Rebecca Comay

Die begriffene Revolution

Zu: Rebecca Comay: Die Geburt der Trauer. Hegel und die Französische Revolution. [Paderborn]: Konstanz University Press 2018, 316 S.

Bei der Französischen Revolution handelt es sich um ein Geschehen, das zumindest prinzipiell auch in Deutschland auf der Tagesordnung steht – als Kronzeuge dafür wäre Comay zufolge Kant zu nennen  ̶  , das aber nur unter den spezifischen Bedingungen Frankreichs möglich wird. Das erklärt, warum man in Deutschland so intensiv an diesem Geschehen Anteil nimmt, als würde es sich im eigenen Lande abspielen. Neidvoll registriert man, wie in Frankreich eine geschichtliche Aufgabe in Angriff genommen wird, die sich im Grunde auch einem selbst stellt. Obwohl die Deutschen insofern an dem revolutionären Geschehen partizipieren, verfolgen sie es doch auch aus der Distanz eines in vielfacher Hinsicht anderen Landes. Sie nehmen nach Comay die Position von engagierten Beobachtern ein. Das hat zur Folge, dass man die Revolution auch besonders deutlich von einer Seite wahrnimmt, die den Revolutionären selbst wegen ihrer aktiven Involvierung in das Geschehen eher entgeht. Während diese Akteure noch ganz von ihrem Projekt beseelt sind, die gesellschaftliche Realität allein aufgrund der Vernunft umzugestalten, fallen den deutschen Beobachtern die Dissonanzen zwischen diesem Projekt und der Realität auf. Manche von ihnen neigen dann dazu, den Revolutionären eine hochmütige Missachtung der Realität, gar Verblendung zu bescheinigen, die das revolutionäre Projekt insgesamt diskreditiere. Obwohl Hegel wie seine Landsleute auch diese Kehrseite der Revolution im Blick hat, möchte er doch diesem geschichtlichen Projekt die Treue halten. Er registriert nicht nur die Hybris der Revolutionäre, sondern auch die Zukunftsblindheit ihrer Gegner. Aus seiner Sicht verkürzen diese die menschliche Existenz vielleicht noch mehr als die Revolutionäre mit ihrem Enthusiasmus für die Vernunft. Hegel sieht also die Verheerungen, die eine sich selbst absolut setzende Vernunft anrichtet, und zugleich die Verheißungen, die dem revolutionären Projekt innewohnen. Darauf im Respekt gegenüber dem geschichtlich Gewordenen zu verzichten, bedeutete für ihn, spezifische Möglichkeiten des Menschen, seine Autonomie, preiszugeben. Für ihn als Philosophen stellt sich also die Aufgabe, die Verheerungen der Revolution und ihre menschheitliche Sendung zusammenzudenken.

  Wie schon der Titel ihres Buches anzeigt (im Original: „Mourning Sickness. Hegel and the French Revolution“), greift Comay zu dem Begriff der Trauer, um die Eigenart von Hegels theoretischer Verarbeitung der Französischen Revolution zu kennzeichnen. Mit Hilfe dieses Begriffs meint sie, Hegels Verständnis der Revolution von demjenigen der Revolutionäre, Kants, der Konterrevolutionäre und der Romantiker abgrenzen zu können.

