liste der Verfilmungen ist imponierend: Im Jahre 1996 hat Sigfrid Hoefert 22 Kinofilme und 34 Fernsehfilme gezählt.[80] Allerdings sollte man sich davor hüten, die Verfilmung der Stücke als ihren wahren medialen Aggregatszustand zu betrachten. Hauptmann selbst hielt nicht viel von diesem Medium. – zumindest anfangs. Er sprach manchmal verächtlich vom „Kintopp“, obwohl er sehr gut daran verdiente.[81]

Bemerkenswert ist er letztlich nicht als Zulieferer für die Filmindustrie, sondern als Dramatiker des ohnmächtigen Wortes. Als solcher wirkt er nachhaltig. So sehr es ihm  gelingt, unseren kreatürlichen Abhängigkeiten von den Gewalten des Lebens auf die Spur zu kommen, so wenig vermag er zum erlösenden Wort vorzudringen. Stattdessen vermag er uns – vor allem mit seiner frühen Dramatik – auf eine Frage zu stoßen, die uns dauerhaft irritieren könnte: Lebt unsere Sprache gegenwärtig nicht gerade vom Verschweigen dessen, worauf es im Leben wirklich ankommt?



[1] Gerhart Hauptmann: „Das Abenteuer meiner Jugend“. In: G. H. : „Das Abenteuer meiner Jugend.“ „Buch der Leidenschaft“ Autobiografische Romane. Berlin: Ullstein 2007, S. 635.

[2] Ebd, S. 41.

[3] Ebd., S. 260.

[4] Friedhelm Marx: „Gerhart Hauptmann“. Stuttgart: Reclam 1998, S. 13 und 329. Vgl. auch Hauptmanns Autobiografie (Nr. 1), S. 533-535.

[5] Jean Améry: „Gerhart Hauptmann. Der ewige Deutsche“. Mühlacker: Stieglitz Verlag 1963, S. 10.

[6] Ebd., S. 86.

[7] Ebd., S. 115.Vgl. auch die von Th. Th. Heine 1925 angefertigte Karikatur: „Gerhart Hauptmann wird wieder Bildhauer  und modelliert das Gerhart-Hauptmann-Denkmal.“. in: Marx (Nr. 4), S. 330.

[8] Vgl. a) Ingo Stöckmann: Gerhart Hauptmanns Autorschaft. In: text und kritik , Heft 142, April 1999, S. 41. b) Peter Sprengel. „Der Dichter stand auf hoher Küste“. Gerhart Hauptmann im Dritten Reich. Berlin: Propyläen 2009, S. 295-298 und 326.

[9] Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke: Centenar-Ausgabe. Hg. von Hans-Egon Hass. Frankfurt a. M. Berlin: Propyläen 1974, Bd. 11, S. 682.(Hauptmann wendet sich übrigens wieder an Goethe, als 1945 Deutschland und seine Kultur ruiniert sind: „Entschuldige, Goethe, / ich nenne nicht mehr deine Historie ein Wunder, / sondern Plunder. / Die Welt ist zu blutig und zu dumm: / wir kommen um diesen Punkt nicht herum./ Einzelheiten – o Gott – sie schreiten/ unerkannt in Qual und Blöße / und damit in ihrer Größe. / Ich halte dein Bändchen in der Hand,/ o du ahnungsloser Spießer: / was ist heut ein Weltgenießer, / wo der einzige Gedanke der Zeit / heißt: Vergessenheit!“ Ebd., S. 749.)

[10]  Zitiert nach: Marx (Nr. 4), S. 34.

[11]  Alfred Kerr: „Gerhart Hauptmanns Schande“. In: Exil. Literarische und politische Texte aus dem deutschen Exil 1933-1945. Hg. von Ernst Loewy. Stuttgart: Metzler 1979, S. 218 – 222.

[12] Sprengel (8 b), S. 64

[13] Ebd., S. 255. Zu Hauptmanns  nicht eindeutiger Haltung gegenüber den Juden siehe in Sprengels Buch (8 b) das Kapitel: „Begegnungen mit Ahasver“. Ebd., S. 71 – 83.

