Kritik der Sublimation

Kritik der Sublimation bei Claude Vigée

 

Helmut Pillau

 

O.

 

Eher nebenbei kommt Claude Vigée einmal im Rahmen eines längeren Essays  – Reflexionen zu dem Film „Iwan der Schreckliche“ von Sergej Eisenstein[1] – auf die Rolle der Sublimation für das künstlerische Schaffen zu sprechen. Auch weil dadurch Licht auf Kriterien seiner Poetik fällt, sollen diese Überlegungen im Folgenden studiert werden. Dabei können Gedankengänge aus anderen theoretischen Texten Vigées zur Verdeutlichung beitragen: einmal sein Konzept des „inceste heureux“ aus dem poetologischen Tagebuch Journal de l’été indien (1954)[2] und zum anderen seine kritische Diskussion von Hegels Analyse der ägyptischen Skulptur, die sich in einem wissenschaftlichen Aufsatz über „Genèse de la sensibilité poétique moderne“[3] (1960) findet.

1.

Für Vigée entspringt die Brillanz, durch die sich ein gelungenes Kunstwerk auszeichnet, nicht einer Lösung vom Irdischen, sondern im Gegenteil seiner optimalen Durchdringung. In die Irre führt ihm zufolge, aus den immateriellen Qualitäten eines Kunstwerks eine „idealistische“ Ästhetik abzuleiten. Indem der Künstler den immateriellen Glanz direkt anzielt, blockiert er von vornherein die Bedingungen seiner Entstehung. Denn dieser entsteht eben nicht durch eine misstrauische Distanzierung von der Welt, sondern durch das Wagnis ihrer vorbehaltlosen Bejahung. Wer wie der „idealistische“ Künstler aus Sorge vor der Verführung und der Verunreinigung den zu behandelnden Stoff „ästhetisch“ filtert, verurteilt sich zur Hervorbringung einer Phantom-Kunst.

Vigée verhält sich deswegen skeptisch gegenüber der institutionalisierten Kunst, weil diese wesentlich auf der Orientierung an der, im doppelten Wortsinne, „blendenden“ Dimension der Kunst fußt. Was erst einem riskanten Eintauchen ins Irdische entspringen mag, wird hier, mit einer vornehmen Wendung gegen dieses Irdische, zum Kriterium der Kunst deklariert. Die

Ästheten, die Vigée hierbei im Auge hat, gehen demnach von einem tiefen, aber zugleich allzu naheliegenden Missverständnis der Kunst aus. Sie fixieren sich auf das, wodurch die Kunst auf vorteilhafte Weise von den übrigen Phänomenen der Welt absticht und verschütten damit gerade die außerordentliche Treue zur Welt, aus der – bedeutende – Kunst erwächst. Sie verstehen die Kunst als Rechtfertigung für eine gewisse Erhebung über die Welt, das Irdische, Leibliche…, wohingegen die Kunst selbst doch gerade einer extremen Öffnung dafür entspringt. Die respektheischende Distanz zur realen Welt, welche die Ästheten pflegen, bringt Vigée dazu, sich wiederum von ihnen, um der Vitalität der Kunst willen, zu distanzieren.

Wenn er vielleicht auch aus taktischen Gründen den Bruch mit ihnen, den Wortführern des Kunstbetriebes, vermeiden mag, so stehen ihm doch im Grunde diejenigen näher, die von der „hehren Kunst“, dem „Hochgeistigen“ überhaupt, Abstand nehmen. Diese verwerfen einen Wert, den die anderen, die Ästheten, die hoch Gebildeten, allzu schnell für sich reklamieren. Vigée solidarisiert sich mit den Anti-Ästheten wegen ihrer Nähe zu den Dingen, ihrer Sinnlichkeit, ihrer Scheu vor leeren Abstraktionen, opponiert ihnen andererseits aber auch wegen ihrer spirituellen Unempfänglichkeit. Im Verbunde mit ihnen eröffnen sich Perspektiven, die denen, die schon darüber zu verfügen meinen, gerade deswegen verschlossen bleiben. Das vollkommen angenommene „Sein“ – etwa der sinnliche Kontakt zu den Dingen – garantiert ihm das „Werden“.

An diesem Punkt zeigt sich die eigentümliche soziale Situierung des Dichters Vigée, die sich durch eine Unterscheidung von dem kunstsinnigen Establishment und eine Nähe zu den „einfachen Leuten“ kennzeichnet. Eine spezielle, stark akzentuierte Note erhält diese prekäre Position Vigées durch seine Treue gegenüber dem elsässischen Dialekt, der als orale Sprache von vornherein als Literatur- untauglich gilt und darüber hinaus lange, als vermeintlich subversives Element, von Seiten des französischen Staates politisch verfemt wurde. Vigée kann diese Position innerhalb des Elsass und Frankreichs schließlich deswegen noch entschiedener  vertreten als andere, weil er durch sein bewusstes Judentum über eine besondere Kompetenz für die Existenz von gesellschaftlichen Außenseitern verfügt.

