Wiedergeburt des Christentums aus dem Wort. Zur Rolle der Sprache in Luthers Theologie

Völker der Erde,

lasset die Worte an ihrer Quelle,

denn sie sind es, die die Horizonte

in die wahren Himmel rücken können

und mit ihrer abwandten Seite

wie eine Maske dahinter die Nacht gähnt

die Sterne gebären helfen –

 

Aus: „Völker der Erde“ in: Nelly Sachs:

„Fahrt ins Staublose“. Gedichte.

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 152.

 

 

Wiedergeburt des Christentums aus dem Wort. Zur Rolle der Sprache in Luthers Theologie.

 

I.

 

Von der „zentralen Bedeutung des Wortes“[1] für die Reformation ist in dem „Grundlagentext“ der EKD zum Reformationsjubiläum im Jahre 2017 die Rede. Auch dieses Statement hat mich dazu angeregt, mir über die Rolle der Sprache in der Theologie Luthers Klarheit zu verschaffen. Hilfreich dafür war mir vor allem das Buch von Joachim Ringleben: „Gott im Wort. Luthers Theologie vom Wort her.“[2]

Zu Beginn, in einem Präludium, möchte ich über eine recht extrem anmutende Aussage Luther zur Wirkungsmacht des Wortes reflektieren. Im Hauptteil werde ich versuchen, den Zusammenhang zwischen der „Kondeszendenz“ – also der Herablassung Gottes in die Menschenwelt – und der Sprache aus der Sicht Luthers herauszuarbeiten. Ein kritischer Ausblick wird das Ganze beschließen.

II.

 

[Das Wort, eine ganze Welt aufwiegend.]

 

 

Ich versuche nun eine kurze Stelle aus Luthers „Kirchenpostille“ von 1522 zu interpretieren, wo er seine Auffassung von der weltverändernden Kraft der Sprache auf eine besonders zugespitzte Weise formuliert. Ausgehend von diesem Zitat und in weiter ausgreifenden Kommentaren möchte ich eine erste Vorstellung von Luthers Konzeption der Sprache gewinnen:

„Das wortt fur sich selbs, on alles aufsehen der person, muss dem hertzen gnugtun, den menschen beschliessen und begreyffen [umschließen und berühren], das er gleych drynn gefangen fuht [wie darin gefangen fühlt], wie war und recht es sey, wenn gleych alle wellt, alle Engel, alle fursten der hell anderß sagten, ja, wenn gott gleych selb anderß sagt.“[3]

 

Die Apostrophierung des Wortes durch Luther irritiert deswegen, weil das Wort hier gleichsam explodiert. Statt wie gewohnt dem Menschen zu dienen, überwältigt es ihn. Es konfrontiert ihn auf eine hingerissene Weise mit einer Unbedingtheit, an der er sich nicht mehr vorbeimogeln kann. Farbe muss er bekennen, wenn sein Herz, die Wahrheit und die Gerechtigkeit ihn herausfordern. In ihrem Lichte verblassen die üblichen Verbindlichkeiten wie die öffentliche Meinung, die Botschaften der Engel, die politischen Gewalten, gar die Aussagen Gottes.

Ohne vom Wort erfasst zu sein, fehlte dem Menschen aber jegliche Orientierung. Ein ganz anderer müsste er nun werden. Diese verwandelnde Kraft kann das Wort nur erlangen, wenn es sich von allen bloß taktischen und opportunen Einkleidungen befreit. Als in diesem Sinne freies Wort vermag es im Inneren des Menschen einen Widerhall zu finden: >Das Wort für sich selbst muss dem Herzen genugtun, […]<.

Mit der Metapher Herz bezeichnet Luther eine innere Weite und auch Verletzlichkeit des Menschen, die sich dieser angesichts der Zwänge der Selbstbehauptung sonst nicht erlauben kann, ohne die er aber versteinern würde. Auf sein Herz horchend, gewinnt der Mensch trotz seiner Einbettung in die Realität einen Abstand ihr gegenüber. Er ist in ihr, ohne doch von ihr beherrscht zu werden.

Dem Wort gelingt es damit auch, der herrschenden Vernunft ein Schnippchen zu schlagen. Zur Sprache kann nun kommen, was es im Sinne dieser Vernunft gar nicht gibt, aber nach den tieferen Gewissheiten des Menschen dennoch gibt. Gegenwärtig Unsagbares wird nun sagbar. Dass das Wort überraschenderweise auf eine innere Resonanz stößt, lässt es nicht gleich wieder verfliegen. Es gerät damit in Gegensatz zur Wirklichkeit, wie sie gerade ist und wird zum Statthalter einer Wirklichkeit, die noch kommt. Indem es nicht nur eine vorgegebene Wirklichkeit reproduziert, sondern potenziell Wirklichkeit erschafft, verweist es auf die hervorgehobene Stellung des Wortes im Johannes-Evangelium. Wie mit einem Fanfarenstoß wird dort zu Beginn verkündet: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Johannes 1, 1; Übersetzung Luthers) Indem hier Gott und Wort in eins gesetzt werden, wird – sprachphilosophisch gesehen – das schöpferische Vermögen des Wortes herausgestellt: Statt sich bloß innerhalb eines vorgegebenen Horizontes bewegen zu können, vermag es auch von sich aus ganz neue Horizonte zu eröffnen.

Dass der Mensch unter der Vormacht des Wortes seine Freiheit zu verlieren scheint, bringt Luther ziemlich drastisch zum Ausdruck. Der Mensch wird vom Wort umschlossen und gleichsam zu seinem Gefangenen (>wie darin gefangen<). Da er aber nun aus der Wahrheit zu leben beginnt, wird er andererseits auf eine nachhaltigere Weise frei als zuvor. An dieser Stelle muss ich an Luthers Schrift über „Die Freiheit eines Christenmenschen“ denken. Die hier gemeinte Freiheit soll ja auch einer höheren Gefangenschaft, nämlich der Bindung an Gott, entspringen, die dem Menschen eine innere Unabhängigkeit gegenüber den Dingen der Welt verschafft. Inwiefern Bindung geradezu eine Voraussetzung von Freiheit sein kann, veranschaulicht Luther in dieser Schrift übrigens anhand der Liebe: „Liebe aber, die ist dienstpar und unterthan, dem das sie lieb hatt.“[4] Es handelt sich hier also um eine solche Bindung, die Freiheit stiftet, statt sie zu verhindern.

