Anno Domini 1933
„Anno Domini 1933“. Zu dem Gedichtzyklus „Das Wort der Stummen“ von Gertrud Kolmar.
Helmut Pillau
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Wenn wir heutzutage dem Gedicht „Anno domini 1933“ aus dem Zyklus „Das Wort der Stummen“ von Gertrud Kolmar begegnen, so irritiert uns schon der Titel. Ausgerechnet 1933, das Unheilsjahr in der deutschen Geschichte, wird hier mit einem christlichen Vorzeichen versehen! Wir wissen, dass die Dichterin dieses Gedicht am 16. Oktober 1933 schrieb.[1] Erstaunlich ist also, wie schnell sie auf das damals sich abzeichnende fatale Zusammenspiel zwischen Teilen der evangelischen Kirche und dem Nazi-Regime reagierte. Kurz vorher, am 27. September 1933, war ja der Pfarrer Ludwig Müller, ein Parteigänger der „Deutschen Christen“, auf der Nationalsynode in Wittenberg zum „Reichsbischof“ gewählt worden. Sarkastisch und mit Kraftworten prangert Gertrud Kolmar am Schluss des Gedichts die offiziell beschworene Symbiose von Christentum und Nationalsozialismus an: „Ein Stiefeltritt, ein Knüppelstreich. / Im dritten, christlich-deutschen Reich.“[2] „Das ‚christliche Abendland‘ lässt seine Maske fallen!“ ̶ zu einem solchen Ausruf könnten diese deftigen Worte provozieren.
Erstaunlich ist aber nicht nur diese schnelle Reaktion der deutschen Jüdin auf das Zeitgeschehen, sondern überhaupt eine solche offensichtlich politische Lyrik. Nichts in ihrem bisherigen Schaffen hatte nämlich auf die Möglichkeit eines derartigen Engagements hingedeutet.
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Bei dem Namen „Kolmar“, mit dem sie als Dichterin auftritt, handelt es sich um einen Künstlernamen. Amtlich hieß sie „Chodziesner“, abgeleitet aus dem Namen einer Kreisstadt in der preußischen Provinz Posen. Von dort stammte die Familie ihres Vaters. Später wurde diese Stadt in „Kolmar“ umbenannt.[3] Eben diesen Namen wählte die Dichterin für ihre Veröffentlichungen. Im Dritten Reich wurde es Juden verboten, Pseudonyme zu verwenden. So musste sie sich als Autorin wieder „Chodziesner“ nennen, hinter dem Vornamen mit dem erzwungenen Zusatz: „Sara“. Geboren wurde sie 1894 in Berlin, wo sich ihr Vater, später ein renommierter Rechtsanwalt, niedergelassen hatte. Wie bei vielen, gut integrierten Juden damals üblich, war in ihrer Familie der innere Bezug zum Judentum, vor allem in religiöser Hinsicht, weitgehend verloren gegangen. Auch Gertrud Kolmar fühlte sich ganz in der deutschen Kultur zu Hause, interessierte sich aber im Unterschied zu den anderen Familienangehörigen schon früh für das Judentum. Aber erst nach 1933 sollte sie sich damit identifizieren ̶ allerdings fern aller Orthodoxie. Schon seit ihrer Jugend schrieb sie Gedichte, ohne sich aber um deren Publikation viel zu kümmern. Geschätzt wurde sie von wenigen Kennern. Heutzutage nennt man sie in einem Atemzug mit anderen deutsch-jüdischen Autorinnen, die alle, sei‘s durch die Geburt, sei’s ihre Vita, der Stadt Berlin eng verbunden waren. So formuliert Thomas Sparr, ein guter Kenner von Gertrud Kolmars Oeuvre: „Gertrud Kolmar ist heute keine Unbekannte mehr, sowenig wie Else Lasker-Schüler oder Nelly Sachs, die ein leuchtendes deutsch-jüdisches Dreigestirn am dunklen 20.-Jahrhundert-Himmel über Berlin bilden.“[4]
Erhellend ist, wie sie sich selbst in ihrem Gedicht: „Die Unerschlossene“ darstellt. Der Titel enthält bereits in nuce das ganze Gedicht. Blitzartig wird hier das Missverhältnis zwischen den reichen Möglichkeiten eines Menschen und seiner Außenwahrnehmung ins Licht gerückt. Im ersten Vers meldet ein Ich, über das man schnell Bescheid zu wissen meint, trotzig seinen Anspruch auf Unerschöpflichkeit an: „Auch ich bin ein Weltteil.“[5] Abgeschlossen wird das Gedicht mit der Strophe:
„Über mir sind oft Himmel mit schwarzen Gestirnen, bunten Gewittern,
In mir sind lappige, zackige Krater, die von zwingendem Glühen zittern;
Aber auch ein eisreiner Quell und die Glockenblume ist da, die ihn trinkt:
Ich bin ein Kontinent, der eines Tages stumm im Meere versinkt.“[6]
Das Ich hat sich darauf eingestellt, mit seiner inneren Fülle unentdeckt zu bleiben. Was in ihm steckt, kommt öffentlich nicht zur Geltung. Das Bewusstsein seiner schroffen Integrität genügt ihm aber. Allerdings: Solange das inflationäre Aufschließen und Sich- Vernetzen nur ins Leere führen, lässt zumindest das Unerschlossene noch hoffen.