 

Es fällt auf, dass Vigée seine Kritik der Sublimation in der Kunst gern mit dem Thema der Liebe, im Hinblick auf ihre sinnlichen und übersinnlichen Dimensionen, verknüpft. Bei der übersinnlichen Dimension der Liebe handelt es sich nach seiner Einsicht nicht um eine kulturelle Zutat, sondern um einen Indikator für die volle, sich selbst übersteigende Entfaltung der genuin sinnlichen Liebe. Sich voll entfaltend, transzendiert das Sinnliche hier sich selbst. Der sinnliche Genuss entbindet eine Liebe, die sich in ihrer Universalität von ihm löst, ihn dabei aber nicht vergisst:

S’il [l’artiste] est désormais toujours plus riche d’amour, et insatiable d’aimer, c’est parce

qu’il a d’abord étreint, comblé, puis lassé, avec sa chair pulsante et chaude, l’univers plus

proche qu’est le corps vivant de l’aimée. [4]

Die Isolierung des übersinnlichen, selbstlosen Momentes der Liebe zeugte von einem verkümmerten Verständnis der Liebe wie umgekehrt die Reduzierung der Liebe auf „Sex“ vom Konsumfähigmachen der Liebe zeugte. Der sinnliche Genuss ist dann so atemlos, dass er nicht mehr zu seiner eigenen Transzendenz gelangt. Es könnte sogar gefragt werden, ob nicht

diese Verkürzung der Liebe, die Reduktion auf ihre „sensationelle“ Pointe, einer Angst vor der Liebe selbst, ihrem umstürzenden Potential, entspringt. Ein Zusammenhang zwischen „Sex“ und „Sublimation“ deutet sich an: In dem Maße, wie die Liebe primär als Trieb definiert wird, wird auch Sublimation als Abwehrstrategie gegenüber der möglichen Destruktivität des Triebs wichtig.

Da Sublimation in diesem Zusammenhang jedenfalls auf einen Mangel verweist, gehört sie nicht zur Sache. Wenn überhaupt von ihr gesprochen werden sollte, so entspränge sie hier paradoxerweise einem vollen Ausleben und nicht der Versagung. In diesem Sinne diskutiert Vigée auch „Sublimation“ im Hinblick auf die Kunst. Er verwirft diesen Begriff hierbei anscheinend nicht ganz: „Sublimer, certes, est nécessaire au créateur.“[5] Sublimation darf aber beim künstlerischen Schaffen nicht als Rechtfertigung für das Zurückschrecken vor dem sinnlich Anspruchsvollen und Elementaren bedeuten. Es handelt sich hier vielmehr um eine Aufgipfelung – Vigée spricht von „montagne“ im Unterschied zu „terre“ – , die von einer selbstüberschreitenden Erfüllung des Sinnlichen zeugt. Trotz der gewonnenen Höhe bleibt unter diesen Umständen der Kontakt zum „Niederen“ erhalten:

[…]la vraie montagne qu’anime le souffle de la vie s’enracine dans la terre. Elle s’ouvre tout

entière sur celle-ci par la base, sans crainte de s’y perdre ou s’y souiller. [6]

So grenzt er sich von prätendierter Brillanz ab: „le mensonge poétique“ … „[…]les charmes inhumains de la Beauté abstraite et glacée de Baudelaire[…]“.[7]

Aufgipfelungen im Sinne Vigées dürfen nicht mit einer vorsätzlichen Lösung vom Irdischen verwechselt werden; die „wahre Sublimation“ bleibt vielmehr transparent für das Irdische:

Elles [les montagnes] ne prétendent pas planer dans l’empyrée, comme des esprits sublimes:

telle est la vraie, la bonne sublimation, dont l’envers s’appelle la gravité terrestre.[8]

Genauer betrachtet laufen Vigées Überlegungen eher auf eine Problematisierung von „Sublimation“ als deren bedingte Rechtfertigung hinaus. Im Sinne Freuds meinte sie ja die Verwandlung einer kulturell riskanten leiblichen Aktivität in eine kulturell erwünschte risikolose Aktivität.[9] Vigée wendet sich aber gegen die Auffassung, dass kulturell Wertvolles nur – „dualistisch“– durch die misstrauische Depotenzierung des Leiblichen möglich würde. Dieses Wertvolle versteht er demgegenüber als das Geheimnis des Leiblichen, das nur über dessen uneingeschränkte Annahme zu entdecken wäre: „la vraie, la bonne sublimation“[10].