Um die Explosivität dieses Wortes besonders einzuschärfen, lässt es Luther sogar in Opposition zu den Aussagen Gottes treten. Damit scheint er aber über das Ziel hinauszuschießen. Denn es versteht sich doch von selbst, dass das freie Wort letztlich in Gott gründet. Sollte der Mensch, momentan angerührt durch dieses Wort, in einen Gegensatz zu Gott selbst, seinen Aussagen, geraten? Dass selbst den Aussagen Gottes für Luther nicht eine letzte Verbindlichkeit zukommt, lässt mich an seine Haltung zur schriftlichen Fixierung dieser Aussagen denken. Ich möchte also die gestellte Frage nicht im inhaltlichen Kontext des Zitats beantworten, sondern nun auf einer ganz allgemeinen Ebene Luthers Theologie der Sprache näher ins Auge fassen.

Obwohl Luther die Bibel, auch in Abgrenzung zur alten Kirche, in den Mittelpunkt seiner Theologie rückt, kennzeichnet er sich auch durch eine Skepsis gegenüber einer schriftlichen Fixierung von Gottes Wort. In dieser Gestalt verwandelte es sich allzu leicht in einen Fetisch. Bewusst ist Luther, dass doch das eigentlich befreiende Wort wieder zu einer einschüchternden Autorität, einem „papiernen Papst“ (Ringleben)[5], werden kann. Statt nur wie das verschriftlichte Wort die Wahrheit zu konservieren, vermag das mündliche Wort dieselbe auch beim Menschen zu erwecken.

Luther formuliert diesen Vorrang der mündlichen vor der schriftlichen Sprache einmal auf eine sehr deutliche und komplexe Weise:

„Evangelion aber heysset nichts anders, denn ein predig und geschrey von der egnad und barmhertzigkeytt Gottis, durch den herren Christum mit seynem todt verdienet und erworben, Und ist nicht eygentlich das, das ynn büchern stehet und buchstaben verfasset wirtt, sondern mehr eyn mundliche predig und lebendig wortt, und eyn stym, die da ynn die gantz wellt erschallet und offentlich wird außgeschryen, das mans uberall höret.“[6]

 

Es frappiert, dass nach Luther die Verkündigung des Evangeliums nicht eine kontrollierte Rede, sondern ein „geschrey“ sein soll. Am Schluss des Zitates klingt das nochmals an, wenn es heißt: „offentlich wird außgeschryen.“ Während man das Wort, jedenfalls als eigenes Wort, noch unter seiner Kontrolle hat, hat man beim Schrei diese Kontrolle verloren. Aus Not oder auch überschwänglicher Freude ist man außer sich geraten. Man kann nun nicht mehr anders, als sich seiner Umwelt auf eine, auch sinnlich direkte Weise mitzuteilen. Der Schrei impliziert überdies immer Öffentlichkeit. Insofern könnte der Schrei wie eine spontane Keimzelle der Sprache erscheinen, die einen ja auch über sich selbst hinweg und damit zum Anderen führt. Hierbei vergisst Luther auch nicht die Rolle der Stimme („stym“).[7] Durch sie wird man selbst innerhalb einer kommunikativen Situation so gegenwärtig, wie man wirklich ist und nicht nur so, wie man sein will. Durch die Stimme wird von vornherein ein lebendiger Kontakt zwischen den Menschen hergestellt, zunächst ganz unabhängig vom Inhalt der Rede. Der Sprecher vermittelt dem Hörer nicht nur seine Gedanken, sondern auch sich selbst, in seiner leiblichen Eigenart. So wird gewährleistet, dass diese Gedanken vom Hörer nicht nur intellektuell, sondern auch emotionell aufgenommen werden.

Das Evangelium kann also nach Luther nur dann öffentlich wirksam werden, wenn es nicht in „büchern“ und „buchstaben“ eingeschlossen bleibt. Lebendig macht es allein die mündliche Rede. Auf seine schriftliche Fixierung kann zwar nicht verzichtet werden; dies gilt Luther aber nach der Formulierung des Theologen Ringleben nur als „Notbehelf.“[8] Im mündlichen Aggregatszustand verzichtet man auf den Besitzanspruch an das eigene Wort und überantwortet es dem hörenden Anderen.

Allerdings besteht die Gefahr, – in der Kirche wie auch der Kultur überhaupt –, dass dasjenige, was zunächst nur als „Notbehelf“ gelten mag, zum Regelfall wird und der Sinn der Sprache: die lebendige Kommunikation, verblasst. Aus „ausnahmsweise“ wird schleichend „normalerweise“. Obwohl Luther gern das damals avancierteste Medium, d. h. den Buchdruck, für seine Zwecke nutzt, kämpft er doch in seiner Theologie gegen eine solche Entwicklung. Bemerkenswert finde ich, wie er trotz der optimalen Nutzung dieses neuen Mediums doch nicht in seinen Bann gerät. Er ist nicht Freak des verschriftlichten oder gar gedruckten Wortes, sondern des mündlichen Wortes.[9]

Überraschen kann übrigens, dass nicht nur Luther, der große Befreier der deutschen Sprache, sondern auch Goethe, der größte deutsche Dichter, der Verschriftlichung der Sprache skeptisch gegenübersteht. So schreibt er in seiner Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“: „Schreiben ist ein Mißbrauch der Sprache, stille für sich lesen ein trauriges Surrogat der Rede.“[10] Die Sprache entfernt sich durch das Schreiben und das einsame Lesen so sehr von der lebendigen Kommunikation, dass ihr ursprünglicher Sinn in Vergessenheit zu geraten droht.

