Eine Notiz zur Poetik von Jean-Paul de Dadelsen

Eine Notiz zur Poetik von Jean-Paul de Dadelsen

Der Elsässer Dadelsen (1913-1957) gehört zu den Dichtern, die sich bewusst der literarischen Öffentlichkeit entziehen, die aber trotzdem oder gerade deswegen anziehen. Er reagiert mit seiner Dichtung auf einen verborgenen Mangel der Literatur, der ihn selbst produktiv werden lässt. Sich auf seine Dichtung, insbesondere die Langgedichte „Bach en automne“ und „Jonas“, einzulassen, bedeutet dann auch, sich von dem Antiliterarischen seines Werks angezogen zu fühlen. Indem er das Gedicht als fertiges Gebilde, nach Baptiste- Marrey als „objet poétique“, unterminiert, entbindet er die sonst gedrosselte Energie der Dichtung. Man kommt von seinen Gedichten trotz ihrer Sperrigkeit deswegen nicht so leicht los, weil man sich sonst, wie man ahnt, bloß vor dem inneren Kraftstrom der Dichtung abzuschirmen suchte.

  Charakteristisch für seine Abgrenzung von der etablierten Literatur ist etwa, dass er den inneren Aufschwung, die Elevation, nicht wie allgemein üblich als Lebenselixier der Dichtung feiert, sondern eher problematisiert. Bereits in seiner frühen Jugend reagierte er allergisch auf Dichter, die ihr Dichtertum kultivierten.

  Literaten sind für Dadelsen Ideologen des Geistes, die sich unter Berufung auf Höheres vor der Befassung mit vermeintlich Niedrigerem drücken und damit letztlich auch den Geist verfehlen. Da seine Skepsis gegenüber der etablierten Literatur bei ihm zunächst zu einem völligen Rückzug aus der literarischen Öffentlichkeit führt, kann sie destruktiv wirken. Er bewegt sich nicht ohne Risiko auf der Grenzlinie zwischen einer erwartungsvollen und trotzigen Absage an die Literatur. Wenn er zu einem Dichter wird, den man wegen seiner sonstigen, durchaus erfolgreichen Aktivitäten ̶ etwa journalistischer oder politischer Art ̶ kaum als solchen wahrnimmt, so entspricht das jedenfalls seinem Selbstverständnis. Derjenige, der sich von der Dichtung, allerdings ohne sie zu vergessen, entfernt, steht ihr womöglich näher als derjenige, der sie anbetet. Der erstere wahrt zumindest die Möglichkeit einer Dichtung, die sich nicht als reine Dichtung gegenüber der Wirklichkeit abkapselt. So kann verhindert werden, dass die Dichtung, allgemein: die Kunst, sich selbst zur Falle wird.

  Mit seinem langen Gedicht „Bach en automne“ (1952-1955) wagt Dadelsen jedoch den Schritt in die literarische Öffentlichkeit. Wie wenig er der Elevation traut, lässt sich an der poetologische Maxime ablesen, die er inmitten dieses Gedichts formuliert:

„Avant qu’à la suite de son Soleil

 Hors de la tombe, de l’ordre, de la loi, l’âme éployée ne parvienne à jaillir.

 La terrre apprise avec effort est nécessaire.“

(In: Jean-Paul de Dadelsen. Jonas suivi de Les Ponts de Budapest et autres poèmes. Paris: Gallimard 2005, S. 25.)

  Meine Übersetzung dieser Stelle: „Bevor die Seele dahin gelangt, sich durch ihre eigene Sonne, unabhängig vom Grab, der Ordnung, vom Gesetz, zu entfalten, ist sie darauf angewiesen, die Erde gründlich kennenzulernen.“

  Indem Dadelsen an dieser Stelle seines Gedichts so grundsätzlich wird, kommt plötzlich seine tief eingewurzelte Abwehrhaltung gegenüber einer in sich kreisenden Literatur zum Vorschein. Er macht bewusst, wie leicht die verlockende Aussicht auf den poetischen Höhenflug auch zur Falle werden kann. Man meint, durch diesen Höhenflug die Konstituenzien der Menschenwelt – nach Dadelsen: „la tombe“, „l’ordre“, und „la loi“ ̶   entkräften zu können und versetzt sich doch nur in einen kurzfristigen Rauschzustand. Die ersehnte innere Befreiung kommt demnach nicht durch ihre Beschwörung, sondern nur durch eine Vertiefung in das dem Menschen Vorgegebene, nach Dadelsen: „la terre“, zustande. Während sich die Erde zuvor noch als Gegenmacht zum menschlichen Freiheitsstreben darstellt, entpuppt sie sich nun als Schutzmacht für den Menschen. Zur Partnerin geworden, verleiht sie ihm Flügel. Die Seele (Dadelsen: „l’âme“) gewinnt also auf paradoxe Weise ihre Freiheit, sobald die Erde vom Menschen nicht mehr selbstherrlich ignoriert wird.

  Als Dadelsen etwa auf das erhabene Orgelspiel Bachs in seinem Gedicht zu sprechen kommt: „la futaie de l’orgue“ („der Hochwald der Orgel“) (Ebd., S. 29), nimmt er auch den Totengräber in den Blick, der sich als Kirchendiener mit noch schlammigen Schuhsohlen und mit gekrümmtem Rücken am Blasebalg der Orgel abmüht. Das äußere Nebenbei der Kunst auszublenden, bedeutet für Dadelsen, sich von der Kunst verblenden zu lassen. Jedenfalls hat sich ein so großer Künstler wie Bach am wenigsten für die Kunst selbst interessiert.

(Hinweisen möchte ich auf meinen Text: „Dichter im Widerstand gegen die Hegemonie der Sprache: Jean-Paul de Dadelsen und Claude Vigée“. Übersetzung von Martine Blanché: „Poètes en résistance contre l’hégémonie de la langue: Jean-Paul de Dadelsen et Claude Vigée.“ Veröffentlicht in: der Revue „Peut-Être“, N° 11/ 2020)

Helmut Pillau