Christoph Hein – Rezenssion
Christoph Hein: Gegenlauschangriff. Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege, Suhrkamp, Berlin, 2019
Der Autor nennt die kurzen Prosastücke seines Buches „Anekdoten“ und bezieht sich damit respektvoll auf die „Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege“ des von ihm hochgeschätzten Heinrich von Kleist. Der Leser wird hier nicht wie beim Roman in die womöglich unendliche Komplexität eines Geschehens hineingezogen, sondern durch die Pointe einer kurzen Form elektrisiert. Ursprünglich hatte Hein, Kleist variierend, als Haupttitel für das Buch „Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege“ vorgesehen. Dieser Titel lässt schon vermuten, dass Hein mit den Pointen seiner Prosastücke jeweils neuralgische Stellen berühren dürfte. Es geht ihm tatsächlich in dem größten Teil der insgesamt achtundzwanzig Prosastücke darum, die verborgenen Dissonanzen in der offiziellen „Erfolgsgeschichte“ der deutschen „Wiedervereinigung“ hervorzukehren. Der letztliche, vom Verlag durchgesetzte extravagantere Titel „Gegenlauschangriff“ verweist dagegen wie die meisten von zwölf der „Anekdoten“ auf spezifische Konflikte innerhalb der DDR, insbesondere auf Spannungen zwischen einer tendenziell allmächtigen Staatsmacht und den Künstlern. So berichtet Hein in dem Stück „Gegenlauschangriff“ davon, wie der prominente Schauspieler Manfred Krug den Staatssicherheitsdienst gleichsam mit dessen eigenen Mitteln zu überlisten suchte. Als nämlich in seiner Wohnung eine Diskussion zwischen hohen Staatsfunktionären und Künstlern über das politisch hochbrisante Thema der Ausbürgerung von Wolf Biermann stattfindet, nimmt er diese Diskussion heimlich auf. Die sechzehn Stücke, die sich meist um eine tatsächliche, aber uneingestandene Diskriminierung von DDR-Bürgern während der Vereinigung beider deutscher Staaten drehen, sind demgegenüber nicht nur von einem historischen Interesse.
Obwohl die Bürger aus dem Osten denjenigen aus dem Westen prinzipiell gleichgestellt sind, werden sie doch in Wirklichkeit oft wie Hilfsbedürftige oder Zurückgebliebene behandelt. Die Westdeutschen fühlen sich überlegen: Sie meinen ja, sich mit der Demokratie und insbesondere einer international konkurrenzfähigen Wirtschaft bestens auszukennen.
In dem längsten Stück des Buches: „Der Neger“ schildert Hein, wie er selbst einmal mit seiner Stigmatisierung als Bürger der ehemaligen DDR konfrontiert wurde. Als ihm 2004 überraschend der Intendantenposten für das das in Berlin sehr renommierte „Deutsche Theater“ angeboten wird, scheint das eherne Gesetz des Elitenaustauschs zwischen Ost und West durchbrochen zu werden. Die Widerstände gegen seine Kandidatur sind jedoch so erheblich, dass sich ein Scheitern abzeichnet. Sarkastisch äußert sich Hein in einem Interview dazu: „‘ […] aber die Empörung ist groß, wenn ein Neger Intendant werden soll.‘“ (S. 113) Eigentlich galt er aber schon in der DDR, nur unter einem ganz anderen Vorzeichen, als „Neger“ : Als Pfarrerssohn, dem als solchem in der DDR der Weg zum Abitur versperrt war und der deswegen zeitweilig die Oberschule in West-Berlin (vor dem Mauerbau 1961) besuchte, gehörte er, der Romancier und Dramatiker, sicherlich nicht zu den von der Obrigkeit besonders geschätzten Autoren.
Sensibel registriert Hein, wie Leute aus dem Osten seit der Wende oftmals schleichend entmündigt werden. Er beobachtet aber auch, wie sich Bürger der untergehenden DDR im Konsumrauch selbst entmündigen. (Vgl. das Stück „Einen fetten machen“)
Ein Unmut beginnt zu schwelen, der unter den Bedingungen des Systemwandels nicht recht zur Sprache kommen kann. Dass es Hein in seinem Buch vor allem auf solche Dissonanzen ankommt, zeigt das abschließende Stück „Verwachsen“. Er formt hier das Wort „zusammenwachsen“ aus dem berühmten Ausspruch Willy Brandts ̶ nun wachse zusammen, was doch zusammengehöre ̶ gallig in „verwachsen“ um. Statt das „zusammen“ grundsätzlich zu verneinen, wehrt er sich aber nur gegen seine vernebelnde Propagierung.
Signifikant für die gewisse Hast bei der Vereinigung beider deutscher Staaten war etwa, dass auf eine gemeinsame Wiederaneignung des „Grundgesetzes“ verzichtet wurde. Das „Grundgesetz“ galt ja ursprünglich wie auch der westdeutsche Staat nur als Provisorium. So sollte es bei entsprechender Gelegenheit nach Artikel 146 aufgrund einer gemeinsamen Beratung zur „Verfassung“ für das größere Deutschland fortentwickelt werden. Das passierte gerade nicht. Hein kommt zwar in seinem Buch darauf nicht zu sprechen. Er solidarisiert sich jedoch in seinem Buch mit denen, die durch die Dynamik des Wandels ihre Geltung verlieren, die aber trotzdem, auch unabhängig von allem Wandel, etwas gelten.
Helmut Pillau
- Frank Witzel
- Rebecca Comay