 

Sich sklavisch an die Buchstäblichkeit der Schrift zu klammern, könnte aus der Sicht Luthers dazu führen, Gott in seiner unbegreiflichen Lebendigkeit zu verfehlen. Deswegen wäre es vielleicht sogar im Sinne Gottes, wenn man sich, angerührt durch das Wort, von den schriftlich fixierten Äußerungen Gottes löste. Sich von diesem Wort bewegen und zugleich zu einem entsprechenden Handeln motivieren zu lassen, wäre allemal besser als an den schriftlich festgehaltenen Worten Gottes kleben zu bleiben wie die Schriftgelehrten. Das zündende Wort erstarrte dann wieder, wenn es als verschriftlichtest Wort bloß zum Gegenstand der Kontemplation wie eben bei den Schriftgelehrten oder Mönchen werden würde. Das gelehrte Studium der Schrift kann nur eine – wenn auch unverzichtbare –Zwischenstation sein.

Indem das Wort Gottes nicht als starres Gesetz, sondern im Sinne des Evangeliums als Quelle eines fruchtbaren Handelns verstanden wird, wird Luthers Rede von einem Umschlossen-, gar Gefangenwerden des Menschen durch das Wort wieder relativiert. Von einem Wort gepackt zu werden, scheint zunächst zu bedeuten, seine Freiheit zu verlieren. Andererseits kann man nur von etwas gepackt werden, was einem selbst, im tiefsten, noch verborgenen Inneren entspricht. So vermag einen das Wort aus den Zwängen der Anpassung und Eigeninteressen zu lösen und auf unerwartete Weise zu aktivieren. Der Mensch gerät zwar unter die Dominanz des Wortes, lässt es aber durch sein e i g e n e s Handeln erst richtig lebendig werden. Hier kommt also die menschliche Freiheit wieder ins Spiel, die durch die Macht des Wortes erstickt zu werden schien. Wenn das Handeln des Menschen aber nur Umsetzung des Wortes aus blindem Gehorsam wäre, müsste es fruchtlos bleiben. Das Resultat dieses Handelns wäre so tot wie das zum toten Buchstaben geronnene Wort, woran sich das Handeln orientierte. Fruchtbarkeit des Handelns und Freiheit des Handelns gehören also zusammen. Frei zu handeln, bedeutet jedoch nicht, eigenmächtig zu werden, sondern das Wort aus freien Stücken umzusetzen. Die Freiheit dient hier dem Wort, statt darüber zu triumphieren.

Indem sich der Mensch von dem Wort >in seinem Herzen umschließen und berühren< lässt, wird er zu einem Handeln im Sinne des Wortes fähig.

Gerade weil das Wort als nacktes, ungeschütztes Wort so schwach ist, kann es etwas bewegen, sobald sich das Bestehende nur noch durch die pure Macht zu halten vermag. Seine Ungeschütztheit im Sinne eines Verzichts auf die üblichen Rückversicherungen der Macht und der Vernunft verleiht ihm seine eigentümliche Sprengkraft. Nur wenn Gott den einzigen Rückhalt bildet, kann, wie Luther zu Beginn seiner politischen Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ von 1520 erklärt, ein „gut werk“[11] gelingen.

Dass das Wort nach der Überzeugung Luthers der Welt insgesamt Paroli zu bieten vermag, kommt zweifellos in den letzten beiden Strophen seines berühmtesten Kirchenliedes: „Ein feste Burg ist unser Gott“ am eindrucksvollsten zum Ausdruck. Die scheinbare Permanenz weltlicher Verhältnisse, die Luther auf die Macht des „Fürsten dieser Welt“, also den Teufel, zurückführt, verfliegt, sobald nur das Wort laut wird. So schließt die dritte Strophe: „Ein Wörtlein kann ihn fällen.“ Zu Beginn der vierten, der letzten Strophe heißt es: „Das Wort sie sollen lassen stahn / und kein Dank dazu haben;/“[12] Sie, all die so vernünftigen und realistischen Leute, können dem Wort deswegen nichts anhaben, weil es ihre Vernunft und ihren Realismus in die Schranken zu weisen vermag. Zugleich in Gott und der Welt wurzelnd, rückt es die Relativität oder Endlichkeit dieser „weltlichen“ Maßstäbe ins Licht.

Aufhorchen lässt das Wort, weil im ihm etwas zu Vorschein kommt, was sonst keine Rolle spielt. Dass es anzurühren vermag, obwohl es den herrschenden Verhältnissen widerspricht, macht seine Brisanz aus. Es bringt, anders gesagt, etwas zur Sprache, was man im Grunde seines Herzens immer schon wusste, aber angesichts der Zwänge der eigenen Selbstbehauptung gar nicht mehr wissen wollte. Deswegen lässt es einen auch dann nicht mehr los, wenn man es aus seiner Agenda längst gestrichen hat. In diesem Sinne bleibt es „stahn“.

 

 

 

III.

[Kondeszendenz und Sprache]

1.

Wie wir gesehen haben, beschränkt sich die Sprache nach Luther nicht darauf, bloß Instrument des Menschen zu sein. Luther weiß, dass sie einen längeren Atem hat als der Mensch. Diese Einsicht verweist auf spätere sprachphilosophische Einsichten wie die Wilhelms von Humboldt. Die Sprache zu gebrauchen, bedeutet ihm zufolge immer auch, sich ihr auszusetzen. Man täuscht sich also, wenn man den sprachlichen Akt ganz in der Hand zu haben meint. Nur in dem Maße, wie man sich von der Sprache, ihrem Gewebe und ihrer Geschichte – nach Humboldt: „[…] dem Sprechen und Gesprochenhaben aller Menschengeschlechter“[13] ̶ tragen lässt, kann man auch Gehör finden. Um sich voll zu entfalten, muss also die sprachliche Aktivität des Einzelnen unversehens eine überindividuelle, nach Humboldt: kollektive Dimension gewinnen. Eine ähnliche Dialektik schwebte auch Luther vor, allerdings in einem theologischen Kontext. Er rückt ja die verwandelnde Kraft des Wortes in den Vordergrund. Als Hervortreten einer Wahrheit, die einem bislang verborgen war, vermag sie einen zu verwandeln.

