LTI Klemperer

Sprachliche Strategien zur Betäubung der Vernunft.

Victor Klemperers Buch „LTI“ als Wegweiser für die politische Sprache der Gegenwart.

Helmut Pillau

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Der Druck, unter dem Victor Klemperer als Jude im Dritten Reich und als zwangsweise emeritierter Professor für Romanistik in Dresden lebte, war enorm. Überleben konnte er nur dank seiner „arischen“ Ehefrau. Indem er sich kontinuierlich in seinem Tagebuch mit den immer schlimmer werdenden Lebensumständen auseinandersetzte, konnte er sich zumindest mental behaupten. Als Literaturwissenschaftler reagierte er besonders sensibel auf die betäubende Sprache der Nationalsozialisten. Er begann, typische Prägungen dieser Sprache zu registrieren und fasste den Entschluss, daraus ein Buch zu machen.[1] „LTI“: „Lingua Tertii Imperii“, d. h.: Sprache des Dritten Reiches, sollte es heißen. Nachdem er den Krieg mit viel Glück überlebt hatte, begann er sofort mit dem Schreiben des Buches. Bereits 1947 erschien es.

  Erstaunlich ist, wie lang die Wirkung dieses Buches andauert. Vielleicht sind Sie schon bei der Lektüre von Zeitungsartikeln über die Verrohung der politischen Sprache in der Gegenwart auf  Zitate aus diesem Buch gestoßen.[2] Es blieb aber nicht nur ein Buch für Spezialisten. Bislang hat es eine Gesamtauflage von ca. 400 000 Exemplaren erreicht ̶ ohne Berücksichtigung der Übersetzungen. In der DDR, wo es zuerst erschien, wurde es fast zu einem Kultbuch.[3] In der Bundesrepublik rezipierte man es dagegen nur zögerlich. Hier gab es ein Gegenstück zu Klemperers Buch: „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“, verfasst von drei Autoren.[4] Im Unterschied zum Buch Klemperers ist es vergriffen. Die Autoren üben in selbstständigen Essays Stilkritik an der Sprache in der Bundesrepublik. Sie decken Spuren des Nazi-Jargons auf und prangern Einflüsse einer dehumanisierenden Verwaltungssprache an. Klemperer dagegen geht es nur um eine Bestandsaufnahme der Nazi-Sprache. Verhindern möchte er, dass geläufig gewordene Wendungen dieser Sprache gedankenlos weitergebraucht werden. Klemperer ist jedoch nicht nur akademischer Sprachpädagoge, sondern auch Zeitzeuge. Als „Erlebnisbuch“[5] bezeichnet er sein Werk und unterscheidet es damit von einer trockenen sprachwissenschaftlichen Untersuchung. Dadurch wird es einmalig.

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Klemperer gibt einem Kapitel seines Buches den Titel: „Grundeigenschaft: Armut“.[6] Das nationalsozialistische Regime verheißt, die deutsche Kultur und Sprache aufblühen zu lassen. Was die Sprache betrifft, tritt nach dem Urteil Klemperers genau das Gegenteil ein: Schrill, monoton, plakativ und uniform wird sie.  Die mangelnde Geduld der Machthaber für die Sprache lässt sich pauschal damit erklären, dass Sprache und Handeln kurzgeschlossen werden. Das (faschistische) Primat des Handelns gegenüber der Sprache dürfte aber nicht nur auf Kosten der Sprache, sondern letztlich auch auf Kosten des Handelns gehen: Handeln ten- diert zur blinden Aktion. Die Sprache ihrerseits wird dabei gehemmt, sich kommunikativ und fragend voll zu entfalten.   So droht sie atemlos zu werden.   