[14] Jan-Pieter Barbian: Zwischen allen Stühlen. Gerhart Hauptmann im ‚Dritten Reich’. In: text und kritik, Heft 142, April 1999, S. 43-63, insbes. S. 45, 52-53, 58 sowie Sprengel (Nr. 8 b), S. 101.

[15] „[…] seine durchgängige Ablehnung Georges hat sich in den letzten Jahren noch verhärtet.“ Sprengel (8 b), S. 220. Vgl. auch: Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. Pantheon 2008, S. 701-702 (Anmerkung Nr. 21).

[16] In seiner Autobiografie kommt Hauptmann einmal darauf zu sprechen, wie er sich in seiner Jugend zu den unterschiedlichen sozialen und emotionalen Daseinssphären verhält. Diese Äußerung erscheint mir auch im Hinblick auf sein – späteres – poetologisches Selbstverständnis aufschlussreich zu sein: „Ohne die Sonnenseite des Daseins vor der Fassade des Hauses scheel anzusehen, rechnete ich mich doch durchaus zur anderen Partei, die gewissermaßen im Schatten lebte. Wieder und wieder stürzte ich mich ins Licht, doch nie, ohne bald in den Schatten zurückzukehren.“ Ebd., (Nr. 1), S. 46.

[17] Paul Böckmann versteht die Analyse von Hauptmanns Verhältnis zur Sprache als Schlüssel für das Verständnis seiner Dramatik. Dieser Ansatz hat sich für mich als besonders hilfreich erwiesen. Vgl.: Paul Böckmann: Der Naturalismus Gerhart Hauptmanns. In: Deutsche Dramen von Gryphius bis Brecht. Interpretationen Bd. 2, hg. von Jost Schillemeit. Frankfurt a. M.: Fischer 1966, S. 269-294.

[18] Gerhart Hauptmann: „Die Weber“, in: G. Hauptmann, Centenar-Ausgabe (Nr. 9), Bd.1, S. 335.

[19] Ebd.

[20] Ebd., S. 413.

[21] Ebd., S. 451.

[22] Ebd., S. 467.

[23] Ebd., S. 471.

[24] „Aber sieh och, Gustav; der Mensch muß doch a eenziges Mal an Augenblick Luft kriegen.“ Ebd., S. 475.

[25] Bäcker: „Von hier aus geh mer nach Bielau nieber, zu Dittrichen, der de die mechanischen Webstühle hat. Das ganze Elend kommt von den Fabriken.“ Ebd., S. 443, vgl. auch die Einschätzung Hornigs: ebd., S.465.

[26] Ebd., S. 405 (vgl. „dritter alter Weber“).

[27] Ebd., S. 441.

[28] Ebd., S. 403.

[29] Ebd., S. 463 und 479.

[30] Ansorge zu Moritz Jäger: „Du hast doch Bildung […]“, ebd., S. 369.

[31] Ebd.

[32] Ebd., S. 375.

[33] Paul Böckmann spricht in diesem Zusammenhang von einer „Gebärdenkunst“ und „Mimik der Rede“ bei Hauptmann. Vgl. Böckmann (Nr. 17) ,S. 283 und 279. Ursprünglich hatte Hauptmann das Drama ganz im schlesischen Dialekt geschrieben. Die zweite Fassung wurde dem Hochdeutschen angenähert. Vgl. Marx (Nr. 4), S. 71.

[34] G. Hauptmann: Centenar-Ausgabe (Nr. 9) , Bd. 1, S. 341.

[35] Ebd.

[36] Ebd.

[37] Ebd., S. 431.

[38] Im Original heißt es: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.“

In: Karl Marx/Friedrich Engels: „Manifest der kommunistischen Partei“. In: Karl Marx/Friedrich Engels Werke Bd. 4, Berlin: Dietz-Verlag 1972, S. 480.

[39] G. Hauptmann: Centenar-Ausgae (Nr. 9), Bd. 1, S. 397.