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Auch in der Geschichte der deutschen Literatur ist der Gedichtzyklus „Das Wort der Stummen“, den ich Ihnen heute vorstellen möchte, einzigartig. Niemand außer Gertrud Kolmar hat so schnell, sensibel, expressiv und realitätsnah in dichterischer Form auf den Abgrund reagiert, der sich mit dem Jahr 1933 in der deutschen Geschichte auftut. Am wenigsten war dies von einer Dichterin wie Gertrud Kolmar zu erwarten, die in ihren bisherigen Gedichten mit Motiven wie Blumen, Tieren, Stadtwappen oder auch der Polarität der Geschlechter umgegangen war. Auch ihr Vater, mit dem sie nach dem Tod ihrer Mutter in einem Haus am Rande von Berlin („Finkenkrug“, Teil von „Falkensee“) zusammenlebte, meinte wie viele andere das politische Treiben der neuen Machthaber nicht so ernst nehmen zu müssen. Allerdings hätten ihn Vorkommnisse innerhalb der eigenen Familie alarmieren können. So wurde der Arzt Georg Benjamin, ein Cousin Gertrud Kolmars, am 8. April 1933 als Kommunist in „Schutzhaft“ genommen; am 4. Juli 1933 kam er in das Konzentrationslager Sonnenburg.[7] Walter Benjamin, der jüngere Bruder von Georg Benjamin und später so berühmt werdende Philosoph, hatte Deutschland bereits kurz nach der „Machtergreifung“ Hitlers am 30. Januar 1933 verlassen und hielt sich seit März in Paris auf. Deutschland sollte er niemals wieder betreten.[8] Sehr wahrscheinlich ist, dass Gertrud Kolmar nicht zuletzt durch diese Ereignisse dazu motiviert wurde, ganz im Gegensatz zu ihrer bisherigen Poetik politisch engagierte Gedichte zu schreiben.
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1933 scheint sich Gertrud Kolmar zu sagen: So wie ich bislang gedichtet habe, kann es nicht mehr weitergehen. Wenn ich so weitermachen würde, würde sich meine Dichtung als Ausflucht vor der Not der Zeit diskreditieren. Die vordringlichste Aufgabe für einen Dichter müsste es doch jetzt sein, denjenigen, die durch die Folter mundtot gemacht wurden, eine Stimme zu geben. In diesem Sinne wird auch meist der Titel ihres Zyklus „Das Wort der Stummen“ verstanden. Auf der anderen Seite weiß Gertrud Kolmar genau, dass die Sprache nur lebendig bleibt, wenn sie nicht bestimmten, auch ganz ehrenwerten Zwecken untergeordnet wird und sie sich stattdessen bereitwillig gärenden, auf keine Zwecke reduzierbaren Inhalten öffnet. So erlaubt sie der Sprache in ihren Gedichten sonst abrupte, surrealistisch anmutende Bildsprünge, die jedoch im Unterschied zur expressionistischen Lyrik ihrer Zeit in strenge Formen mit einem Reimschema eingebunden bleiben. Die Glut soll zwar intensiv erfahrbar, aber nicht zum offenen Feuer werden. Manche Interpreten vergleichen diese Lyrik mit einem Rubin.