  Besonders drastisch tritt dies in der politischen Öffentlichkeit zutage. Als Kriterium für den Wert der Rede gilt nicht mehr ihre Richtigkeit, sondern in extremer Weise ihre Wirkung. Alles andere, auch die Fakten, darf vernachlässigt werden.[7] Dem Redner sollte es nur darauf ankommen, die Massen durch seine aufpeitschende Rede und einprägsame Sprachbilder zu fesseln. Goebbels war Klemperer zufolge derjenige, der dafür im Dritten Reich das „alleingültige Sprachmodell“[8] schuf. Das einfachste und erfolgreichste Mittel dieser Rhetorik bestand darin, von der Großartigkeit und Einzigartigkeit des deutschen Volkes zu schwärmen. Entsprechend berauscht, schlossen die Deutschen ihre Augen vor der Wirklichkeit und ließen fast alles mit sich machen. Klemperer nennt die „Beschwörung“[9]  Hauptzweck der öffentlichen Rede. Sie zielte darauf ab, den Zuhörer oder auch Leser in einen Zustand gläubiger Trance zu bringen. Es ging nicht mehr darum, den Anderen zu Äußerungen zu bewegen, sondern nur noch darum, ihn sprachlos zu machen. Statt etwas zu sagen, hatte er nur noch zu jubeln. Letztlich sollte er zur Tat, zum Mitmarschieren oder Dreinschlagen aufgestachelt werden. Wenn die Rede in „Beschimpfungen“[10], insbesondere der Juden, gipfelte, war dieses Ziel besonders schnell zu erreichen. Wie wenig die humanisierenden Möglichkeiten der Sprache noch geachtet wurden, verriet die Konjunktur bestimmter Wörter. Klemperer bezeichnet z. B. „blindlings“ als ein „Pfeilerwort der LTI“.[11] Dieses Wort lebt gleichsam aus der Scham darüber, bloß Wort und noch nicht Tat zu sein. Dem an die Seite zu stellen sind Wörter wie „stur“ – Klemperer zufolge Hitlers wichtigster Beitrag zur deutschen Sprache[12]   , „schlagartig“[13],  und – positiv umgedeutet  ̶  „fanatisch“[14] und „brutal“[15].  All diesen Wörtern ist gemeinsam, den Menschen in einen Zustand aktionslüsterner Besessenheit zu versetzen. Wie sehr die Sprache im Dritten Reich an den Rand ihres Verstummens gebracht wird – sei’s zugunsten der Tat, der gläubigen Hingabe oder des Gefühls ̶  ,zeigen diese Wörter exemplarisch. Besonders signifikant für diese Engführung von Wort und Tat in der Nazi-Sprache ist Sprachwissenschaftlern zufolge der Sprechakt Befehl, dem Handeln auf dem Fuße zu folgen hat.[16]

  In dem Maße, wie die Sprache unter dem Druck der Aktion verkümmert, wird auf nonverbale Beeindruckungen Wert gelegt. Klemperer spricht etwa von der „maßlosen Prahlerei [der] Prunkbauten“, den Idealgestalten der Soldaten auf den Plakaten und von den Autobahnen. Er meint dazu: „Das alles ist Sprache“ [17], womit er die Auffassung von Sprache innovatorisch erweitert.[18]

  Dass die Sprache nicht zum Nachdenken, sondern ohnmächtigen Anstaunen bewegen soll, bezeugen inflationäre Superlative wie „unvorstellbar“, „zahllos“, „hundertprozentig“ [19], „total“[20], „ewig“, „gigantisch“[21]. Das Wort kapituliert hier mit seinen erschließenden Möglichkeiten vor der Sache, die eigentlich zu erschließen wäre. Es macht Platz für das sprachlose Gefühl.    Klemperer gibt einem Kapitel seines Buches den Titel „Der Fluch des Superlativs“.[22]

  Fein finde ich seine Beobachtung, dass in der Sprache des Dritten Reiches der Unterschied zwischen geschriebener und gesprochener Sprache eingeebnet wird.[23] Die schriftliche Sprache soll durch die angeblich natürlichere mündliche Sprache in ihre Schranken gewiesen werden. Die erwünschte Nebenwirkung davon ist, den Spielraum für systematisches Denken einzuschränken. Um so mehr bleibt Raum für pure Rhetorik.

 Das Hauptziel der Sprache im Dritten Reich formuliert Klemperer folgendermaßen: „Das Gefühl hatte das Denken zu verdrängen, […]“.[24] Er reagiert höchst allergisch, wenn der Gedanke unter der Übermacht des Wortes begraben zu werden droht.

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Klemperer registriert bereits 1933 mit Unbehagen, wie sich das Wort „Volk“ in der politischen Sprache des Dritten Reiches breit zu machen beginnt. Die Nationalsozialisten verwenden es so häufig wie das Salz beim Essen, formuliert er flapsig.[25] Unbehaglich wird ihm dabei deswegen zu Mute, weil dieses Wort alle anderen Wörter und Begriffe in seinen dichten Dunst einzuhüllen droht. So unschuldig es mit seinen romantischen Anklängen daherkommt, so sehr kann es sich auch totalitär aufblähen. Die Aura dieses Wortes macht es aus, ein warmes Gefühl von Zusammengehörigkeit und Geborgenheit auszustrahlen. Das will man sich nicht durch kritische Nachfragen verderben lassen. So erkennt Klemperer, wie gerade mithilfe dieses Wortes „das Instinktive und Suggestionshörige“[26] in die politische Sprache einzudringen vermag. Davon zeugen zahlreiche Komposita mit „Volk“, die man in dem Buch „Vokabular des Nationalsozialismus“ finden kann.[27] Wie Begriffe durch ihre Kombination mit dem Wort „Volk“ ihrem rationalen Kern nach liquidiert werden können, demonstriert Klemperer anhand des Begriffs des Rechts. Am 7. 3. 1942 notiert er in seinem Tagebuch:

„LTI: volksnahes Recht. Hierzu die Definition: ‘Recht ist, was meinem Volk nutzt.‘ Ferner der Anspruch: Die Partei repräsentiert das Volk. So verwandelt ‚volksnah‘ den Begriff des Rechtes als des Ausgleichs der Ansprüche in sein Gegenteil.“[28]

Vom Recht ist zwar noch die Rede. Da aber die Distanz zwischen „Volk“ und „Recht“ schwindet, droht das „Recht“ vom „Volk“ und seinen Exponenten wie von einem Wal verschlungen zu werden. Dass es in der Rechtsprechung nunmehr eher um die Aushebelung von Recht geht, wird durch die Nationalsozialisten unverblümt zum Ausdruck gebracht. Davon zeugt der Terminus „gesundes Volksempfinden“. Offen wird gesagt, dass bei der Befolgung dieses Gefühls das „formale Recht“ bzw. „Gesetze“[29] eher im Wege stehen. Roland Freisler der spätere Präsident des „Volksgerichtshofs“, sagt auch, wie das „gesunde Volksempfinden“ auszulegen ist. Hierfür maßgeblich sei nicht das „tatsächliche Volksempfinden“, sondern seien die Aussagen des „Führers“.[30] Eine Gewaltenteilung würde da nur stören.

  An diesem Beispiel lässt sich die Wirkungsweise der Sprache im Nationalsozialismus, wie Klemperer sie analysiert, ablesen: Das Wort soll durch „ständige Gefühlsbetonung“[31]  den Gedanken lahmlegen. Die Einsicht, der Gedanke könne nur durch das Gefühl erstarken, führt hier zu der Konsequenz, den Gedanken im Gefühl zu ertränken.

  Diese Leitidee Klemperers kann uns auch dabei helfen, einen schärferen Blick für das Wiederaufleben des Wortes „Volk“ in der politischen Sprache unserer Gegenwart zu gewinnen. Dieses Wort spielte in der Bundesrepublik etwa bis 2015, also bis zur sogenannten Flüchtlingskrise jedenfalls im offiziellen Rahmen eine eher untergeordnete Rolle. Das Prinzip der „repräsentativen Demokratie“ in der Bundesrepublik besagt ja, dass das Volk seine Macht nur auf mittelbare Weise, durch die Wahlen, das Parlament und die staatlichen Institutionen, zur Geltung bringt. Das Volk direkt politisch ins Spiel zu bringen, bedeutete demzufolge, die repräsentative Demokratie in Frage zu stellen.

  Anders verhielt es sich mit dem anderen deutschen Staat, der DDR. Dort operierte man gern mit dem Wort „Volk“, um das nahtlose Verhältnis zwischen den staatlichen Institutionen sowie der Wirtschaft einerseits und den Bürgern andererseits herauszustreichen. Ich denke hier an Komposita wie „Volksarmee“, „Volkskammer, „Volkspolizei“ und „VEB“, d. h. „Volkseigener Betrieb“. Dass es sich bei der Einheit von Regierenden und Regierten eher um eine Fiktion handelte, sollte in der Endphase der DDR, also um 1989 herum, offenbar werden. Wenn nun die Demonstranten mit dem Slogan: „Wir sind das Volk“ durch die Straßen zogen – ursprünglich ein Slogan der Revolution vom 1848  ̶ , so erhoben sie trotzig ihren Anspruch auf politische Mitwirkung. Etwa fünfundzwanzig Jahre später, d. h. 2015, war dieser Slogan bei den Demonstrationen der „Pediga“-Bewegung in Dresden wieder zu hören. Nun wurde er aber in einem ganz anderen Sinne verwendet. Es ging nicht mehr darum, eine fehlende politische Mitwirkung einzuklagen, sondern darum, sich als Deutsche gegenüber Nichtdeutschen in Stellung zu bringen. Man schürte die Angst, dass durch die zahlreichen Flüchtlinge der Wohlstand und die kulturelle Identität des deutschen Volkes auf dem Spiel stehen würden. Wörter wie „Volkstod“ und „Umvolkung“[32], die dem nationalsozialistischen Vokabular entstammten, kamen wieder in Umlauf. Indem diese Wörter Panik auslösten und das Denken lähmten, verhalfen sie Gefühlen wie Hass und Wut zum Durchbruch. Diesem Vokabular war auch das Wort „Volksverräter“ bzw. „Volksschädling“ entnommen.[33] Da ein solcher Mensch den Lebensnerv des eigenen Volkes antastete, meinte man sich alles ihm gegenüber erlauben zu können. Er wurde gleichsam vogelfrei. Suggeriert wird hier, sich in einer Notstandssituation zu befinden, die extreme Aktionen der Notwehr erlaubt – ein Nährboden für Terroristen wie den „NSU“ („Nationalsozialistischer Untergrund“). In der aufgewühlten Situation von Chemnitz Ende August/ Anfang September (2018) zog übrigens die rechtspopulistische Bewegung „Pro Chemnitz“ wieder mit dem Slogan „Wir sind das Volk“ durch die Straßen.[34]  