  Obwohl dem Gewordenen die geschichtliche Legitimität abgesprochen wird, soll es doch nicht einfach wie bei den französischen Revolutionären hochmütig annulliert werden. Verhindert werden soll, dass die Einsicht, sich mit einer gleichsam chirurgischen Energie vom Gewordenen trennen zu müssen, mit dessen Verdrängung einhergeht. Die Trauer verhilft dazu, dem Automatismus der Verdrängung zu entgehen. Zu trauern meint hier also, sich auf eine nichtideologische, reflektierte Weise zur geschichtlichen Notwendigkeit der Revolution zu verhalten. Statt sich wie die Revolutionäre einfach dieser Notwendigkeit zu verschreiben, stellt man sich auch den Verletzungen, die durch den Bruch mit dem Gewordenen zugefügt werden. Comay zufolge führt Hegel „das Scheitern der Revolution“ auf das „Scheitern der Trauer“ zurück. (S. 227) Sie greift überraschenderweise auf Hegels Interpretation von Sophokles‘ „Antigone“ in der „Phänomenologie“ zurück, um die abgründige Tiefe eines Bruchs mit lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten zu verdeutlichen. Wenn Kreon aus Staatsraison, nach Hegel im Namen des „menschlichen Gesetzes“, gegen den erbitterten Widerstand von Antigone die Bestattung von Polyneikes, des angeblichen Staatsfeindes, verweigert, so bricht er mit einer einzig auf Gefühlen, insbesondere der Pietät, beruhenden Kultur – von Hegel mit dem Begriff des „göttlichen Gesetzes“ umschrieben. Kreons Entscheidung dient zwar der menschlichen Zivilisation, genauer: der Polis, droht aber die Zivilisation insgeheim zu vergiften. Comay veranschaulicht dies, indem sie sie an den Verwesungsgeruch denken lässt, der dem Leichnam Polyneikes’ verströmt. (S. 117)

  Hegel wirft also insofern ein neues Licht auf die Französische Revolution, als er nicht nur die gleichsam vorzivilisatorische Dumpfheit des Gewordenen, sondern auch den revolutionären Trotz dagegen kritisch in den Blick nimmt. Er versucht die geschichtliche Legitimität der Revolution zu erweisen, indem er sie dem Selbstverständnis der Revolutionäre wie auch demjenigen ihrer Gegner entwindet. Auf einer neuen Reflexionsebene – nach Comay letztlich derjenigen des „absoluten Wissens“ – soll das möglich werden.

   Obwohl sich die Philosophie Hegels gerade in der historischen Periode der Restauration durchsetzt, hält sie doch, wie Comay zu Recht betont, einen kritischen Abstand zum Geist dieser Periode. Comay arbeitet heraus, wie sich der junge und der reife Hegel, d.h. der Hegel der „Phänomenologie des Geistes“ und derjenige der „Grundlinien zur Philosophie des Rechts“ unterscheiden. Einzigartig ist die „Phänomenologie“ deswegen, weil der philosophische Gedanke hier angesichts des Epochenumbruchs nicht mehr selbstgenügsam bei sich verharrt, sondern diese Unruhe, ohne von ihr übermannt zu werden, in sich aufnimmt. In der „Vorrede“ zur „Phänomenologie“ markiert Hegel selbst diesen Einsatzpunkt seines Denkens:

„Es ist übrigens nicht schwer zu sehen, daß unsre Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken, und in der Arbeit seiner Umgestaltung.“ [1]

  Statt also weiter die Welt von oben her zu betrachten, vollzieht Hegel nach, wie sich in der geschichtlichen Welt die unterschiedlichsten Gestalten der Wahrheit aneinander abarbeiten, um sich dann immer wieder als nicht haltbare Experimente zu erweisen. Was sich als definitiv aufspreizt, soll letztlich an seiner zunächst noch verborgenen Einseitigkeit zugrunde gehen. So wird offenbar, wie leicht der menschliche Geist aufgrund seiner eigenen Erfolge erblindet. Sich zu sich selbst zu befreien vermag er nur, wenn er, wie Hegel den Revolutionären und Kant vorhält, seine Selbstbefangenheit aufgibt und seinen schuldhaften Zusammenhang mit dem vermeintlich Überwundenen anerkennt. Solange er noch auftrumpfend in seinem Gegensatz zum Gewordenen und zur Natur verharrt, kann er seinerseits, wie der Terror der Französischen Revolution zeigt, zur entfesselten Natur werden. Wenn er sich selbst auf seiner höchsten Stufe, derjenigen des „absoluten Wissens“, erreicht hat, so blickt er nicht auf einen Reichtum mannigfaltiger kultureller Manifestationen, sondern nach Comay auf eine „Leere“ (S. 280), einen Haufen einander disqualifizierender Wahrheiten, zurück: „Tilgung, nicht Gedenken, ist das letzte Wort der Phänomenologie.“ (ebd.) Andererseits soll sich dadurch eine „radikale Offenheit der Zukunft und die radikale Auslöschung der verpassten Gelegenheiten“ (ebd.) ergeben. Die Zukunft wird deswegen zur reinen Herausforderung, weil ja alldem, woran man sich halten könnte: sei’s die Sicherheit des Altvertrauten, sei’s der Eigensinn der Vernunft, die Grundlage entzogen wurde.