So gerät Gertrud Kolmar angesichts der ihr auch persönlich nahekommenden politischen Herausforderungen in einen Zwiespalt. Dieser spiegelt sich aber nicht nur durch die Sonderstellung des Zyklus in ihrem Gesamtwerk, sondern auch innerhalb des Zyklus selbst wider. Nur sieben der insgesamt 22 Gedichte reagieren direkt auf die politische Situation.[9] Eingerahmt werden sie von Gedichten, wie man sie von ihr kennt. Töne der Trauer, der Wehmut und einer religiös anmutenden Besinnung herrschen hier vor. Häufig drehen sie sich um das Motiv des ungeborenen Kindes, das Gertrud Kolmar wegen einer erzwungenen Abtreibung in ihrer Jugend immer wieder beschäftigt. Die Trauer über das gestorbene Kind und seine liebevolle Vergegenwärtigung in der Imagination amalgieren sich hier auf eigentümliche Weise. Dann gibt es etliche Gedichte, die man als Brücken zwischen den unpolitischen und den politischen Gedichten betrachten kann. Der Zwiespalt zwischen einer zeitenthobenen und einer politisch engagierten Lyrik spiegelt sich aber nicht nur in der Anlage des Zyklus, sondern auch in einzelnen Gedichten wider. Sie werden gleichsam zum Schauplatz einer Zerreißprobe. Ich denke hier an die Gedichte „Die gelbe Rose“ und „Die Gefangenen“. Bei dem zuerst genannten Gedicht scheint es sich auf den ersten Blick um einen Nachzügler eines früheren Gedichtzyklus zu handeln, der Sonette über verschiedene Rosensorten umfasst.[10] Ganz auf der Linie dieser Gedichte liegt es anscheinend, wenn in den ersten Strophen über eine quasi kommunikative Begegnung zwischen dem Menschen und der Rose meditiert wird. Indem sich das Ich gegenüber der Rose öffnet, kommt diese auch dem Ich entgegen. Nunmehr den Zwängen seiner Identität enthoben, wird es ganz in die Sphäre des Friedens und der Humanität mit aufgenommen: „Umschmiegt mich willig und achtet nicht, wer ich bin, /Woher unter finsteres Haar mein rotes Blut gesprungen.“[11] Das lyrische Ich sinniert sogar, dass die Gesetze der Zeit unter der sanften Dominanz der Rose aufgehoben sein könnten: „Und ist, mag sein, dem Kranz des ewigen Todes entfallen, […]“.[12]
Der Leser fühlt sich wie vor den Kopf geschlagen, wenn in der letzten Strophe dieser Frieden durch den jähen Einbruch der Realität zerstört wird. Die Erfahrung einer humanen Utopie wird durch „heiligen Spott“ [13] hinweggefegt. Herrenmenschen beherrschen mit ihrer animalischen Präsenz die Szene und suchen sich selbst durch die Herabsetzung anderer zu erhöhen: „Und ob sie wiehern und stampfen wie stolz gezüchtete Pferde, / Der Nordmann besser sich preist als Jude und Hottentott […]“[14]. Anstelle der gelben Rose hat man plötzlich die Horden der SA vor Augen, die brüllend durch die Straßen ziehen. Die neuen Herren begnügen sich nicht nur mit dem Terror, sondern versuchen auch die Transzendenz für ihre Zwecke einzuspannen: „Und der Priester im engen Himmel ihm [dem Nordmann] schafft einen neuen Gott – „[15] . „Eng“ wird der Himmel deswegen, weil er den Interessen des eigenen Landes angepasst wird. Gertrud Kolmar scheint hier wieder auf den Versuch der Nazis anzuspielen, die evangelische Kirche mithilfe der „Deutschen Christen“ für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Auch heutzutage kann man Tendenzen zu einer nationalistischen Verfärbung des Christentums registrieren, nämlich bei einer neuen Partei wie der AfD. Ein Theologe meint dazu: „So wird aus dem Gott Jesu Christi ein Nationalgott.“[16]