[40] Besprechung von Matthias Schmidt am 16. 9. 2011 in „kritik.de“. In diesem Zusammenhang kann die Gegenüberstellung von Dialekt und Hochdeutsch interessieren, die Hauptmann in seiner Autobiografie vornimmt: „Der Unterschied zwischen unten und oben war so groß wie der zwischen dem sinnlich-seelenvollen Dialekt und dem sinnlich-armen, nahezu entseelten Schriftdeutsch ist, das als Hochdeutsch gesprochen wird.“

G. Hauptmann: „Das Abenteuer meines Lebens“ (Nr. 1) , S. 31.

[41] Vgl. Karl S. Guthke: Gerhart Hauptmann. Weltbild im Werk. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1961, S. 63.

[42] Gerhart Hauptmann „Vor Sonnenaufgang“. In: G. Hauptmann: Centenar-Ausgabe (Nr. 9), Bd. 1, S. 95.

[43] Sylvia Staude: „Gemeinsam kreischen und gebären.“ Frankfurter Rundschau 18. 2. 2012 , S. 23.

[44] Judith Butler berührt in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Adorno – Preises am 11. 9. 2012 übrigens genau diese Problematik eines ideologisch gewordenen, im konkreten Fall deswegen unsensiblen Humanismus. Ihr zufolge kann es zur „Zerstörung des lebendigen Ich“ nicht nur durch seine effektive Unterdrückung kommen, sondern auch durch seine unbedingte Identifikation mit Idealen, die kritisch auf diese Unterdrückung reagieren. Sie spricht hier von „einer anderen Form der Auslöschung“, vom „Verschwinden in einer allgemeinen Norm und damit [der] Zerstörung des lebendigen Ich.“ In: „Kann man ein gutes Leben im schlechten führen?“ Die Dankesrede der amerikanischen Philosophin Judith Butler bei der Verleihung des Adorno – Preises in der Frankfurter Paulskirche am 11. September. In: „Frankfurter Rundschau“ 15./16. 9. 2012, S. 33.

[45] Peter Szondi kritisiert in seiner „Theorie des modernen Dramas“ eine moralische Problematisierung Loths deswegen, weil sie die dramaturgische Funktion dieser Figur als „episches Ich“ bzw. „Fremder“ verkennen würde. Auf diese Weise wird aber die doch nachhaltige Wirkung der menschlichen Indifferenz Loths eskamotiert. Als „episches Ich“ wäre er von vornherein den moralischen Gesetzen der Binnenwelt, in die er sich als Sozialforscher hinein begibt, enthoben. Sobald der „Fremde“ aber menschliche Beziehungen in dieser Welt eingeht, ist er kein „Fremder“ mehr. Vgl. Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1964, S. 67-68.

[46]   Gerhart Hauptmann: „Der Biberpelz“. In: G. Hauptmann: Centenar-Ausgabe  (Nr. 9) , Bd. 1, S. 533.

[47] Ebd.

[48] Ebd., S. 537.

[49] Ebd., S. 538.

[50] Ebd.

[51] Ebd., S. 540.

[52] Ebd.

[53] Ebd.

[54] Ebd.

[55] Ebd., S. 541.

[56] Ebd., S. 542.

[57] Ebd.

[58] Ebd., S. 887.

[59] Ebd., S. 895 und 897.

[60] Ebd., S. 901.

[61] Ebd., S. 931.

[62] Ebd., S. 993.

[63] Ebd., S. 987.

[64] Ebd., S. 995.

[65] Ebd.

[66] Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt a. M. : Suhrkamp 1963, S. 211.

[67] Thomas Mann: Gerhart Hauptmann (Rede, gehalten am 9. November 1952 im Rahmen der Frankfurter Gerhart-Hauptmann-Woche) Gütersloh: Bertelsmann 1953, S. 18-19.

[68] G. Hauptmann: Centenar -Ausgabe (Bd. 1), S. 1005

[69] Ebd., S. 246. Vgl. zu diesem Komplex: Ruth Florack: Sexualcharakter und Degeneration in Hautmanns Familiendramen. In: text und kritik, Heft 142, April 1999, S. 64-76, insbes. S. 72-74.