  Während die „Phänomenologie“ von 1806 insofern wie ein Aufbruch zu neuen Ufern anmutet, spiegelt die vierzehn Jahre später entstandene Rechtsphilosophie das Bedürfnis nach einer Institutionalisierung bislang gewonnener Freiheiten wider. Hegels Auffassung von der geschichtlichen Immanenz der Vernunft bringt ihn nicht nur zu seinem pointierten Urteil über Napoleon („Weltseele zu Pferde“, S. 259 – 264), sondern auch zu seiner viel kritisierten Einschätzung des preußischen Staates. In diesem sollen ihm zufolge die bürgerlichen Freiheiten, die durch die Französische Revolution möglich geworden sind, auf eine historisch vorbildliche Weise rechtlich Gestalt angenommen haben. Allerdings weist Comay darauf hin, dass Hegel an diesem Modell eines Rechtsstaats mit Errungenschaften wie Zweikammerparlament, Rede- und Pressefreiheit, gar konstitutionelle Monarchie noch in dem Moment festhält, als es wegen der restaurativen politischen Entwicklung in Preußen nach Waterloo zur bloßen Fiktion zu werden droht. (S. 263-264)

  Dass sich die Deutschen so wenig vom Überschwang der Revolution anstecken lassen, führt Hegel auch auf ihre Prägung durch die Reformation Luthers zurück. Überhaupt gewinnt Comays Buch dadurch seine besondere Note, dass die Verfasserin recht gründlich auf Texte Luthers eingeht. (S. 39, 217 und 239) (In ihrer Danksagung am Schluss des Buches nennt sie auch die Historikerin Lyndal Roper von der Universität Oxford, die durch ihre Biografie Luthers von 2016 international bekannt geworden ist.) In diesem Zusammenhang fällt auf, wie stark doch Luther mit seinem notorischen Zweifel an der Nachhaltigkeit menschlichen Gelingens durch das Denken Hegels hindurchschimmert. Comay kehrt einen möglichen Subtext der Philosophie Hegels hervor, indem sie diese als eine Weise des „memento mori“ (S.270) charakterisiert. Wenn sie den Sprechakt der „Verzeihung“ (nicht „Vergebung“ wie im Text) aus der „Phänomenologie“ analysiert, so wird die Nähe zwischen Hegel und Luther besonders deutlich. Andererseits kennzeichnet sich das Denken Hegels nach Comay ja gerade dadurch, theologisches in philosophisches, also „weltliches“ Denken zu verwandeln. Nur gelegentlich soll sich dann Theologisches gegenüber dem Philosophischen vordrängen. (S. 248 -259)

  Die Reformation Luthers verhilft nach Hegel deswegen zu einer kritischen Distanz gegenüber der Französischen Revolution, weil sie der naturwüchsigen Fixierung des menschlichen Ich auf sich selbst entgegenwirkt. Während sich also die französischen Revolutionäre in ihren Enthusiasmus der Weltveränderung hineinsteigern, haben die Deutschen, jedenfalls die protestantisch geprägten, einen kritischen Blick für das Potenzial von Gewalttätigkeit hinter der Fassade dieser hohen Gesinnung. Sie erkennen, mit den Worten Comays, „die Wildnis […]im Inneren“. (S. 67) Verführerisch ist es nun in Deutschland, aus diesem Vermögen zum Durchblick eine geistige Überlegenheit gegenüber Frankreich herzuleiten. So entsteht, nach Marx und Engels, eine „deutsche Ideologie“, durch die eine politische Ohnmacht in eine geistige Übermacht umgedeutet wird. Schillers Gedichtfragment „Deutsche Größe“ von 1797 – von Comay allerdings nicht erwähnt – mag exemplarisch dafür stehen. Hegel scheint sich auf dieser Linie zu bewegen, wenn er in seiner „Phänomenologie“ im Übergang zwischen den Kapiteln „Der sich entfremdete Geist. Die Bildung“ und „Der seiner selbst gewisse Geist. Die Moralität“ vom Aufblühen philosophischen Denkens in Deutschland angesichts der Katastrophe der Revolution handelt: „[…]so geht die absolute Freiheit aus ihrer sich selbst zerstörenden Wirklichkeit in ein anderes Land des selbstbewußten Geistes über, […]“.[2] Nach Comay befördert er damit tatsächlich eine „deutsche Ideologie“. In dem Maße jedoch, wie er an dieser Ideologie mit zu stricken scheint, dekonstruiert er sie auch wieder: „Indem er die deutsche Ideologie analysiert, während er sie doch weiterhin pflegt, wird er sie schließlich von innen heraus sprengen.“ (S. 156) Pauschal gesagt: Das dialektische Denken, auf das sich eine „deutsche Ideologie“ berufen könnte, ist zugleich dasjenige Denken, das jegliche Ideologie unterminiert. In der „Phänomenologie“ jedenfalls praktiziert Hegel ein Denken, das eine Konsolidierung ideologischer Gebilde, wie sie im Laufe der Geschichte immer wieder aufkommen, verhindert. So versucht Hegel, um eine Formulierung Comays aufzugreifen, sein „ikonoklastisches Versprechen“ (S.280) einzulösen.