  Es hat sich damit gezeigt, welch destruktive emotionelle Energien das Wort „Volk“ auch heutzutage noch zu entbinden vermag. Beim Umgang mit ihm muss man also aufpassen, nicht von ihm verhext zu werden. Dass davor selbst evangelische Pfarrer nicht gefeit sind, zeigt der Fall von Gerd Frey, ehemals Pfarrer in Gaußig, Landkreis Bautzen in Sachsen. Darüber wurde in der Zeitschrift „Chrismon“ im Juli 2018 berichtet.[35]

  Seine Ansicht, dass Völker lieber unter sich bleiben sollen, versucht der Pfarrer theologisch zu begründen. Er deklariert: „‘Völker sind Lieblingsgedanken Gottes.‘“ [36] Diese These frappiert, weil sie einer Heiligsprechung des Phänomens „Volk“ gleichkommt. Das „Volk“ wird damit auf eine solche, eben sakrale Höhe gehoben, dass jede Beeinträchtigung seiner Integrität, etwa durch eine Vermischung mit anderen Völkern, wie ein Sakrileg erscheinen muss. Offensichtlich ist es doch allzu verführerisch, die Liebe zu Gott und die Liebe zum eigenen Volk zu einer trüben Brühe zu verrühren. In dieser Hinsicht steht uns die Bewegung der „Deutschen Christen“ im Dritten Reich als warnendes Beispiel vor Augen. Der Pfarrer Frey sollte an die „Barmer Theologische Erklärung“ vom 31. Mai 1934 erinnert werden, in der sich die Anhänger der „Bekennenden Kirche“ gegen eine Erhebung weltlicher „Mächte“ in einen überweltlichen Rang wandten. Ich zitiere aus dieser Erklärung:

„Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“[37]

Pfarrer Frey scheut sich sogar nicht, aus seinen theologischen Thesen politische Konsequenzen zu ziehen. „Die Politik wage es, ‚eine Disposition über das Heimatland der Deutschen durchzuführen und Einwanderung zuzulassen, mit Rechtsbrüchen, […]‘“[38]. Die pathetische Rede vom „Heimatland der Deutschen“ wie auch vom göttlichen Ursprung des „Volkes“ hat alles Zeug dazu, unkontrollierbare und gefährliche Gefühle zu wecken. Sie lässt sich kaum noch von der Rhetorik der Nationalsozialisten unterscheiden.

  Hellhörig musste man auch werden, als Frauke Petry, die ehemalige Vorsitzende der AfD, für eine Rehabilitierung des Wortes „völkisch“ warb.[39] Dies ist ein tückisches Wort, weil sich hierin die Wärme eines Gemeinschaftsgefühls unmerklich zur Kälte der Fremdenfeindschaft verkehrt.

  Gerade weil Wörter wie „Volk“ und „Heimat“ so gefühlsstark sind, stehen sie in einem heiklen Verhältnis zur Politik. Statt sich an den Verstand zu richten, lösen sie Gefühle aus: Erfahrung von Nähe, familiäre Ungezwungenheit, glückliches Wiedererkennen, Nostalgie… Die Politik dagegen kennzeichnet sich durch ihren Praxisbezug. Das Kriterium der Machbarkeit steht für sie im Vordergrund. Ihr Versuch, Wörter wie „Volk“ und „Heimat“ programmatisch zu vereinnahmen, kann nur zur Überdehnung der Politik führen. Das Wort „Heimat“ bietet ein gutes Ruhekissen für den Verstand.  Verfliegt nicht gerade der Zauber dieses Wortes, wenn man es scharf ins Auge fasst? In diesem Lichte muss etwa eine politische Institution wie ein „Heimatministerium“ suspekt wirken. Da es etwas verwaltet, was sich gar nicht verwalten lässt, scheint es sich um ein Ministerium zu handeln, das undurchsichtige, zumindest aber unübersichtliche Ziele verfolgt.[40]