Während der Leser bei diesem Gedicht durch den Titel in die Irre geführt wird, scheinen die Dinge beim Gedicht „Die Gefangenen“ klar zu liegen. Dieses Gedicht beginnt aber anders als es sein Titel und die vorangestellte Jahreszahl „1933“ erwarten ließen. In den beiden ersten Strophen wird liebevoll die Zeit der Ernte im Herbst geschildert. Diese Jahreszeit erfreut uns durch „einen großen Korb voll praller Tomaten, / Voll blauer Pflaumen, mit Apfel und gelber Birne.“[17] Ein Knabe lässt seinen Drachen steigen, eine „junge Frau“ und ein „gichtiger Alter“ wappnen sich gegen die langsam heraufziehende Kälte.[18] In der dritten Strophe fallen allerdings Schatten auf diese Idylle: Bettler läuten an der Tür, ein „Kriegskrüppel“ tritt auf, vom „schrecklichen Tod“ „armer Liebender“ und den Mühen „hutzelnder Weibchen“[19] beim Verkauf kümmerlicher Waren ist die Rede.[20] Alles Idyllische verfliegt endgültig, als wir mit der Lage von Gefangenen in einem Lager konfrontiert werden. Man behandelt sie hier so, als ob sie keine Menschen, gar Lebewesen wären. Entsprechend fühlen sich die Gefangenen auch: „Und leben wahrscheinlich noch. Das können sie nicht begreifen.“ [21] Ihr Lebensinhalt besteht nur noch darin, auf den Tod zu warten: „Längst in den Schlachthof getrieben, warten sie stumm auf das Messer.“[22] Das Gedicht beginnt offensichtlich nur deswegen mit der Schilderung idyllischer Herbstszenen, um im Kontrast dazu das Grauen im Lager besonders deutlich hervortreten zu lassen.
Der enge Zusammenhang zwischen Gertrud Kolmars politischen Gedichten aus dem Zyklus und den aktuellen Ereignissen tritt bei dem Gedicht „An die Gefangenen“ besonders deutlich zutage. Die „Scheinwidmung“ des Gedichts lautet: „Zum Erntedankfest am 1. Oktober 1933“.[23] Sie schrieb das Gedicht am 30. September, also genau einen Tag vorher. [24] Wenn Hitler dieses traditionelle Fest nun zu einer offiziellen Veranstaltung aufwertete, so suchte er es im nationalsozialistischen Sinne umzufunktionieren. Die Massen, die daran teilnahmen, sollten sich als „Volksgemeinschaft“ erfahren. Umgekehrt wurden auf diese Weise diejenigen, die wie die Gefangenen nicht daran teilnehmen durften, aus dieser Gemeinschaft verstoßen.
Gertrud Kolmar bietet nun all ihren lyrischen Enthusiasmus auf, um die Gefangenen aus ihrer Vereinzelung herauszureißen. Der ekstatische Aufschwung würde diese in die Lage versetzen, sich selbst von außen zu sehen: „O Gott, wir Menschen sind Zwerge.“[25]Die Dichterin wird sich aber auch bewusst, dass sie sich im Grunde gar nicht von den Gefangenen unterscheidet. Dieser Gedanke bringt sie dazu, sich ihr künftiges Schicksal auszumalen:
„Das wird kommen, ja, das wird kommen; irret euch nicht!
Denn da dieses Blatt sie finden, werden sie mich ergreifen.
Herr, gib, daß ich wach mich stelle deinem heiligen großen Gericht,
Dann, wenn sie an blutendem Schopf durch die finsteren Löcher mich schleifen!“[26]
Erschreckend sind diese Verse zunächst deswegen, weil sie wie eine Kapitulation der Dichterin wirken: In dem Moment, da sie den Gefangenen ganz nahekäme und mit ihren Worten endlich erreichen könnte, verlöre sie auch schon ihr Leben. Ihr dichterischer Triumph und ihr Untergang fielen zusammen. Die Verse erschrecken uns aber noch in einem anderen Sinne. Das Schicksal, das sie für ihre Gestalt im Gedicht heraufbeschwört, ist nämlich, wie wir inzwischen wissen, prinzipiell das, was ihr tatsächlich bevorsteht.