[70] Eine aktuelle Assoziation sei mir an dieser Stelle erlaubt: Siebenhaar kennzeichnet sich dadurch, ungedeckte Positionen zu formulieren, die allein von ihrer beschworenen Akzeptanz leben. Insofern könnte er als Exponent einer „abendländischen Vernunft“ gelten, deren Fragwürdigkeit Thomas Assheuer zufolge in der Gegenwart offenbar geworden sein soll: „Doch heute zeigt sich: Die abendländische Vernunft lebte metaphysisch wie materiell auf Pump, sie hat ihren Kredit überzogen […]“: Thomas Assheuer: „Die Moderne ist vorbei“. In: „Die Zeit“, 26. Juli 2012, S. 52.

[71] Sprengel ( Nr. 8b), S. 141.

[72] Peter Szondi (Nr. 45), S. 35.

[73] Peter Szondi (Nr. 45), S. 62-73.

[74]  Szondis Begriff des Dramas fußt auf einer strikten Unterscheidung zwischen dem Dramatischen und dem Epischen, wie es der „klassizistischen“ Lehre Goethes und Schillers entspricht. Diese strikte Unterscheidung will aber Hauptmann nicht gelten lassen. Er bezieht sich dabei bezeichnenderweise auch auf Shakespeare, der sowieso eine Schwachstelle in Szondis Konzeption bildet: „Das Epische und  Dramatische ist nie rein zu sondern. Shakespeare ist überwiegend episch und dennoch durchaus dramatisch.“ Zitiert nach: Margret Dietrich, Paul Stefanek: Deutsche Dramaturgie von Gryphius bis Brecht. München: List 1965, S. 130.

[75] Sprengel (8 b), S. 141. In seiner Autobiografie spricht Hauptmann von seiner „ausgesprochene(n) Tintenscheu.“ Ebd. (Nr. 1), S. 229.

[76] Vgl. z. B. eine Bemerkung in seiner Autobiografie: „[…] noch konnte mir nicht zu Bewußtsein kommen, daß ich eigentlich immer von ihr [d. h. „einer gewissen, mir eigentlich nicht entsprechenden Künstlichkeit“ des Badebetriebes in Ober-Salzbrunn] fort mit unstillbarem Drang zur Natur strebte, wo sie unverbildet, ursprünglich und einfach ist.“ „Das Abenteuer meines Lebens“ (Nr. 1), S. 69.

[77]  Gerhart Hauptmann: „Der große Traum“. In: G. Hauptmann: Centenar-Ausgabe (Nr. 9) , Bd. 4, S. 1067.

[78] Guthke (Nr. 40), S. 19. Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist, dass Hauptmann seiner Autobiografie zufolge als Sechszehnjähriger während seiner landwirtschaftlichen Ausbildung auf die „Erfahrungsfülle“ bei der gemeinschaftlichen Arbeit nicht mit dem Impuls zu schreiben, sondern zu malen reagiert: „[…] das alles waren Erscheinungen, die den Zeichner und Maler förmlich herausforderten, und eines Tages auf dem Felde, fast ohne Bewußtsein, hatte ich eine Art Skizzenbuch und einen Bleistift in der Hand und zu meinem eigenen Staunen einige charakteristische Linien zu Papier gebracht.“ „Das Abenteuer meines Lebens“ (Nr. 1), S. 269-270.

[79] Sprengel (Nr. 8 b), S. 237. Vgl. auch: Carl Zuckmayer: „Geheimreport“. Hg. von Gunther Nickel und Johanna Schrön. München: dtv 2002, S. 356.

[80] Sigfrid Hoefert: Gerhart Hauptmann und der Film. Berlin: E. Schmidt 1996, S. 89 – 106. Vgl. auch: Stefan Keppler: ‚Bilderstürme’.Gerhart Hauptmann und das Kino. In: Wolfgang Neuhaus (Hg.) : Literatur und Film. Beispiele einer Medienbeziehung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 63 -85.

[81] Améry (Nr. 5), S. 94.