Das Verhältnis zwischen dem Ich und seinem sprachlichen Tun mutet demnach – ganz allgemein gesehen ̶ paradox an. Statt dass man dabei auf sich selbst konzentriert bliebe, lässt man sich bei Seite. Man schöpft Atem und schafft damit Raum für Kommendes. Das Wort, das nun kommt, überrollt den Sprechenden eher, statt ihn selbst zur Geltung zu bringen. Es wirkt wie die Frucht einer vorübergehenden Entlastung von sich selbst. Nietzsche hat für diese Dialektik des sprachlichen Tuns eine prägnante Formulierung gefunden: „[…] denn der Mensch, der >sich mitteilt<, wird sich selber los; […]“[14]. Aber gerade weil man nicht mehr auf sich selbst achtet, vermag man auch den Anderen zu erreichen. Das Wort darf demnach nicht mehr nur eigenes Wort sein, um dahin zu kommen. Als hörenswert erweist es sich erst dann, wenn es im Ohr eines Anderen vergeht.

 

Für Luther gewinnt die Sprache deswegen einen so hohen theologischen Stellenwert, weil sich Immanenz und Transzendenz in ihr kreuzen. So stellt er mit Nachdruck im Hinblick auf Gottes Wort fest: „Denn im gantzen Christentumb haben wir nichts hoherers und grosserers als das wort.“[15]

Ohne die Gewissheit, dass Gott in seiner Unendlichkeit in der endlichen Existenz anwesend ist, meint Luther diese Existenz nicht ertragen zu können. Dieser Glaube bildet ihm zufolge den Kern des Christentums. Das Sich-Einlassen Gottes auf die Menschenwelt wird theologisch durch den Begriff der Kondeszendenz (bzw. „Kenose“) gefasst. Er bezeichnet etwas, was schwer zu verstehen ist. Gott verhält sich hier so, wie es ihm selbst, seiner Hoheit, zutiefst widerspricht. Statt konsequent auf dieser Hoheit zu beharren, wird er durch Jesus Christus zu einem Glied der Menschenwelt. So braucht seine Unermesslichkeit die Menschen nicht mehr zu schrecken, die doch am im Endlichen haften (z. B.: „Und die Herrlichkeit des Herrn war anzusehen wie ein verzehrendes Feuer auf dem Gipfel des Berges vor den Augen der Israeliten.“ Moses 2 (Exodus), 24,17.) Er wird ihnen vernehmlich. Da es von Jesus Christus der christlichen Lehre zufolge heißt, sowohl Gott als auch den Menschen zugewandt zu sein, sorgt er für dieses Vernehmlichwerden Gottes. Er fungiert als das Versprechen, dass die Sphären der Transzendenz und der Immanenz einander zu durchdringen vermögen ohne sich zu vermischen. Deswegen kann das Wort genauer: „Gottes Wort“, in dem diese außerordentliche Verschränkung der Sphären Gestalt annimmt, mit einem theologischen Fachausdruck als „christomorph“[16] bezeichnet werden. Das mag auch als Chiffre für jedes lebendige Wort überhaupt gelten.

Dass sich Gott auf das Niveau der Menschen begibt, kann als sein Angebot an sie verstanden werden, von sich selbst abzulassen und sich ihm zuzuwenden. So entsteht ein kommunikativer Zusammenhang zwischen beiden, wobei weder die eine noch die andere Seite noch ganz bei sich selbst bleibt. Die Begegnung beider dominiert gegenüber ihrem Fürsichsein. Dass „Gottes Wort“ nicht nur sein Wort, sondern auch dasjenige der Menschen ist, wird durch Jesus Christus verbürgt.

„Gottes Wort“ wird, abstrakt formuliert, deswegen so heilsam für die Menschen, weil es die potenziell zerreißende Diskrepanz zwischen der Ferne des Unendlichen und der Vertrautheit des Endlichen entschärft. Dies kann auch für das Wort im Allgemeinen gelten. Mit seiner sinnlichen Gestalt gehört das Wort unserer Welt an und führt uns doch zugleich über diese Unmittelbarkeit hinaus. Es garantiert uns, am Geist teilhaben zu können, ohne zu Geistwesen werden zu müssen. So sieht es auch Luther. Der Gedanke der Kondeszendenz steht für ihn somit immer im Hintergrund, wenn die Sprache bei ihm zum Thema wird.

 

 

Luthers Schrift „Über die Freiheit eines Christenmenschen“ von 1520 dreht sich nicht um die Sprache, sondern die sogenannte Rechtfertigungslehre (siehe insbesondere § 6). Indem Luther jedoch nach den Voraussetzungen für diese Freiheit fragt, berührt er auch die inneren Voraussetzungen für den Durchbruch des Menschen zur Sprache. Freiheit in seinem Sinne soll sich auch als Freiheit zur Sprache erweisen. Jedenfalls möchte ich vorschlagen, diese Schrift einmal im Lichte seiner Theologie der Sprache zu lesen.

Luther entwickelt in dieser Schrift, wie sich das menschliche Ich bei der Bemühung um das eigene Heil selbst im Wege steht. Seiner selbst sicher geworden zu sein, kann auch bedeuten, zum Gefangenen seiner selbst zu werden. Um eine Chance für sein Heil zu haben, muss man sich erst seine Ohnmacht eingestehen. Luther schildert diese schmerzliche Erfahrung des Menschen, letztlich gar sein „Verzweifeln“[17] als ein dramatisches Geschehen. Nur auf sich selbst zu setzen, läuft nach Luther darauf hinaus, sich vom Leben auszuschließen. Er konfrontiert uns mit diesem „vorterbenn“ [Verderben],[18] um es nachdrücklich als Umschlag zu einem rettenden Ausbrechen aus dem Kerker seiner selbst darzustellen: „Das du aber auß dir und von dir, das ist auß deynem vorterbenn, kommen mugest, […]“ [Auf daß du aber aus dir heraus und von dir los, das ist, aus deinem Verderben loskommen könntest, […]]“[19]. Die Verzweiflung darüber, sich durch sich selbst vom Leben auszuschließen, erscheint Luther wie eine dunkle Antizipation des Glaubens. Die Gewissheit, Lebenszuversicht auch völlig unabhängig vom eigenen Vermögen, gar aus einer Implosion seiner selbst, gewinnen zu können, kennzeichnet ja bei Luther gerade den Glauben: Glaube als eine durch Verzweiflung geschärfte Lebenszuversicht. Nach Luther >aus sich heraus und von sich selbst los kommen zu können<, bedeutet aber auch, für den Anderen bereit zu werden. Das Ich erfährt, sich selbst gerade nicht in sich selbst, sondern nur über den Anderen finden zu können. Einlösbar kann das insbesondere in der Sprache werden.