An einer anderen Stelle des Gedichts sagt sie aber auch, dass das Leid, das ihr die Sprache zu verschlagen droht, sie zugleich zum Singen, also zur Poesie, befähigen könnte: „Verzweifeln will ich, will aufweinen, elend, verletzt, / Und singen dem Vogel gleich, dem Nadeln das Auge stechen!“[27]
Wenn wir dieses Gedicht und andere Gedichte des Zyklus wie „Ewiger Jude“ und „Der Misshandelte“ lesen, können wir nur über die Hellsichtigkeit von Gertrud Kolmar staunen. Vergessen dürfen wir nicht, dass 1933 vieles von dem, was wir heute über die Judenverfolgung wissen, noch gar nicht absehbar war. Wie ihr Vater so orientierten sich viele deutsche Juden damals noch an den rechtsstaatlichen Standards der Weimarer Republik. Gertrud Kolmar sah jedoch die Notwendigkeit, die Juden aus der Trance ihrer gesellschaftlichen Integration herauszureißen. Davon zeugt ihr Gedicht „Wir Juden“. Ein neues jüdisches Selbstbewusstsein soll hier erweckt werden. Dafür empfiehlt sie eine überraschende Strategie. Statt sich weiterhin streberhaft anzupassen oder zu rebellieren, sollen die Juden vielmehr ihre Ausgrenzung annehmen. Das anzunehmen, wozu man durch eine missgünstige Umwelt gemacht wird, bedeutet, dieser Umwelt ihr böses, demoralisierendes Spiel zu verderben. Ihr Anderssein erscheint den Juden nun nicht mehr wie ihrer Umwelt als Makel, sondern im Gegenteil als ihr eigentlicher Vorzug. So gewinnen sie nicht nur einen neuen Blick für sich selbst, sondern auch für ihre Umwelt. Dies zeigt sich etwa darin, dass sie unempfänglich werden für die Verführungen der Macht, den Opportunismus: „Ich will den Arm nicht küssen, den ein strotzendes Zepter schwellt, / Nicht das erzene Knie, den tönernen Fuß des Abgotts harter Zeit;“[28]. Noch wichtiger aber ist, dass die Juden nun besonders empfindlich werden für die Dimension der menschlichen Gesellschaft, die für die Teilhabe aller an den Gütern des Lebens sorgt, die aber durch die Verselbstständigung der Machtverhältnisse verblasst. Gertrud Kolmar denkt hier an die Gerechtigkeit, deren Verschwinden insbesondere die Juden am eigenen Leibe spüren: „O könnt‘ ich wie die lodernde Fackel in die finstere Wüste der Welt / Meine Stimme heben: Gerechtigkeit! Gerechtigkeit! Gerechtigkeit!“[29] Mit einer geradezu agitatorischen Vehemenz kämpft Gertrud Kolmar in diesem Gedicht darum, die Juden aus der Sackgasse der Assimilation herauszubringen.
In dem Gedicht „Die jüdische Mutter“ werden wir, die Nichtjuden, von dieser Mutter direkt angesprochen. Sie versucht uns sehr anschaulich vor Augen zu führen, was die tagtägliche Diskriminierung ihres Kindes bei diesem anrichtet. Sie macht aber auch darauf aufmerksam, wie sich die kleinen Sadisten durch ihr Tun selbst entstellen: „Neid, Bosheit, feige Wut, was euer Anlitz schändet, […]“[30]. Wieder konfrontiert uns Gertrud Kolmar mit dem Widerspruch zwischen einer vorgeblich christlichen Kultur und unserer Praxis:
„Glaubt ihr, es sei gerecht, in Kirchen mitzubeten,
Behaglich anzunehmen, was der Pfarrer spricht,
Dann hinzugehn und diese Seele wie ein Tier zu treten?
Ach, auch das Tier zertritt der Wohlbedachte nicht!“[31]
Obwohl Wut in ihr aufsteigt, möchte sie sich nicht davon hinreißen lassen. Dann würde sie sich ja auf eine Stufe mit den Aggressoren stellen. Stattdessen setzt sie auf die Widerstandskraft ihres Kindes in der Zukunft, das sich hoffentlich nicht verhärten lässt: „Steh‘ auf, mein Kind, und klage an mit deinem jungen Wort!“ [32]
Nun möchte ich nur noch das Gedicht „Der Engel im Walde“ kurz ins Auge fassen, mit dem die Dichterin den Zyklus beschließt. Indem sich die lyrische Sprache durch die Empörung, den Protest und die Agitation auf die Nöte der Zeit einließ, drohte sie sich zu verengen.[33] So wirkt dieses Gedicht wie eine Rückbesinnung auf die spezifischen Möglichkeiten der lyrischen Sprache. Der Mensch fühlt sich vom Engel im Wald angezogen und wird doch zugleich von ihm enttäuscht. Dieser bleibt nämlich stumm, ruht bloß in sich selbst und ist „menschenfern“.[34] Verstanden wird er nur vom Eichhorn und den Rehen. Wenn der Mensch etwas von ihm will, entzieht er sich. Wenn der Mensch ihn dagegen in Ruhe lässt, wirkt er durch seine stille Präsenz. Mit diesem Bekenntnis zur paradoxen Seinsweise der Poesie schließt der Zyklus.