Sublimation im herkömmlichen Sinne würde ihm insofern als Rettung vor einem unheimlich gewordenen Leben ins – brillante – Nichts erscheinen.

Angesichts der üblich gewordenen Aufspaltung des Leiblichen in zwar jeweils beherrschbare, aber bloß partikulare Funktionen dürfte es sich bei seiner integralen Bejahung um eine höchst anspruchsvolle Aufgabe handeln. Das, woraus man bloß intuitiv lebt, müsste auch im bewussten Lebensvollzug voll zur Geltung kommen können. Dagegen könnte sprechen, dass damit womöglich nur ‚schlafende Hunde geweckt werden’. Ein Misstrauen gegenüber der unvorhersehbaren Eigendynamik dieses Lebensquells wird laut. Mit Vigée wäre dann zurückzufragen, ob es sich nicht gerade bei dieser Sorge wegen der Eruptivität des mitreißenden und schöpferischen Aufbruchs („Extase“) – von der übrigens das Denken Sigmund Freuds insgesamt bestimmt wird[11] – um eine Ursache für das befürchtete Unheil handelt. Denn sie erzeugt erst die tiefe Verunsicherung, welche die Gefühle verwirrt. Vielleicht gibt es ja einen dogmatisch gewordenen Argwohn, der seelisch verunsichert und dadurch erst Fehlgriffe ermöglicht. Sorglosigkeit könnte demgegenüber dazu führen, mögliche Gründe der Sorge im Keim zu ersticken.

Diese These lässt an Vigées Konzept des „inceste heureux“ [12] aus seiner frühen Zeit denken. Mit Hilfe dieses Konzepts sucht Vigée die Lücke fruchtbar zu machen, die sich zwischen dem normativen (etwa moralischen) Begriff eines Handelns und diesem Handeln selbst auftut: die Verwirklichung des Gedankens als seine (praktische) Entthronung.

Das Motiv des „inceste heureux“ hält die Paradoxie fest, dass gerade durch die Verletzung einer gesellschaftlichen Norm der individuelle Lebensgrund: das Glück, gefunden wird. Unter dem Vorzeichen dieses Motivs gewinnt die Glückserfahrung in existentieller Hinsicht, also auf irreversible Weise, ein Übergewicht gegenüber der gesellschaftlichen Norm, die verletzt wird. Diese gilt weiterhin, korreliert aber offenkundig nicht mehr mit dem, woraus man lebt.

Was in der Perspektive des abstrakten Begriffs als Untiefe erscheint, entpuppt sich bei seinem Vollzug als gegenständliche Tiefe. Der vermeintliche Abgrund erweist sich als fruchtbarer Schoß.  Dabei geht es aber nicht um einen Triumph gegenüber dem Gebot, sondern um dessen praktische Eskamotierung.  Ihre Legitimation findet hier  die Praxis nicht mehr  über die Gebote, sondern allein aus sich selbst heraus. Man versucht sich dem, was unbedingt sein soll – vermeintliche Axiome des gesellschaftlichen Lebens –, um der eigenen Lebendigkeit willen ohne die direkte, sowieso aussichtslose Konfrontation zu entziehen.  Vigée geht es, anders gesagt, darum, sich das Minimum von Selbstgewissheit, das er zum Leben braucht, ihm aber durch das einschüchternde Gebot genommen wurde, zu sichern. Er verschafft sich Raum zum Atmen, ohne es dabei auf Zusammenstöße abgesehen zu haben.

Als Beispiel dafür könnte auch eine charakteristische Pointe von Vigées poetischer Arbeit dienen, nämlich die – zumindest vorübergehend – erfolgreiche Übertrumpfung der Hochsprache durch den Dialekt. Obwohl der Gebrauch des Dialekts unter dem Vorzeichen der Hochsprache verpönt ist, vermag er diese durch seine überraschende (und lustvolle) Expressivität zumindest momentan auszustechen. Unmittelbarkeit, offiziell mit Enthemmung gleichgesetzt, überzeugt in ihrem Vollzug als Entkrampfung. Der Vorwurf der Barbarei soll sich als bloße Polemik von offizieller Seite entpuppen. Was eigentlich schlimm sein müsste, erweist sich bei seiner Realisierung als heilsam. Vigée schöpft aus dem, woraus er lebt, ohne darin zu versinken.

