Frank Witzel
Frank Witzel: Direkt danach und kurz davor. Berlin: Matthes & Seitz 2017
Helmut Pillau
Vielleicht gibt es eine stillschweigende Übereinkunft unter Romanautoren, sich nur insoweit auf Brüche im Leben einzulassen, wie man sie sprachlich in den Griff bekommt. Die Eigenart des Autors Frank Witzel – zugleich Musiker und Zeichner, 1955 in Wiesbaden geboren – würde es insofern ausmachen, eine solche Übereinkunft aufzukündigen. So tut er viel dafür, dass sich der Leser nicht mehr wie in einem konventionellen Roman von der Sprache tragen lassen kann: Figuren, an die man sich gewöhnt hat, verschwinden für lange Zeit und tauchen dann plötzlich wieder auf; angesichts überhand nehmender Ungewissheiten greift man gern zu den eingestreuten philosophischen Aphorismen wie zu Rettungsringen; statt der erwarteten Klärungen werden dem Leser geradezu höhnisch Absurditäten geboten, die jedoch wegen ihrer ungebremsten Metastasierung Aufmerksamkeit erregen; der Wahnsinn der allgemein vorherrschenden Rationalität manifestiert sich in einer Figur wie dem wissenschaftsfanatischen Professor Siebert; Märchen drohen unter wuchernden Anmerkungen verschüttet zu werden…
Der Autor bringt die Sprache deswegen in eine solche Schieflage, weil er ihr nicht zutraut, dasjenige, worauf es wirklich ankommt, zu erreichen. Dass sie ihr inneres Maß verloren hat, ist dem Autor zufolge auf die Permanenz zerrüttender Überspannungen durch den Nationalsozialismus zurückzuführen. So umschifft sie nach dem Kriege das eigentlich Brisante mit oberflächlichen Informationen oder überspielt dieses Brisante mit hochtönenden Phrasen. Man kann mit ihr etwa so über die Shoah reden, als ob es einen selbst nichts anginge. Das Ungeheuerliche bleibt nebulös. So wird zu Beginn des Romans viel über die Existenz eines Lagers gemutmaßt, das sich in der Stadt befunden haben soll.
Der Autor macht die Erfahrung, dass es sich bei der glatten Explikation eines Gedankens nur um dessen Verwässerung handelt. Zum Schatten seiner selbst geworden, passt er. An die Stelle einer letztlich leerlaufenden Zielstrebigkeit treten bei Witzel deswegen verschiedene, miteinander konkurrierende oder einander ergänzende Diskurse. Polyphonie verhindert, dass der Gedanke oder das poetische Wort hegemonial werden.
Es leuchtet unmittelbar ein, dass unter diesen Bedingungen die Sprache selbst zu einem Thema des Romans werden kann. Sie erscheint mit ihrer „symbolischen“ Ordnung zugleich als Schutzraum und Gefängnis: Die Schrift stabilisiert die Sprache um den Preis ihrer Erstickung. (S. 360) Eine Allianz zwischen Sprache und Realität kann also der Autor nicht mehr voraussetzen. Da es ihm aber gerade um die Realität geht, muss sich sein Schreiben in ein selbstreflexives Schreiben verwandeln.
Misstrauisch hinterfragt er das Komplementärverhältnis von Frage und Antwort. Die Antwort, die gewöhnlich auf die sich stellende Frage gefunden wird, beruht auf der erfolgreichen Verdrängung dieser Frage, nicht aber auf deren wirklicher Beantwortung. (S. 540- 541.) Das kennzeichnet auch recht gut den ideologischen Horizont der deutschen Bundesrepublik nach dem Kriege.
Auch die Zeitenfolge hält dem kritischen Blick nicht stand. Vergangenheit und Gegenwart säuberlich zu scheiden, wird als Trick einer gegenwartshörigen Sprache bloßgestellt. Man meint sich dadurch etwas vom Halse schaffen zu können, was doch in Wirklichkeit eine tiefere, noch virulente Schicht der Gegenwart bildet („das riesige unbekannte Dahinter“, S. 336). Der Titel des Buches: „Direkt danach und kurz davor“ peilt dies an. Unbeschwert „heute“ zu sagen, kommt deswegen nicht in Frage, weil „gestern“ immer noch nicht vorbei ist. Eine bedrückende Unentschiedenheit breitet sich aus. Gefasst sollte man also darauf sein, dass dasjenige, was man als Vergangenheit (weg)definiert hat, die Gegenwart, die man zu beherrschen meint, noch bestimmt. Den Autor spielt etwa auf das seltsame Versagen der deutschen Behörden bei der Aufklärung von Terrorakten des „NSU“ („Nationalsozialistischer Untergrund“) an. (S. 230)
Die Eigenart dieses Buches wie auch seines berühmt gewordenen Vorgängers: „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ („Deutscher Buchpreis 2015“) macht es aus, sich in das mit Ingrimm hinein zu wühlen, was in der deutschen Gesellschaft nach dem Kriege unerledigt geblieben, vertagt oder bis heute verdrängt worden ist. (Davon zeugt übrigens auch das 2017 vom Bayerischen Rundfunk produzierte Hörspiel Witzels: „Die apokalyptische Glühbirne“.)
Statt selbst entwirren zu können, begnügt sich der Autor mit quälenden Irritationen. Mehr als sonst üblich hängt das Gelingen des Romans von der Stimulation und dem Weiterdenken des Lesers ab. Entfällt dies, so bleibt wie bei manchen anderen avantgardistischen Projekten nur eine bizarre Hülle oder ein Knäuel von Fraglichkeiten übrig.
- Maxime Alexandre – Peut-être
- Christoph Hein – Rezenssion