  Der Politiker, der sich zum Anwalt für Volk und Heimat aufschwingt, steigert sich zum Überpolitiker. Prinzipiell meint er sich alles erlauben zu können. Den Rechtsstaat betrachtet er nur noch als Fessel. Er handelt nach der Devise: ‚Der einzelne ist nichts und das Volk ist alles‘, wobei er sich selbst als Verkörperung des Volkes betrachtet.

  Wenn Hitler in den ersten Jahren seiner Herrschaft „Volkskanzler“[41] genannt wird, so hat das einen subversiven Hintersinn. Die bisherigen Kanzler hatten sich primär gegenüber dem Staat und den Gesetzen zu verantworten. Wegen seines unmittelbaren Verhältnisses zum Volk fühlt sich der „Volkskanzler“ dem enthoben. Seine absolute Souveränität soll sich dann in dem Titel: „Führer“ widerspiegeln. Beim „Führer“ wird unterstellt, dass alle Willkür, die er sich erlaubt, dem Volkswillen entspricht. Das Verhältnis zu ihm ist nicht nur politischer, sondern auch emotioneller, gar religiöser Art.[42] Man sollte nicht die Augen davor verschließen, dass heutzutage ähnliche, d. h. autokratische Modelle in verschiedenen Ländern – auch in den USA und neuerdings in Brasilien –zunehmend Anklang finden.

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Oft wird Klemperers Formulierung zitiert, wonach Wörter wie „winzige Arsendosen“[43] wirken können. Er arbeitet hier heraus, auf welche Weise sich Wörter gefährlich verselbstständigen, die zunächst nur als sprachliche Würze dienen mochten. Ein Paradebeispiel dafür ist das Kapitel mit dem Titel: „Fanatisch“.[44] Dieses Wort fanden die Nazis wahrscheinlich deswegen so anziehend, weil es den Rahmen eines kultivierten bürgerlichen Verhaltens sprengte. Gut provozieren konnte man damit. Da jedoch dieses Außenseiterwort im Dritten Reich dauerhaft präsent war, schien es einen allgemeingültigen Wert zu bezeichnen. „Fanatisch“ wurde gleichbedeutend mit „tugendhaft“. So verkehrte man den ursprünglichen Sinn von Tugend in sein Gegenteil. Als tugendhaft galt      nicht mehr die Anstrengung, moralischen Ansprüchen gerecht zu werden, sondern gerade umgekehrt, sich von solchen Ansprüchen zu emanzipieren. Generell:  Sobald man die eigenen, instinktiven Impulse bewusst kultiviert, wird man faschistisch. Wie eine sprachwissenschaftliche Untersuchung von 1940 zeigt, scheint sich die positive Umdeutung von „fanatisch“ damals erstaunlicherweise auch im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt zu haben:

„‘So werden z. B. die Ausdrücke hart, unduldsam, fanatisch heute im allgemeinen nur im positiven Sinne verwendet, Bezeichnungen wie nachsichtig, duldsam dagegen im negativen Sinne.‘“[45]

Obwohl diese sprachliche Perversion nach 1945 schnell wieder verflog, kann sie uns doch darüber aufklären, wie bislang verbindliche zivilisatorische Standards verbal unterminiert werden. Wir beobachten, dass solche Übereinkünfte oftmals nur auf eine anscheinend spielerische Weise, mithilfe kecker Formulierungen, in Frage gestellt werden, um dann unter dem Eindruck dieser Formulierungen  ̶   schlimmstenfalls – zu zerfallen. Die sprachlose Verblüffung, die nach der verbalen Provokation einkehrt, wird durch den Provokateur dazu genutzt, sprachlich die Oberhand zu gewinnen.  Versuche dieser Art werden heutzutage öfter gestartet. Ich erinnere hier an die Formulierung: „nur ein Vogelschiss“, mit der Alexander Gauland von der AfD die Rolle des Dritten Reiches angesichts einer angeblich erfolgreichen tausendjährigen deutschen Geschichte zu relativieren suchte.[46] Erinnert werden kann auch an die Diskussionen um die Wörter „Asyltourismus“, „ Asylinvasoren“, „Anti-Abschiebeindustrie“,  „Volkskörper“, „Kopftuchmädchen“, „Messeremigranten“ sowie „Schuldkult“.[47] Was zunächst nur wie ein sprachlicher Gag wirken mag, mausert sich womöglich zum politischen Ernstfall.