Bemerkenswert ist, dass sich Vigées – spätes – Bekenntnis zur „Heimat“ auch unter dem Vorzeichen des „inceste heureux“ vollzieht.[13] Er tut dies also im Bewusstsein, damit der rationalen Einsicht – insbesondere desjenigen eines von der Heimat zurecht enttäuschten Exilanten – zu widersprechen. Die seelischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, lassen ihn jedoch mit diesem Widerspruch leben. Ohne das rationale Kalkül zu verleugnen, profitiert er doch von den Früchten seiner Überschreitung. Listig, ohne die direkte Konfrontation, hat er die fixierende Vernunft überspielt. Er gönnt sich selbst sein eigenes Sein, das ihm von Rechts wegen gar nicht zusteht. Als subversiver Agent seiner selbst, einer eigenen Lebensmöglichkeiten, betätigt er sich. Er weiß sich darin mit dem zugleich sinnenfrohen und vorsichtigen Goethe einig.

Vigée geht es, ins Theologische gewendet, um die Rettung von Möglichkeiten eines aktivierbaren Urvertrauens, die dem Menschen innewohnen, ihm aber unter dem Eindruck der Doktrin von der Erbsünde zu entgleiten drohen.[14]

 

2.

Vigée kritisiert nicht nur das Konzept der Sublimation wegen seiner restriktiven anthropologischen Implikationen, sondern scheint darüber hinaus mit seiner Poetik eine Alternative dazu zu entwerfen. Jenes Konzept fußt auf einem grundlegenden Misstrauen gegenüber dem elementar Sinnlichen – insbesondere als sexueller Trieb aufgefasst. Es antwortet auf die Frage, wie dieses Elementare, das mit der Kultur unvereinbar bleibt, dennoch, ohne Schaden für die Kultur, zur Geltung kommen kann. Die Lösung besteht darin, das Elementare im Sinne der Kultur zu transformieren. Sein Widerstand gegenüber der Kultur soll dadurch gebrochen werden, dass es zu ihrem anerkannten und womöglich bewunderten Bestandteil erhoben wird. Wie aber das von Freud diagnostizierte „Unbehagen in der Kultur“ anzeigt, bleibt diese Konstruktion fadenscheinig. Aus seiner Sicht konstituiert sich die – zudem primär männlich geprägte – Kultur geradezu durch einen geheimen Dauerzwist mit dem Leiblichen.

Vigée demgegenüber geht es nicht um eine möglichst geschickte Integration des Elementaren in eine bestehende Kultur, sondern um deren Regeneration durch seine Bejahung. Vigées Ansatz ist, der – dogmatisch – unterstellten Heteronomie des Elementaren gegenüber der Kultur durch das Wagnis einer Öffnung für das Ausgeschlossene die Grundlage zu entziehen. Seiner Überzeugung nach erblüht es in dem Maße, wie es im  Widerspruch zu den kulturellen Prämissen bejaht wird. Sein Gegensatz zur Kultur erweist sich im Wesentlichen als Projektion einer Kultur, die ihren Bestand zu sichern sucht. (Gefährlich wäre es demnach insbesondere für diese etablierte Kultur, aber nicht an sich selbst.) Dann kann offenbar werden – insbesondere durch das künstlerische Gelingen –, dass sich Kultur und das Elementare nicht antinomisch zueinander verhalten.

In der religiösen Perspektive Vigées erweist sich das Kunstwerk damit als Widerschein der –

permanent werdenden – Schöpfung, in der die Gegensätze zwischen Kultur und dem Elementaren, dem Körper und dem Geist sowieso gegenstandslos sind.

Sublimation nach seinem Verständnis wäre nicht Erhebung des Leiblichen zum Geiste oder zur Kultur, sondern universelles Erstrahlen des wieder ganz gewordenen Leiblichen.

3.

Vigées Vorbehalte gegen ein Verständnis von Kunst, die primär geistig legitimiert wird, lassen sich in theoretischer Hinsicht besonders gut anhand seiner kritischen Auseinandersetzung mit Hegels Darstellung der ägyptischen Skulptur in der „Ästhetik“ des Philosophen studieren.