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Dieser Zyklus zeugt davon, dass Gertrud Kolmar unter dem enormen Druck ihrer Zeit als Lyrikerin in eine Zwangslage gerät. Sie vermag zwar durch ihre politische Lyrik das sehnlich erwartete treffende Wort für aktuelle Nöte zu finden, scheint damit aber auch eine von der Aktualität unabhängige, nur sich selbst gehorchende lyrische Sprache preiszugeben. Wie Äußerungen in Briefen an ihre Schwester Hilde zeigen, bekennt sich Gertrud Kolmar in den nächsten Jahren eher zu einer zeitunabhängigen Dichtung. Um das „Ewigkeitsgeschehen“[35], nicht aber um Aktuelles soll es in ihren Gedichten gehen. Sie konzentriert sich auf „das Bleibende, Tier und Pflanze, das Immerwiederkehrende, im Werden Beständige.“[36] In diesem Lichte sieht sie nun auch ihre früheren Werke: „Und von mir weiß ich, daß ich Gegenwärtiges, Nahes viel seltener als Vergangenes, Fernes zum Gegenstand meines Dichtens mache.“[37] Dass sie sich in ihrer Dichtung vom „Gegenwärtigen“ abwendet und sich auf das „Bleibende“ zurückzieht, dürfte auch mit der Wahrnehmung ihrer Gegenwart zu tun haben. Sie muss als Jüdin in Deutschland erfahren, wie ihr Lebensspielraum durch ausgeklügelte Schikanen der Behörden immer enger wird. Die Folge davon ist bei ihr, dass der innere Bezug zur unmittelbaren Gegenwart wohl auch aus Selbstschutz kontinuierlich abnimmt. So schreibt sie ihrer Schwester Hilde am 2. 6.1941:
„Und ich fühle eine Nähe nur zwischen mir und dem Früheren; was (mir) jetzt geschieht, ist für mich das Unwirkliche, das Ferne. Wenn ich nicht eigentlich träume, so wache ich doch auch nicht; ich wandle gleichsam durch eine Zwischenwelt, die keinen Teil an mir hat, an der ich keinen Teil habe.“[38]
Eine solche Unterbrechung des lebendigen Kontaktes zur Gegenwart könnte in ihrer Lyrik auf ein Erstarren im Überzeitlichen, letztlich ein Verstummen hinauslaufen. Dass dies nicht die Folge sein muss, zeigt ihr letzter Gedichtzyklus „Welten“. Dieser Zyklus, von August bis Dezember 1937 entstanden, gilt allgemein als ihr Meisterwerk.[39] Aus ihrer eigenen Welt zunehmend herausgedrängt, gewinnt sie eine innere Freiheit dazu, in der Imagination alternative Welten zu erschaffen. Diese übertreffen die unbewohnbar gewordene reale Welt bei weitem an Lebensfülle und Fruchtbarkeit. Erstmals verwendet sie hier freie Rhythmen. Danach soll Gertrud Kolmar tatsächlich als deutsche Lyrikerin verstummen – aber noch nicht als Erzählerin.[40] Sie, die als diplomierte Dolmetscherin das Englische und Französische perfekt beherrscht, beginnt nun auch Hebräisch zu lernen. Gedichte in dieser Sprache entstehen, die aber verloren gegangen sind. [41]
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Der 9. November 1938 („Reichskristallnacht“) hatte auch Konsequenzen für das Leben von Gertrud Kolmar und ihren Vater. Der siebenundsiebzig alte Vater wurde inhaftiert, nach vier Tagen aber wieder freigelassen. Kurz danach zwang man ihn dazu, sein Haus in Finkenkrug am Rande von Berlin zu einem Spottpreis zu verkaufen. Gertrud Kolmar, die Naturfreundin, erschien dieses Haus mit seinem großen Garten aus der Rückschau als „‘verlorenes Paradies‘“.[42] Vater und Tochter mussten in die Innenstadt von Berlin, nach Schöneberg, umziehen. Ihnen wurde eine große Wohnung zugewiesen, die sich aber durch die Einquartierung weiterer Berliner Juden immer mehr bevölkerte. Den beiden Schwestern Gertrud Kolmars gelang die Emigration. Sie selbst dagegen verließ das Land ihrer eigenen Aussage nach vor allem deswegen nicht, weil sie bei ihrem alten kränkelnden Vater bleiben wollte.[43] Dieser wurde 1942, mit zweiundachtzig Jahren, in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert und verstarb dort wenig später. Da ihre Auslandspost zensiert wurde, konnte Gertrud Kolmar ihrer Schwester nur in verschlüsselter Form darüber berichten. Seit Juli 1941 wurde sie dazu gezwungen, in Fabriken der Rüstungsindustrie zu arbeiten. Am 13. Februar 1943 wird Gertrud Kolmar im Rahmen einer sogenannten „Fabrikaktion“ verhaftet, nach Auschwitz deportiert und dort wahrscheinlich sofort in die Gaskammer geschickt.