Luther entfaltet einen Erfahrungsprozess im Umgang mit Gott, bei dem sich die Konzentration auf Gott im Glauben als einseitig entpuppt. Dass man Gott in seiner Unbegreiflichkeit gerade dann verfehlt, wenn man ihm allein mit gläubiger Inbrunst gerecht zu werden sucht, muss der Gläubige erfahren. Sich aus dieser kontemplativen Versenkung heraus dem „Nächsten“ zuzuwenden, würde Gott demnach paradoxerweise eher gerecht werden. Nur so wäre gewährleistet, dass die Begegnung mit Gott nicht nur auf eine sublime Selbstbegegnung hinausliefe. Im Verhältnis zu Gott – wie auch zur Sprache ̶ kommt es darauf an, den in der Vertikale glühenden lebendigen Sinn, nach dem christlichen Verständnis: die Liebe, zu bergen. Dafür steht Jesus Christus. So gelangt Luther dazu, den Umgang mit Gott als einen mehrdimensionalen: zugleich kontemplativen und sozialen Prozess darzustellen. Die Begegnung mit Gott erfolgt somit nicht nur auf unmittelbare Weise, durch die kontemplative Versenkung in ihn, sondern auch auf mittelbare Weise, durch die Begegnung mit dem Anderen. (Dies erinnert an die dialektische Logik Hegels.) Luther fasst seine Schrift in einem prägnanten Fazit zusammen:

„Aus dem allemn folget der beschluß, daß eyn Christen mensch lebt nicht ynn ihm selbst, sondern ynn Christo und seynem nehsten, ynn Christo durch den glauben, ym nechsten durch die liebe: durch den glauben feret er uber sich yn gott, auß Gott feret er widder unter sich durch die liebe, und bleybt doch ymmer yn gott und gottlicher liebe […]“[20]

Der Individualismus verhilft einem zwar zum Genuss der eigenen Freiheit, lässt einen nach der Einsicht Luthers aber auch verarmen. Auf sich selbst zurückgeworfen, bliebe man hinter seinen fruchtbareren Möglichkeiten zurück. Luther verwirft nicht nur den Lebensentwurf des Mystikers, der sich meditativ in Gott versenkt, sondern auch denjenigen des umtriebigen Menschen, der seine Erfüllung in der Gesellschaft mit anderen zu finden sucht. Verfehlt wäre es also nach Luther, die Hinwendung zu Gott und zum Nächsten voneinander zu isolieren. Dass man wirklich über sich selbst hinausgekommen, also zu Gott gekommen ist, erweist sich erst durch die Sensibilisierung für den Nächsten. Im Nächsten konkretisierte sich die Nähe zu Gott.

Ein Spruch wie „Frei aber einsam“ wirkt nun wie das Schönfärben eines Elends. Weder von der „Freiheit eines Christenmenschen“ noch von Sprachfähigkeit kann hier die Rede sein. Auch bei größter Eloquenz bliebe man doch in seiner Selbstbezogenheit eigentlich sprachunfähig.

 

Auffällig ist, wie oft Luther vom „deus absconditus“ spricht.[21] Dies weist darauf hin, wie sehr ihm ein mögliches, anscheinend sehr naheliegendes Missverständnis der „Kondeszendenz“ bewusst ist. Wie anstößig der Gedanke einer Herablassung Gottes zu den Menschen sein kann, zeigt ja die Reaktion des Judentums und des Islams darauf. Beide argwöhnen, dass das Christentum damit dem Monotheismus untreu wird. Sollte es sich etwa beim Christentum um nichts Anderes handeln als eine Flucht vor der strengen Transzendenz Gottes zugunsten zwar verständlicher, letztlich aber kurzatmiger menschlicher Bedürfnisse? Gerät der Monotheismus durch die Mittlerfigur Jesus Christus auf die schiefe Ebene oder wird er erst dadurch fruchtbar? Dem hält Luther entgegen, dass die Präsenz Gottes in Jesus Christus nicht mit einer Transparenz im enthüllenden Sinne verwechselt werden darf. Darauf zielt eben seine Rede vom „deus absconditus“. Obwohl Gott durch Jesus Christus eine menschliche Gestalt angenommen hat, darf doch nicht von seiner Vermenschlichung im Sinne von Preisgabe seiner Göttlichkeit gesprochen werden. Seine Transzendenz oder sein Geheimnis bleiben weiterhin gewahrt.[22] Jesus Christus gelingt es aber, den Menschen die heilsame Seite dieser Transzendenz zu vermitteln. Statt weiterhin wegen der Unsicherheiten in ihrem Leben ängstlich auf sich selbst fixiert zu bleiben, können sie angesichts Gottes von sich selbst absehen. Sein Geheimnis verstört sie nicht mehr, sondern gewährt ihnen eine Freiheit von sich selbst. Ohne ihn ergründen zu können, verstehen sie ihn trotzdem. Dass sie ihn nicht zu enträtseln vermögen, wird gerade zu ihrem Glück. Denn nur durch sein Anderssein können sie ihn als Alternative zu ihrer endlichen Existenz erfahren.