Die imponierende inhaltliche Spannweite von Hegels „Vorlesungen zur Ästhetik“ spiegelt sich auch in seiner relativ ausführlichen Behandlung der ägyptischen Skulptur wider, die, wie ein Blick in das Internet (Google) zeigt, auch heutzutage noch Interesse findet. Hegel kommt es offensichtlich darauf an, dieses Detail der Kunstgeschichte so gegenstandsnah und fachkundig wie möglich, etwa unter Einbeziehung damals aktueller Forschungsergebnisse  (z.B.: Raoul Rochette: „Cours d’Archéologie“, Paris 1828) zu vermitteln.[15]

Durch die systematische Anlage dieser Ästhetik zeigt sich aber sogleich, dass Hegel seinen Gegenstand aufgrund von Prämissen eines prononciert „abendländischen“ Kunstverständnisses behandelt: Da ihm die griechische Skulptur mit ihrer Apotheose des zwanglos auf sich selbst fußenden Menschen als anschauliches Paradigma von Schönheit überhaupt, theoretisch als das in die Erscheinung getretene „Ideal“, gilt, kann auch die ägyptische Skulptur nur in dieser Perspektive gesehen werden. Vigée weist zudem darauf hin, wie nachdrücklich Hegel sich bei seiner Charakteristik der ägyptischen Skulptur auf Johann Christian Winckelmann, den kunstgeschichtlichen  Exponenten des „Klassizismus“, beruft.[16]

Hegel stellt theoretisch die Weichen für eine solche Betrachtungsweise der ägyptischen Skulptur durch die Einführung des geschichtsphilosophischen Leitbegriffs, dem er die ägyptische, ja die orientalische Kunst insgesamt subsumiert: „symbolische Kunstform“. Mit einem kritischen Wohlwollen meint er die Kunst auf dieser geschichtlichen Stufe im Lichte der in Griechenland vollendeten Kunst, d.h. der „klassischen Kunstform“, behandeln zu können. Er sieht hier ein Streben nach Schönheit am Werke, das sich aber wegen einer noch allzu mächtigen Stofflichkeit nicht zu erfüllen vermag. Die „symbolische Kunstform“ soll sich also durch ein Über-Sich-Hinaus-Drängen zu einem erst ersehnten, aber noch nicht erreichbaren geistigen Gehalt kennzeichnen. Vigée, dem die ägyptischen Skulpturen aus dem Museum of Art in Boston vor Augen stehen[17], lehnt diesen Leitbegriff für die ägyptische Kunst entschieden ab. Anhand einer ausführlichen Zusammenstellung von Zitaten aus Hegels Ästhetik versucht er zu demonstrieren, wie sich der Philosoph sein Verständnis für die ägyptische Skulptur durch seine Orientierung an der griechischen Antike verstellt.[18] Er listet all die Defizite auf, die Hegel bei der ägyptischen Skulptur meint registrieren zu müssen: Defizite der „Grazie“, „Lebendigkeit“, „Freiheit“, „Geistigkeit“, „Wahrheit“, „Schönheit“, „Vernünftigkeit“, „Bewegung“, des „Ausdrucks“, der „Seele“…[19]

Aufschlussreich ist nun, wie Vigée gerade unter Zurückweisung dieser suggestiven ästhetischen Begriffe, also im Widerstand gegen Prämissen von Hegels Ästhetik, einen konstruktiven Ansatz für eine Charakterisierung der ägyptischen Skulptur entwickelt – und darüber hinaus auch Kriterien seiner eigenen Poetik formuliert. Es soll nun versucht werden, diesen Ansatz herauszuarbeiten.

Der Verzicht auf eine Vergeistigung von Materiellem, etwa Leiblichen, muss nicht, wie Hegel unterstellt, einer künstlerischen Selbstfesselung gleichkommen. Vielmehr könnte das, was zuvor noch gar nicht in seiner Fülle recht wahrgenommen wurde, eben auf diese Weise zur Geltung gebracht werden. Vigée erkennt bei der ägyptischen Kunst eine entsprechende Zielrichtung und charakterisiert diese als ein „immersion dans la réalité concrête“[20]. Die Intention zu einer Vergeistigung, Beseelung oder Veredlung des Materiellen ist ja womöglich nur Funktion seiner gewissen Verkennung. Nur weil man sich ihm nicht geduldig genug widmete, meint man es transformieren zu sollen. Demgegenüber kann die Umkehrung von Transformation: Restitution, dazu führen, eine sonst verborgene Souveränität des Materiellen oder des Dings hervorzukehren. Indem der Künstler sich selbst mit seinen Bestrebungen zur Umgestaltung, Verlebendigung und kreativen Selbstbestätigung zurücknimmt, tritt vielleicht das Ding mit seiner vorher noch unbekannten Macht allererst zutage. Die volle Präsenz des Phänomens implizierte insofern den Verzicht auf seine Modellierung im Sinne menschlicher Interessen.

Da hier also der Akzent eindeutig auf dem Materiellen oder Dinglichen auf Kosten des ‚Geistigen’ oder ‚Seelischen’ liegt, kann diese Kunstrichtung als Alternative zu derjenigen des Abendlandes erscheinen. Denn bei letzterer geht es ja, wie Hegel inständig einschärft, gerade um eine Assimilierung des Materiellen durch den Menschen.