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Das Manuskript des Gedichtzyklus „Das Wort der Stummen“ ist erhalten geblieben, weil Gertrud Kolmar es kurz nach der Deportation ihres Vaters Hilde Benjamin, der Frau ihres Cousins Georg Benjamin, anvertraute. Dieser befand sich in dem Konzentrationslager Mauthhausen und wurde dort 1941 ermordet. Hilde Benjamin vergrub das Manuskript zusammen mit den Briefen ihres Mannes in ihrem Schrebergarten. 1946 grub sie alles wieder aus, hatte aber, ihrem eigenen Bekunden nach, eine große Scheu davor, sich damit zu befassen. Dass sie später zu einer überaus strengen und deswegen sehr umstrittenen Justizministerin in der DDR wurde (1953 – 1967), ist wohl nicht zuletzt auf ihre schlimmen Erlebnisse im Dritten Reich zurückzuführen. Erst Ende der siebziger Jahre kümmerte sie sich um eine Publikation des Zyklus. Das 1978 erschienene Buch enthält neben den Gedichten und dem Nachwort eines renommierten Lyrikers noch einen Text mit Erinnerungen Hilde Benjamins an Gertrud Kolmar.[44] In der DDR, die sich wesentlich durch den Antifaschismus definierte, zählte man das Werk Gertrud Kolmars zum eigenen kulturellen Erbe. In der Bundesrepublik dagegen interessierte man sich zunächst nur für den unpolitischen Teil ihres Oeuvres, also vor allem ihre Naturlyrik. Um andere, brisantere Texte – ich denke hier insbesondere an ihre Texte zu Robespierre ̶ machte man eher einen Bogen.[45]
(Vortrag am 9. November 2017 im Rahmen einer Gedenkveranstaltung zur „Reichspogromnacht“ (9. 11. 1938), veranstaltet von den beiden christlichen Kirchen und dem Forum „Kultur und Politik“ in Heidesheim am Rhein.)
[1] Gertrud Kolmar: Das lyrische Werk. Anhang und Kommentar. Hrsg. von Regina Nörtmann. Göttingen: Wallstein-Verlag 2010 (2. A.), S. 264.
[2] Gertrud Kolmar: Das lyrische Werk. Hrsg. von Regina Nörtmann. Göttingen: Wallstein-Verlag 2010 (2. A.), S. 370.
[3] Vgl. Marbacher Magazin 63/1993. Gertrud Kolmar 1894-1943. Bearbeitet von Johanna Woltmann, S. 5.
[4] Gertud Kolmar: Liebesgedichte. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Thomas Sparr. Berlin: Insel-Verlag 2010, S. 101.
[5] Kolmar (Nr. 2), S. 95.
[6] Ebenda, S. 95-96.
[7] Näheres hierzu siehe: Uwe-Karsten Heye: Die Benjamins. Eine deutsche Familie. Berlin: Aufbau-Verlag 2014, S. 131 und 134.
[8] Vgl.: Johanna Woltmann: Gertrud Kolmar. Leben und Werk. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 196.