Das Wort im Sinne Luthers lebt somit nicht davon, das Geheimnis zu eliminieren, sondern davon, es einleuchtend werden zu lassen. Eine Wahrheit, die den Menschen schlechthin überfordert, diejenige Gottes, wird den Menschen durch das Wort sympathisch. Es bringt ihnen eine unendliche Ferne nahe, ohne ihr die Unendlichkeit zu nehmen.

Inwiefern das Streben nach einem Ergründen des Anderen, seines Geheimnisses, ein Verstehen des Anderen gerade blockiert, zeigt sich im zwischenmenschlichen Bereich. Statt dass sich der Andere durch dieses Bestreben erschließen würde, verschließt er sich eher. Verletzt durch Zudringlichkeit, zieht er sich auf sich selbst zurück. Wenn man ihn dagegen in seinem Anderssein gelten lässt, öffnet er sich gerade. So lernt man ihn verstehen eben, weil man auf sein Ergründen verzichtet hat. Ihn durchschauen zu wollen, impliziert ja ein Misstrauen ihm gegenüber. Der Verzicht darauf schafft Vertrauen, das ein intuitives Verstehen stiftet. Am leichtesten verstehen kann man den Anderen also gerade dann, wenn man ihn nicht mehr angestrengt zu verstehen sucht.

Die Sprache nur durch ihre enthüllende Funktion zu definieren, hieße demnach für Luther, sie zu amputieren. Dass sie eine das Ich transzendierende, zwischenmenschliche Dimension zu stiften vermag, bliebe außer Betracht. Sie entspräche auch nicht mehr dem Gebot der Nächstenliebe, wenn sie nur auf eine Objektivierung des Nächsten hinausliefe.

 

Wenn Goethe vom „offenbaren Geheimnis“ spricht, so scheint er sich unter einem säkularen, poetologischen Vorzeichen dieser eigentümlichen religiösen Dezenz anzunähern.[23] Er signalisiert durch diese Formel, wie man einem Phänomen gerade durch intellektuelle Zurückhaltung näherkommen kann. Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass sich das Phänomen durch das Bestreben, es zu ergründen, eher verschließt als erschließt. Die intellektuelle Erkenntnis vermag nur bestimmten, jeweils ins eigene Konzept passenden Aspekten des Phänomens gerecht zu werden, niemals jedoch ihm als Ganzem. Die äußere Erscheinung vom Wesentlichen zu trennen, um dieses in den Griff zu bekommen, zeugt nur von der mangelnden Bereitschaft, bei dem Phänomen geduldig zu verweilen. Diese Einsicht kann dazu führen, eher auf seine Anschauung als auf seine Ergründung zu setzen. Klar wird es nun nicht durch den forschenden Blick, den man auf das Phänomen richtet, sondern durch ein gespanntes Abwarten, dem sich der innere Sinn des Phänomens plötzlich erschließt. Dem Zugriff des Menschen entzogen, öffnet es sich von selbst. Es „offenbart“ sich.

 

Luther legt deswegen einen so großen Wert auf das Hören,[24] weil man dabei auf seine routinierte Dominanz gegenüber der Welt und den Anderen verzichtet. Wer nur noch hört statt zu sehen, hat zumindest für Augenblicke seinen Anspruch aufgegeben, allein von sich aus, durch eine Kontrolle der Dinge, weiter zu kommen. Zu hören bedeutet demnach, für das offen zu werden, worüber man nicht verfügt. Was vielleicht mystisch klingt, ist aber für die zwischenmenschlichen Beziehungen höchst relevant. Wenn man etwa einen Anderen zu überzeugen sucht, so geschieht das nicht nur aus der Position eigener Überlegenheit. Umsetzen kann man diese Intention nur deswegen, weil der Andere einem zuhören will. Man muss vorab von diesem als Person akzeptiert worden sein, um überhaupt beginnen zu können. So wirkt der Andere stillschweigend dabei mit. Überzeugen kann man ihn nur, wenn man sich auf ihn eingestellt hat. Demnach steckt in diesem Vorgang mehr soziale Wechselseitigkeit als es zunächst erscheint.

Hören im Sinne einer Aufgeschlossenheit füreinander wird somit zum geheimen Angelpunkt einer gelingenden Kommunikation. Aus der Sicht Luthers fällt beides zusammen: das Hören als das Vermögen, sich gegenüber Gott zu öffnen und das Vermögen, sich gegenüber einem Anderen zu öffnen. Es rangiert für ihn vor dem Sehen, das einen aktiven Umgang mit der Welt impliziert.

Leicht ist nun auch zu verstehen, warum Luther der Musik für den Gottesdienst eine so große Bedeutung zumisst. Wie damals üblich, verfügte er selbst über eine musikalische Ausbildung. 35 Lieder sollte er komponieren bzw. verfassen. Musik und Sprache wetteifern darin, das Innere oder das „Herz“ des Menschen über das Ohr zu erreichen. Die Musik vermag aber in dieser Hinsicht die Sprache zu überrunden. Weniger in die Dinge der Welt verwickelt und insofern von vornherein schwereloser als die Sprache, kann die Musik nach Luther das Wort beflügeln: „Die Musik bewirkt, >das das Wort in Schwang geh[t]<.“ [25] Die Musik vermag das Wort aus seiner Fixierung auf den Gedanken zu lösen und es mit seinen sinnlichen Möglichkeiten ins Schwingen zu bringen. Sie wiedervereinigt das Wort mit dem Leiblichen, dem es sich unter der Vorherrschaft des Gedankens entfremdet hatte. Ihre Bedeutung wird von Luther primär theologisch, weniger ästhetisch gesehen. Trotzdem erlangt gerade Luther, wie die Musikwissenschaftlerin Friederike Wißmann feststellt, eine Schlüsselrolle für die Entwicklung der deutschen Musik.[26]