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 Bemerkenswert finde ich, wie sich der Sachse Klemperer ausgerechnet mithilfe des Berliner Dialekts von den Zumutungen der Sprache des Dritten Reiches zu erholen sucht. Das zieht sich durch das ganze Buch und findet seine Krönung im Nachwort. Dort feiert er eine Berlinerin, die auf seine Frage nach den Gründen für ihre überstandene Inhaftierung lapidar antwortet: „Wejen Ausdrücken.“ [48] Ins Gefängnis kam sie, weil sie mit ihrem frechen Mundwerk auf die geschwollene Redeweise der Nazis reagierte. Aus einem solchen Impuls heraus war auch Klemperers Buch entstanden. Deswegen wählte er ihre flapsige Antwort als Titel für das Nachwort seines Buches.

  Indem Klemperer sich mit der Berlinerin solidarisierte, sprach er indirekt auch über sich selbst. Wie sie war auch er deswegen vor Pathos und Rhetorik gefeit, weil sprachliche Exaltiertheit bei ihm von vornherein unter dem Verdacht des Schwindels stand. Der Spott über diejenigen, die sich zum Heroischen emporschwangen, lag ihm genau so nahe wie der Berlinerin. Statt sich zu Höhenflügen philosophischer oder spiritueller Art zu erheben, begnügte er sich mit der erfahrbaren Seite der Dinge. So wurde seine geistige Welt von kritischer Nüchternheit und einem prosaischen Geist bestimmt. Dazu passte seine Vorliebe für die französische Aufklärung, seinem wichtigsten Forschungsgebiet in der Romanistik. Dagegen hegte er starke Vorbehalte gegenüber der deutschen Romantik. Ziemlich voreilig und auch auf widersprüchliche Weise brachte er sie in einen direkten Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus: „[…] die deutsche Wurzel des Nazismus heißt Romantik…“[49]. Wie aber aus seinem erstaunlich offenherzigen Tagebuch hervorgeht, hatte er einen fast selbstkritischen Blick für seinen Rationalismus. Stolz darauf meinte er deswegen nicht sein zu können, weil ihm dieser Rationalismus wie ein Rettungsring für sein mentales Überleben unter extremen Zeitumständen vorkam. Eine weniger rationale, also emotionellere Haltung hätte lebensgefährlich sein können. Seine eher unsinnliche und skeptische Geistesart musste er seiner Einschätzung nach auch mit Defiziten bezahlen: Für „Frömmigkeit, die geheimnisvolle Wirkung eines Klangs oder Rhythmus, einer Geste oder Zeremonie“[50]  fehlte ihm der rechte Sinn. So scheint mir auch seine Sicht der Sprache in dem Buch daran zu kranken, dass er das Expressive und die sinnlichen Qualitäten der Sprache primär unter einem negativen Aspekt, als Widersacher des Denkens, nicht aber als Elementarbedingungen der Sprache versteht.  Dass die Rhetorik nicht nur zur Unterdrückung des Gedankens, sondern auch zu seiner Gestaltung dienen kann, scheint er zeitweise zu vergessen. Die Sprache droht bei ihm auf ihr prosaisches Existenzminimum eingefroren zu werden.  Diese Einseitigkeit musste sich wohl im Rahmen des Dritten Reiches ergeben, angesichts einer auf Überwältigung hin angelegten Sprache. Unter diesen Bedingungen kam es zunächst nur darauf an, die sprachlichen Überspannungen der Nationalsozialisten mit Scharfsinn zu parieren.

  Sich in der Politik seinen Gefühlen, Ressentiments und seinem nationalen Egoismus zu überlassen, fällt viel leichter als sich an der Vernunft zu orientieren. So gesehen verlockt ein Faschismus mit seiner Einförmigkeit eher als eine Demokratie mit ihrer organisierten Vieldimensionalität. Ihn für endgültig überwunden zu halten, wäre also fahrlässig.[51] Victor Klemperer versetzt uns dazu in die Lage, auf sprachliche Anreize für gefährliche  politische Enthemmungen schneller zu reagieren.

 Vortrag zum 9. 11.  2018 („Reichspogromnacht“), veranstaltet von den beiden christlichen Kirchen und dem Forum: „Kultur und Politik“.            