Im Unterschied zur abendländischen Kunst, die sich der ‚Gestaltung’ verschrieben hat, könnte im Blick auf die ägyptische Kunst von ‚negativer Gestaltung’ gesprochen werden: Es soll durch die künstlerische Arbeit gerade das heraus geschält werden, was sich der Gestaltung entzieht. Gearbeitet wird hier nicht, um die Arbeit selbst oder gar den Arbeitenden in Szene zu setzen. Damit kommt die spezifisch abendländische Kategorie des „Werks“  in diesem Kontext gar nicht erst  ins Spiel. Der Mensch erscheint hier gerade nicht auf eine zugängliche, ansprechende, sondern auf eine unzugängliche, erhabene Weise. Dass das Sein des Menschen gerade nicht mit seinem Selbstverständnis zusammenfällt, soll offenbar werden.

Hegel spielt  auf die gelegentliche Vermischung von Menschlichem und Tierischem in der ägyptischen Skulptur an und  wertet sie zugleich im Lichte der griechischen Skulptur mit ihrem Ausdruck autonomer Geistigkeit als künstlerisch defizitär ab. Vigée bringt dieses Zitat in seinem Aufsatz, in der Übersetzung von S. Jankélévitch. Im Original heißt es:

Im ganzen mangelt  daher den Gestalten nicht nur die Freiheit und Lebendigkeit,

sondern dem Kopfe vornehmlich der Ausdruck der Geistigkeit, indem das Tierische vor-

waltet und dem Geiste zu selbständiger Erscheinung hervorzutreten noch nicht vergönnt. [21]

Diese Konfrontation des Menschen mit seiner ihm selbst nicht verfügbaren, schlechthin vorgegebenen, auch „religiösen“ Dimension kann, ja: soll überwältigen. Hegel bekommt solche Aspekte der ägyptischen Kunst, wie gesagt, durchaus in den Blick und vermag auch die passenden Termini dafür zu finden. Er verwendet etwa den Ausdruck „statarisch“, um das tendenzielle Bannen von Bewegung bei der ägyptischen Skulptur zu bezeichnen.[22] Sofern dieser Ausdruck darauf abzielt, die konsequente, beinah ehrfürchtige Konzentration des ägyptischen Künstlers auf das reine Dasein zu bezeichnen, kann er durchaus für die Analyse der ägyptischen Kunst taugen. Hegel führt auch die „Unbeweglichkeit“ der Skulpturen auf eine zugrunde liegende religiöse Konzeption zurück und grenzt sie damit von „bloßer Ungeschicklichkeit“ beim Künstler ab.[23] Schließlich spricht er vom „leblosen Ernst“[24] der ägyptischen Skulpturen. Durch „Ernst“ zeichnen sich diese Skulpturen deswegen aus, weil mit ihnen die vom Menschen selbst nicht veränderliche Dimension seiner Existenz zutage tritt. Wenn Hegel aber diesen Zug der Skulpturen im gleichen Atemzug als „leblos“ kritisiert, so offenbart er damit nur die spezifischen: „anthropozentrischen“ – zugleich: „eurozentrischen“–  Schranken seiner eigenen Ästhetik.

Vigée kommt es nun darauf an, die eigentümliche künstlerische Produktivität dieser ägyptischen Kunst, die sich dem Horizont Hegels weitgehend entzieht, zu zeigen. Er stellt heraus, dass der Verzicht auf Verlebendigung, Beseelung und Vergeistigung nicht, wie Hegel meint, auf eine künstlerische Kapitulation, sondern gerade umgekehrt – als ‚negative Gestaltung’– auf die Enthüllung einer  zuvor verkannten Substanz des Materiellen hinausläuft. Statt dass das Ding oder das Reale durch den Verzicht auf seine Assimilation durch den Menschen dem Nichts oder dem Chaos anheim fiele, vermag es unter diesen Bedingungen gerade von sich selbst her in Erscheinung zu treten. Vigée spricht hier von „Epiphanie“:

L’art égyptien de l’Ancien Empire est une monstrance du réel, l’appel obstiné aux choses

extérieures et aux actions dans l’espace, perçues comme la manifestation de l’être. Il constitue

une sorte d’épiphanie exubérante. [25]

„Epiphanie“ kann nun als Alternative zur „Sublimation“ verstanden werden. Sublimation ist Bedeutungsgewinn eines Dings durch seine Amputation. Die Epiphanie demgegenüber entspringt einer vollendeten Instandsetzung des Dings, die es aus seinem Objektstatus erlöst.