Durch seine Favorisierung des Hörens gegenüber dem Sehen trotzt Luther den tonangebenden philosophischen Überzeugungen seiner Zeit. Unter Berufung auf die Philosophen der Antike hielt man es für selbstverständlich, das Sehen über das Hören zu stellen. In seiner auf Lateinisch verfassten Streitschrift gegen Erasmus von Rotterdam: „De servo arbitrio“, deutsch: „Vom unfreien Willen“, von 1525 charakterisiert sich Luther provokativ als „starrköpfigen Behaupter seiner Ansichten“ und einen, der „immer wie ein Barbar in Barbarei“[27] gelebt habe. Auf diese Weise kokettiert er nicht nur mit seiner persönlichen Eigenart, sondern verweist auch auf seinen prinzipiellen Dissens mit dem in seiner Zeit, der Renaissance, vorherrschenden Denken. Für Humanisten wie Erasmus hängt etwa das menschliche Heil selbstverständlich auch von den Aktivitäten des Menschen ab. Luther sieht das aber, wie deutlich wurde, ganz anders. Seiner Rechtfertigungslehre zufolge steht sich ja der Mensch bei seinem Streben nach dem Heil selbst im Wege. Statt wie die Humanisten die Souveränität des menschlichen Ich zu feiern, problematisiert er sie. Indem dieses Ich nur noch das gelten lässt, was es sich selbst anzuverwandeln vermag, immunisiert es sich gegenüber dem, was ihm nicht entspricht. Die Welt insgesamt droht auf seine Welt einzuschrumpfen. Die Humanisten liegen damit ganz im Trend ihrer Zeit, der beginnenden Neuzeit. Luther wirkt demgegenüber anachronistisch. Er geht nicht mit der Zeit, sondern arbeitet sich an ihr ab. Distanziert verhält er sich nicht nur gegenüber den Humanisten, sondern auch gegenüber ihren wirtschaftlichen Komplementärfiguren, den Exponenten eines frühen Kapitalismus. Er erinnert zum Ärger der Humanisten daran, dass der Bezugsrahmen für das herrschende Denken, der anthropozentrische der Humanisten, angesichts Gottes nur relativ ist. Seine Zukunft und der menschliche Fortschritt im Sinne der Humanisten sind zweierlei.

Ohne die Einsicht in die elementare Unfreiheit des Menschen, seine hoffnungslose Determiniertheit, bliebe die Rede von der menschlichen Freiheit Luther zufolge bloßer Trug, genauer: Selbstbetrug. Diese Freiheit ist ein Kontrapunkt zur vorgegebenen menschlichen Unfreiheit, der von Gott gesetzt wird. Rettung gibt es zwar für den Menschen, die kommt aber nach Luther nicht aus dem Menschen selbst, sondern von außen. Um sie anzunehmen, müsste man über seinen Schatten springen.

Bejahen könnte Luther das menschliche Ich nur in dem Maße, wie es nicht mehr nur auf sich selbst hockte. In diesem Sinne imponiert ihm eine Figur wie Maria, die durch ihre unablässige Aufmerksamkeit für die „geringen Dinge“ vor der Eitelkeit der Selbstbespiegelung gefeit bleibt. „Ehre und Höhe“ gewinnt sie gerade deswegen, weil sie kein Bewusstsein davon hat. So schreibt Luther ̶ hier in der sprachlichen Neufassung von Karl-Heinz Göttert: „Darum muss ihr die Ehre und Höhe unversehens zukommen und sie in Gedanken finden, die der Ehre und Höhe völlig fremd und entgegen sind.“[28]

 

Obwohl die Vernunft und die Sprache aufeinander angewiesen sind, sind sie doch aus der Sicht Luthers, wie sich schon abgezeichnet hat, nicht völlig kompatibel.[29] Charakteristisch für Luther ist, dies in Grenzsituationen offenbar werden zu lassen. Die Vernunft delegitimiert sich aus seiner Sicht vor allem dann, wenn sie nur noch auf ein Einverständnis mit einer offensichtlich perspektivlosen Realität abzielt. Sich vernünftig zu verhalten hieße in dieser Lage, seinen inneren Kompass preiszugeben. Da nun die Sprache schwerlich noch der Vernunft dienen kann, wird sie auf sich selbst zurückgestoßen. Nur der sprachliche Impuls selbst wie der Aufschrei scheint noch in Frage zu kommen. Die Zukunft, die von der starr gewordenen Vernunft verraten wurde, könnte nur noch auf diese Weise zur Geltung gebracht werden. In dieser Grenzsituation kommt also zum Vorschein, wie wenig selbstverständlich die Allianz von Vernunft und Sprache gewesen war. Ein Spalt zwischen beiden tut sich auf.

 

Aber erst mehr als zwei Jahrhunderte nach Luther, nämlich Ende des 18. Jahrhunderts, im Zeitalter der „Aufklärung“, soll dieses latente Spannungsverhältnis zwischen Vernunft und Sprache in Deutschland zu einem offenen Konflikt werden. Dies kann deswegen geschehen, weil nun, eben im Geiste der Aufklärung, die Sprache nur noch als Organ der Vernunft angesehen wird. Das ruft einen, bewusst im Abseits bleibenden, sich „kabbalistisch“ gebärdenden Schriftsteller wie den Lutheraner Johann Georg Hamann auf den Plan, der in literaturgeschichtlicher Sicht als Bindeglied zwischen Luther und dem „Sturm-und-Drang“ gelten kann. Die Sprache der Vernunft unterzuordnen, bedeutet aus seiner Sicht, die Welt nur noch unter dem Blickpunkt der menschlichen Interessen zu sehen und die Welt im umfassenderen Sinne, d. h. die „Schöpfung“, aus den Augen zu verlieren. Die Verheißung des Begriffs, die Sprache zu läutern, entpuppt sich Hamann zufolge als Falle für die Sprache. Statt zu ihrer Läuterung kommt es zu ihrer Trockenlegung. Zum Begriff geworden, gehorcht das Wort eher den Gesetzen des Textes als denjenigen des Gesprächs. Im Unterschied zum Begriff ist das Wort auf eine unabsehbare Weise kontaktfreudig. Statt sich wie der Begriff um der Eindeutigkeit willen abzugrenzen, lässt es die Klänge und Bedeutungen affiner Wörter in sich schwingen. In diesem Sinne wird es nach dem Ausdruck von Franz Rosenzweig zum „Tor“.[30] Indem der Begriff das Wort druckreif machen möchte, sucht er dieses Tor gerade zu schließen.