[1] Vgl. den Bericht Klemperers über die Entstehung des Buches: Victor Klemperer: Tagebücher 1940- 1941. Hrsg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer. Berlin: Aufbau-Verlag 2006, S. 117-120. (23. 6. – 1. 7. 1941).

[2] Z. B.: Flucht und Wortverbrechen. Wie Politiker durch Sprache ihre wahren Ziele tarnen – eine Analyse von Stefan Hebel. Frankfurter Rundschau, 4. 7. 2018, S. 3. Sowie: Dagmar Leupold: Die Hetzwörterindustrie. Ebd., 13. 7. 2018, S. 27.

[3] Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Nach der Ausgabe letzter Hand herausgegeben und kommentiert von Elke Fröhlich. Stuttgart 2015 (26. Auflage).

[4]Dolf Sternberger, Gerhard Storz, W. E. Süskind: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Frankfurt a.M., Berlin: Ullstein 1986.  

[5] LTI (wie Nr. 3), S. 409.

[6] Ebd., S. 29 -34. Vgl. auch: Horst Dieter Schlosser: Sprache unterm Hakenkreuz. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2013, S. 393-403.

[7] Der Linguist Konrad Ehlich spricht in diesem Zusammenhang von „propositionale(r) Reduktion“ bzw. „Komplexitätsreduzierung“. Derselbe: Über den Faschismus sprechen – Analyse und Diskurs. In: Sprache im Faschismus. Hrsg. von Konrad Ehlich. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 22.

[8] LTI (wie Nr. 3), S. 32.

[9] Ebd., S. 33.

[10] Klemperer: Tagebuch (wie Nr. 1), S. 120. (23. 6.- 1. 7. 1941).  

[11] LTI (wie Nr. 3), S. 173.

[12] „Hitlers entscheidendster Beitrag zur Sprache.“ Klemperer: Tagebuch (wie Nr. 1), S. 140 (6. 3. 1939).,

[13] Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin, New York: de Gruyter 1998, S. 558- 559.

[14] LTI (wie Nr. 3), S.70-75; vgl. auch Schmitz-Berning (wie Nr. 13), S. 224- 228.

[15] Schmitz-Berning (wie Nr. 3), S. 129-130.

[16] Johannes Volmert: Politische Rhetorik im Nationalsozialismus. In: Ehlich (wie Nr. 7), S.148 sowie ebenda, S. 24.

 Vgl. auch: „Diese Reden zielten […] auf ein spezifisches Zum-Schweigen-Bringen, aus dem heraus zur Handlung geschritten werden könnte.“ Claudia Schmölders: Hitlers Stimme. Das rhetorische Attentat oder: Zur auditorischen Seite der Politik. In: Frankfurter Rundschau 20. 11. 1999, S. ZB 3.

[17] LTI (wie Nr. 3), S. 20.

[18] LTI (wie Nr. 3), S. 337 (Anmerkung zu S. 20. 14 f.)

[19] Ebd., (wie Nr. 3), S. 243 und 245.

[20] Schmitz-Berning (wie Nr. 13), S. 611 – 612.

[21] Ebd., S. S. 273- 274.

[22] LTI (wie Nr. 3), S. 241-251.

[23] Ebd., S. 32-33.

[24] Ebd., S. 274-275.

[25] Ebd., S. 41.

[26] Klemperer: Tagebuch (wie Nr. 1), S. 85 (23. 5. 1938).

[27] Schmitz-Berning (wie Nr. 13), S. 642 – 679.

[28] Klemperer: Tagebuch (wie Nr. 1), S. 40 – 41 (7. 3. 1942).

[29] Schmitz-Berning (wie Nr. 13), S. 270 (Stichwort: „gesundes Volksempfinden“).

[30] Ebd., S. 271.

[31] LTI (wie Nr. 3), S. 270.

[32] Vgl. z. B.: Anatol Stefanowitsch: Eine Frage der Moral. Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen. Berlin: Duden-Verlag 2018, S. 9 und 63.

[33] Schmitz-Berning (wie Nr. 13), S. 671 – 672.

[34] Der französische Soziologe Didier Eribon – bekannt geworden durch sein Buch: „Retour à Reims“ (2009) – meint in einem Interview: „Ich bin gegen die Idee eines linken Populismus mit seinem Begriff vom ‚Volk‘. Wie wir im Moment merken, kann ein Slogan wie ‚Wir sind das Volk‘ von jedem benutzt werden, mit jedweder Agenda.“. „Ich bin ja nicht Heidegger.“ […] Ein Gespräch mit dem Soziologen Didier Eribon. In: FAZ Sonntagszeitung 30. 9. 2018, S. 44. 