Die unendliche Fülle des geborgenen Seins soll seine Zeitlosigkeit garantieren. Dieses Streben nach einer Zeitlosigkeit, die der optimalen Aggregierung eines menschlichen Lebens entspringt, lässt Vigée an die Intentionen Prousts denken. Ihm  steht hierbei die Grabstätte des Pharao vor Augen, die ihm wie ein Mikrokosmos erscheint:

Le petit univers gravé et coloré de son nouveau palais lui est garant de la réalité, de la

plénitude de l’être, au-delà des frontières du temps. C’est là une préfiguration de l’intuition

proustienne qui lie le salut à la création artistique par le jeu évocatoire de la mémoire.[26]

Das, was in der abendländischen Ästhetik als das Äußere gilt, das einem vermeintlich höherwertigen Inneren gegenübergestellt wird, wird in diesem Falle so wenig zurecht gestutzt, dass der Gedanke an ein Inneres gar nicht erst aufkommen kann. Das „Innere“ ist hier nichts anderes als die (glanz-)volle Entfaltung des „Äußeren“.

Während es nach Hegel die vornehmste Aufgabe der Kunst sein soll, die dem Menschen gemäße Struktur der Wirklichkeit zu bezeugen, zielt die ägyptische Kunst umgekehrt darauf ab, die dem Menschen unverfügbare Dimension der Wirklichkeit herauszuarbeiten. Statt wie insbesondere die griechische Skulptur das Fremde im Eigenen möglichst zu tilgen, sucht sie das Fremde, als das dem Eigenen Zugrundeliegende – insofern vielleicht das „Ureigene“–, zur Geltung zu bringen. Da der Künstler ganz hinter seiner „statarischen“ Aufgabe verschwindet, vermag er das entstehende Werk auch nicht als sein Werk wahrzunehmen.

Im Lichte dieser Kunst der Unnahbarkeit könnte die griechische Kunst mit ihrer Freude über die göttliche Legitimation des Menschlichen und den menschlichen Zuschnitt des Göttlichen wie eine humane Selbstsuggestion erscheinen. Wenn Hegel den Unterschied zwischen der griechischen und der ägyptischen Skulptur als Unterschied zwischen einem niedrigeren und höheren künstlerischen Entwicklungsgrad versteht, so könnte sich diese Differenz aus der Perspektive der ägyptischen Kunst als Unterschied zwischen einer sich selbst zurücknehmenden und einer auftrumpfenden Kunst darstellen. Ohne das Schielen auf einen wünschenswerten: „schönen“ Einklang zwischen Natur und Geist hält sie den Menschen beharrlich in seinem ihm selbst unverfügbaren Dasein fest, wie es sich unmittelbar zeigt.

Vigée spricht hier von „Sein“ („l’être“), das sich ohne die Bestrebungen einer menschlichen Eigenmächtigkeit enthüllt. Das „réel“, Schlüsselbegriff seiner Poetik, meint dieses Dasein des Menschen, über das er sich vielleicht gern hinwegsetzen möchte, dem er aber verhaftet bleibt. Es handelt sich hierbei aber auch um einen Reichtum, den es nicht – „idealistisch“– zu verschleudern gilt. Vigée fragt sich, ob nicht das Leibliche, das nach Hegel durch eine untergründige geschichtliche Dialektik des Geistes zu sich selbst finden soll, letztlich gegenüber dieser Dialektik resistent bleibt. Diese Resistenz durch die Unterstellung eines verborgenen menschlichen Sinns überspielen zu wollen, entpuppt sich als Legitimierungsversuch für eine Kunst, in der sich der Mensch selbst zu spiegeln vermag.

Als Aufgabe seiner Kunst versteht es Vigée demgegenüber, das „Sein“ oder „Reale“ ohne den vermessenen Anspruch seiner Objektivierung zu vergegenwärtigen. In diesem Sinne bezeichnet er den Dichter einmal als „sculpteur du réel“[27]. Hiermit soll aber das Übersinnliche nicht „realistisch“ verleugnet, sondern dem Sinnlichen selbst als ihm eingeborene Möglichkeit

zugebilligt werden. Als konstitutives Prinzip einer Ästhetik oder einer Verhimmlung von Kunst kommt es jedenfalls für Vigée nicht in Frage.

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[1] Claude Vigée: „Solitude, Éros et vie créatice“. In: Claude Vigée: Danser vers l’abîme ou la spirale de l’extase.                Choix de poèmes et d’essais 1995-2004. Paris: Parole et Silence 2004, S. 153-181.

[2] Claude Vigée: Journal de l’été indien. Il n’y a pas de temps profane. Paris: Parole et Silence 2000 (zuerst Gallimard 1957).