[9] Zur Komposition des Zyklus vgl. Ingeborg Fiala-Fürst: Der Gedichtzyklus ‚Das Wort der Stummen‘. In. Widerstehen im Wort. Studien zu den Dichtungen Gertrud Kolmars. Hrsg. von Karin Lorenz-Lindemann. Göttingen: Wallstein-Verlag 1996, S. 35.
[10]„Bild der Rose. Ein Beet Sonette“. In: Kolmar (Nr. 2), S. 323-343.
[11] Kolmar (Nr. 2), S. 360.
[12] Ebd.
[13] Ebd.
[14] Ebd.
[15] Ebd. Im Gedichtzyklus „Robespierre“ findet sich ein Gedicht mit dem Titel „Gott“, in dem Gertrud Kolmar diesen Gedanken auf einer prinzipiellen Ebene weiterdenkt. Siehe z.B. den Vers: „Wie klein ist euer Gott!“ Kolmar (Nr. 2), S. 423.
[16] Gregor-Maria Hoff: Gott wird zum Nationalgott. Über das unchristliche Bekenntnis der AfD. In. Die Zeit, 14. 9. 2017, S. 54.
[17] Kolmar (Nr. 2), S. 363.
[18] Ebd.
[19] Ebd.
[20] Ebd.
[21] Ebd.
[22] Ebd.
[23] Ebd., S. 365.
[24] Kolmar (Nr. 1), S. 263
[25] Kolmar (Nr. 2), S. 365.
[26] Ebd.
[27] Ebd., S.366.
[28] Ebd., S. 372.
[29] Ebd.
[30] Ebd., S. 373.
[31] Ebd.
[32] Ebd., S. 374.
[33] Vgl. I. Fiala- Fürst (Nr. 9), S. 43. Siehe hierzu allgemein die Bemerkung des amerikanischen Lyrikers Matthew Zapruder: „Sie [die Poesie] dient keinem anderen Zweck , nicht der Narration, der Argumentation, dem An- und Verkauf, der Predigt und der Verurteilung.“ In: Matthew Zapruder: Zimmer mit Aussicht. Was vermag die Poesie in Zeiten der Krise? Gedichte sind Orte der Begegnung, der Freiheit. In Der Tagespiegel 8. 10. 2017. http://www.tagespiegel.de/kultur/essay-zu-poesie– und-politik-zi…
[34] Kolmar (Nr. 2), S. 360.
[35] Gertrud Kolmar: Briefe. Hrsg. von Johanna Woltmann. Göttingen: Wallstein-Verlag 2014, S. 44 (Brief vom 10. 9. 1939) Später spricht Gertrud Kolmar davon, dass man „an alle Dinge, alles Geschehen den Maßstab der Ewigkeit“ anlegen müsse. Ebd., S. 183, Brief an ihre Schwester Hilde vom 18.11.1942.
[36] Ebd., S45.
[37] Ebd., S. 80 (Brief an ihrer Schwester Hilde vom 14. 7. 1940).
[38] Ebd. S. 110.
[39] Vgl. Kolmar (Nr. 2), S. 503- 545.
[40] So entsteht 29. 12. 1939 bis 13. 2. 1940 ihre Erzählung Susanna.
[41] Ebd., S. 76. (Brief an ihre Schwester Hilde vom 15. 5.1940.)
[42] Vgl. Dieter Kühn: Gertrud Kolmar. Leben und Werk, Zeit und Tod. Frankfurt a. M.: Fischer 2010, S. 423.
[43] Kolmar (Briefe (Nr. 35), S. 43. (Brief an ihre Schwester Hilde vom 10. 9. 1939).
[44] Gertrud Kolmar: Das Wort der Stummen. Nachgelassene Gedichte. Hrsg. und mit einem Nachwort von Uwe Berger und ‚Erinnerungen an Gertrud Kolmar‘ von Hilde Benjamin. Berlin: Verlag der Morgen 1978.
[45] Kolmar (Nr. 1), S. 365-367. (Interessant in diesem Zusammenhang finde ich auch, wie wenig Dieter Kühn, der Biograph Gertrud Kolmars, mit ihren Texten zu Robespierre anzufangen vermag. Vgl. Kühn (Nr.42), S. 251-252, 262-267 und 604 – 616.)
- Wiedergeburt des Christentums aus dem Wort. Zur Rolle der Sprache in Luthers Theologie
- Druckreif sprechen – 4