[35] Nils Husmann: Wer denkt anders? In: Chrismon 07. 2018, S. 17 – 19.

[36] Ebd., S. 18.

[37] Die theologische Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen vom 29.- 31. Mai 1934. In: Evangelische Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau. Frankfurt a. M.: Spener 2004, Nr.810.

[38] Chrismon (wie Nr.35), S. 19.

[39] Stefanowitsch (wie Nr. 32), S. 10.

[40] Dies spiegelt sich auch in den Schwierigkeiten wider, die man bei der Einrichtung der „Abteilung Heimat“ im Innenministerium unter Horst Seehofer zu haben scheint. Vgl. den Artikel: „Abteilung Heimat sucht Personal“ von Markus Decker in der Frankfurter Rundschau vom 27./28. 2018, S. 5. Vgl. dazu auch die Kontroverse um die Einrichtung dieser Abteilung, ausgelöst durch einen Artikel von Ferda Ataman für die „Amadeu Antonio-Stiftung“. Darüber in der FAZ vom 13. 6. 2018: „Das Heimatministerium sei vor allem ‚Symbolpolitik für rechte Wähler.‘“ (http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/integrationsgipel-se…) Horst Seehofer sagte daraufhin seine Teilnahme an dem „Integrationsgipfel“ ab.

[41] Schmitz-Berning (wie Nr. 13), S.665 – 667.

[42] Inwiefern die Begriffe „Volk“ und „Politik“ inkongruent sind, zeigt eine bizarre Kontroverse zwischen Robert Habeck, dem Vorsitzenden der „Grünen“ und Politikern der AfD. Dass das „Volk“ auf der politischen Ebene nicht fassbar sei, bringt Habeck  polemisch auf den Punkt: „Es gibt kein Volk.“ Darauf meinen die Politiker der AfD, Habeck wolle das deutsche Volk abschaffen. Dieser erwiderte, zwar sei das deutsche Volk als ethnische Einheit auf der politischen Ebene nicht existent, wohl aber als politische Einheit, als „Staatsvolk“. Offensichtlich geht es ihm darum, die Politik gegenüber der Suggestivität des Wortes „Volk“ zu immunisieren. Jan Grossarth: Robert Habeck will sich selbst und uns alle abschaffen. In. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 13. 5. 2018, S. 2. Vgl. dazu neuerdings auch: Robert Habeck. „Wer wir sein könnten“. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2018 sowie das Interview von Simon Rayss mit Robert Habeck: „Die Sprachlosigkeit der Demokraten“. In: Süddeutsche Zeitung, 8. 10. 2018, S. 12.      

[43] LTI (wie Nr. 3), S. 26.

[44] Ebd., S. 70 – 75.

[45] Schmitz-Berning (wie Nr. 13), S. 228.

[46] Benedict Neff: Die AfD ist die Verharmlosung des Nationalsozialismus. In: Neue Zürcher Zeitung, 2. 6. 2018 (https://www.nzz.ch/international/die-partei-der-verharmlosung – des…).

[47] Ein Gutachten des Rechtswissenschaftlers Philipp Saul hat innerhalb der AfD zu einer Diskussion über das Risiko geführt, derartige Ausdrücke zu gebrauchen. Vgl.: Philipp Saul: „‘Wir halten an unserem Programm uneingeschränkt fest‘“. In: Südddeutsche Zeitung, 5. 11.2018.(https://www.sueddeutsche.de/politik/2.220/afd-Verfassungssch…) 

[48] LTI (wie Nr. 3), S. 318- 321. Andere Bezugnahmen auf das Berlinische: ebd. S: 105,106, 143; außerdem Klemperer: Tagebuch (wie Nr. 1), S. 52 (15. 4. 1943).

[49] LTI (wie Nr. 3), S. 165. Vgl. auch: S. 151, 161, 240.

[50] Klemperer: Tagebuch (wie Nr. 1), S. 111.(1. 9. 1944). Vgl. auch: „Alles was mystisch und philosophisch ist, verstehe ich nicht.“ Ebd., S. 22 (28. 1. 1943).

[51] Konrad Ehlich: „Die historische Analyse läßt es als unwahrscheinlich erscheinen, daß der Faschismus mit dem Scheitern seiner Ausprägungen in der ersten und der Mitte dieses Jahrhunderts sein Ende gefunden hat. Er bleibt eine historische Möglichkeit, um das Mindeste zu sagen.“ Ehlich (wie Nr. 7), S. 30.