  Auf Seite vier des Buches findet sich die folgende Verlagsnotiz: „Rebecca Comay ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie an der University of Toronto“. Wenn es ein Fach geben sollte, das für die Fragestellungen von Comays Buch besonders aufgeschlossen wäre, so könnte das eigentlich nur die Komparatistik sein. Comay fördert innere Zusammenhänge zwischen Frankreich und Deutschland zutage, die sonst im Nebel nationaler Aufwallungen verschwinden. So bezieht Hegel in seiner „Phänomenologie“ implizit Stellung gegen einen um 1800 langsam aufkommenden  ̶ und später in den Befreiungskriegen voll ausbrechenden  ̶  Nationalismus, wenn er einen gleichsam arbeitsteiligen Zusammenhang zwischen Deutschland und Frankreich aufdeckt. Während Frankreich durch seine Revolution einen weltgeschichtlich notwendigen und kreativen Bruch mit der geschichtlichen Kontinuität vollzieht, vermittelt Deutschland diesen Bruch mit der geschichtlichen Erfahrung. In dieser Perspektive zeigt sich, wie sehr beide Länder miteinander verzahnt sind. Auf einer literaturgeschichtlichen Ebene wird dies etwa durch einen Text wie den „Neveu de Rameau“ von Diderot ganz anschaulich, der zwischen beiden Ländern hin und her wandert und den Hegel in seiner „Phänomenologie“ als Dokument einer frivolen Selbstzersetzung des Ancien Régime interpretiert. (S. 286)

  Comays Analyse kann zu der Einsicht führen, dass es sich bei den in der Epoche der Französischen Revolution zwischen Deutschland und Frankreich aufbrechenden Differenzen weniger um einen Konflikt verschiedenartiger Nationalitäten als vielmehr um Geburtswehen eines übergreifenden Projekts handelt, das man heute vielleicht ‚Europa‘ nennen würde. Das Gegeneinander erwiese sich insofern als ein verkapptes Miteinander. Comay befördert solche Einsichten vor allem durch einen inspirierenden Kommentar zu Hegels „Phänomenologie“ – ein Werk, das ja inmitten des Epochenumbruchs der Französischen Revolution entstanden ist. Gewundert habe ich bei meiner Lektüre nur, dass sich Comay ein Kapitel wie „Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels“ entgehen ließ. Dort durchleuchtet Hegel vorwiegend im Blick auf Deutschland ziemlich gnadenlos hochherzige und zugleich eitle Rebellen gegen den Absolutismus („Sturm-und-Drang“) und lässt sie wie etwas unbeholfene Verwandte der späteren Revolutionäre in Frankreich aussehen.

  Comays Buch ist besonders anregend für diejenigen, die sich mit Hegels „Phänomenologie“ auskennen und erhellend für alle anderen.

 Helmut Pillau   


[1] G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. von Johannes Hoffmeister. Hamburg: Meiner 1952, S. 15.

[2] Hegel: Phänomenologie, ebd., S. 422.