[3] Claude Vigée: „Genèse de la sensibilité poétique moderne“. In: Claude Vigée: Pentecôte à Betléem. Choix d’essais, 1960-1987. Paris: Parole et Silence 2006, S. 109–139 (zuerst in: Claude Vigée: Les Artistes de la Faim. Essais critiques. Paris: Calmann-Lévy 1960).  

[4] Claude Vigée (Nr.1), S. 177.

[5] Ebd., S. 178.

[6] Ebd.

[7] Ebd.

[8] Ebd., S. 179.

[9] Sigmund Freud: „Wir glauben, die Kultur ist unter dem Antrieb der Lebensnot auf  Kosten der Triebbefriedigung geschaffen worden[…] Unter den so verwendeten Triebkräften spielen die der Sexualregungen eine bedeutsame Rolle; sie werden dabei sublimiert, d.h. von ihren sexuellen Zielen abgelenkt und auf sozial höher stehende, nicht mehr sexuelle, gerichtet.“ Sigmund Freud: „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“. In: Sigmund Freud: Studienausgabe Bd. 1. Hg. von Alexander Mitscherlich u.a. Frankfurt a. M.: Fischer 1969, S. 48. Vgl. auch zu dem Thema des Verhältnisses von Sublimation (bei Freud: „Sublimierung“) und Kultur seine Schrift: „Das Unbehagen in der Kultur.“ Siehe dazu neuerdings: Johanna Bossinade: „Theorie der Sublimation. Ein Schlüssel zur Psychoanalyse und zum Werk Kafkas“. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007.

[10] Claude Vigée (Nr.1), S. 179.

[11] Zur kritischen Auseinandersetzung Vigées mit der Psychoanalyse im Hinblick auf die Kunst vgl. Anne Mounic. (Es geht hier insbesondere darum, wie Vigée das psychoanalytische Verständnis von Symbolen in der Kunst kritisch diskutiert.) Anne Mounic: „La Poésie de Claude Vigée. Danse vers l’abîme et connaissance par joui-dire“. Paris: L’Harmattan 2005, S. 146.

[12] Claude Vigée (Nr. 2), S. 37-45.

[13] Ebd. Vgl. auch : Verf. „Unverhoffte Poesie-Poetik des Unverhofften. Studien zur Dichtung von Claude Vigée“. Hamburg: LIT-Verlag, 2007, S. 27-31.

[14] Anne Mounic: „C’est la culpabilité fonçiere de l’être qu’il faut, pour ce faire, éliminer, ce poids du péché originel qu’Augustin décrit[…] À l’inverse d’Augustin, Claude Vigée propose à l’être d’adhérer à lui-même[…]“. Anne Mounic (Nr. 11), S. 123. Claude Vigée verwendet in diesem Zusammenhang auch den Begriff der „récuperation ontologique“ (Claude Vigée Nr. 2, S. 45.) Dieser Begriff wird bei ihm zu einer oft gebrauchten Formel.

 

[15] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Ästhetik“ Bd. II. Hg. von Friedrich Bassenge. Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt o. J., S. 162.

[16] Ebd., S. 159-160; Claude Vigée (Nr. 3), S. 123.

[17] Claude Vigée (Nr. 3), S. 123.

[18] Ebd., S. 121-122.

[19] Hegel (Nr. 15), S. 160-162.

[20] Claude Vigée (Nr. 3), S. 124.

[21] Hegel (Nr. 15), S. 161.

[22] Ebd. , S. 159.

[23] Ebd., S. 160. (Hegel: „Mit dieser Unbeweglichkeit nun, die nicht etwa als bloße Ungeschicklichkeit der Künstler, sondern als ursprüngliche Anschauung von den Götterbildern und ihrer geheimnisvollen Ruhe anzusehen ist, verbindet sich zugleich die Situationslosigkeit und der Mangel an jeder Art der Handlung, welche sich in der Skulptur durch Stellung und Bewegung der Hände, durch Gebärde und Ausdruck der Züge kundgibt.“ Hegel hat also im Gegensatz zu Vigées entsprechender Kritik durchaus ein Bewusstsein von der „idée“ (Claude Vigée, Nr. 3, S. 123) der ägyptischen Kunst, disqualifiziert diese aber sogleich wegen ihrer Abstraktheit und der fehlenden Anlage zur sinnlichen Verlebendigung.)

[24] Ebd., S. 162.

[25] Claude Vigée (Nr. 3), S. 124.

[26] Ebd., S. 125.

[27] Diese Formulierung findet sich auf dem hinteren Klappentext zu dem Buch: Claude Vigée: Pentecôte à Bethléem (Nr. 3).