 

Auch Luther, der wichtigste Gewährsmann Hamanns, weiß das alles. Er kann auch deswegen so sprachmächtig werden, weil ihm die sprachlich (und geistlich) lähmenden Konsequenzen einer rationalen Stringenz wohl bewusst sind. Ins Schwarze vermag die Sprache gerade dann zu treffen, wenn sie sich aus dem Korsett logischer Kontinuität löst. Das treffende Wort wäre demnach das unerwartete Wort, das man anfangs gar nicht im Sinn hatte. Um einer Vision zum Ausdruck zu verhelfen, müsste man also auf unmittelbar sich anbietende Formeln verzichten können. Man müsste dazu bereit sein, an ihrer Stelle auch auf anscheinend Unpassendes wie alltägliche oder volkstümliche Ausdrücke zurückzugreifen. Ein solcher Registerwechsel bewahrte zudem vor einschläfernder Monotonie.

Für die Predigt, nach Luther das Herzstück des Gottesdienstes, dürften diese Überlegungen deswegen wichtig sein, weil es ja bei ihr im besonderen Maße auf das treffende oder zündende Wort ankommt. Gelingen könnte sie demnach nur als ständiges Wagnis. Sich nicht allein auf sein Konzept zu verlassen, wird hier nach Luthers Einsicht zum Kriterium ihres möglichen Gelingens. Nur so kann das zur Sprache kommen, was sich der Kontrolle des herrschaftlichen Ich entzieht. Luther dazu in einer seiner Tischreden:

a) „Ich habe mich offte selbst angespeiet, wan ich vom predigtuel [Kanzel] komen bin: Pfue dih an [schäme dich], wie hast du gepredigt? Du hasts warlich wol ausgerichtet; nullum servasti conceptum! [hast überhaupt nicht das Konzept beachtet! […] Es sey viel ein ander ding predigen dan wirs achte, dan unser Herre Gott einem offte eingibt. [Predigen ist ein ganz ander Ding, als wir meinen, denn unser Herrgott gibt es einem oft ein. […] b) „Denn das wollte mir gläuben, daß Predigen nicht Menschenwerk ist;[…][Denn glaubt mir, Predigen ist nicht ein menschliches Werk.]“[31]

Gerade das soll nach Luther in der Predigt zur Sprache kommen, was den Menschen besonders am Herzen liegt, was sie aber aus eigener Kraft nicht zustande bringen können. Er denkt hier an den Frieden.[32]

So erwächst die Predigt primär aus dem unwiderstehlichen Drang, eigentlich Unvorstellbares, aber Lebenswichtiges zu artikulieren. Luther bringt sie ja, wie wir gesehen haben, mit dem Schrei in Zusammenhang. Deswegen unterscheidet sie sich auch prinzipiell von rationalen Diskursformen, in denen die Vorstellbarkeit des Auszudrückenden vorausgesetzt wird.

 

 

 

2.

 

Im Folgenden möchte ich zeigen, wie Luthers Konzeption der Sprache aufgrund ihrer theologischen Fundierung eine über den engeren theologischen Bereich hinaus kulturgeschichtliche Wirkung entfaltet.

Immer wieder staunen kann man mit Luther, dass der Geist in die Sinnlichkeit der menschlichen Sprache eingeht, ohne darin aufzugehen. Er vereinigt sich zwar mit der Materialität der Sprache, also mit Laut oder Buchstaben, verschmilzt aber nicht damit. Nach Joachim Ringleben befinden sich Wort und Geist in einer „untrennbaren, aber auch unvermischbaren Beziehung.“[33] Wie er in einem anderen Zusammenhang formuliert, unterscheiden sie sich „aneinander voneinander.“[34] Wenn etwa Geist und Buchstabe oder nach Ferdinand de Saussure „signifié“ („Bezeichnetes“) und „signifiant“ („Bezeichnendes“) unterschieden werden, so nur, um die Konstituierung des Wortes aus der Einheit beider Elemente herleiten zu können. Das Wort erwächst aus der Vereinigung dessen, was normalerweise geschieden bleibt. So wird es hörenswert. Luther schwebt in seiner Theologie der Sprache eben dieser Glücksfall der Vereinigung vor, der das Wort hörenswert werden lässt.

Um der Sprache gerecht zu werden, darf man also nach Luther weder allein auf den Geist noch allein auf den Buchstaben setzen. Auf ein „dialektisches Verhältnis“ beider käme es an. Was dies für Luthers Umgang mit der Sprache praktisch bedeutet, lässt sich insbesondere an seiner Übersetzung der Bibel ablesen. Welche Kriterien ihn dabei leiten, hat er in seiner Schrift „Sendbrief vom Dolmetschen“ aus dem Jahre 1530 dargelegt.

Berühmt ist seine Maxime, dem Volk aufs Maul schauen zu sollen. Um dem Menschen Gottes Wort möglichst nahe zu bringen, möchte er sich im Zweifelsfall anscheinend eher am Deutschen, der „Zielsprache“, als an der Originalsprache des Bibeltextes, der „Ausgangssprache“, orientieren.[35] Andererseits ist ihm wohl bewusst, dass eine angestrebte Eingängigkeit des Textes auch einlullen kann. Allzu verständlich geworden, droht der Text womöglich seinen Stachel zu verlieren. Nun muss in Kauf genommen werden, dass eigentümliche Prägungen der Ausgangsprache in der Zielsprache befremdlich klingen.[36] So erklärt etwa Luther in seiner Vorrede zum „Deutschen Psalter“:

„Darum müssen wir zu Ehren solcher Lehre, und zu Trost unsres Gewissens, solche Worte behalten, gewohnen, und also der hebräischen Sprache Raum lassen, wo sie es besser macht, denn unser Deutsch tun kann.“[37]

 

Obwohl sich Luther demnach beim Übersetzen eine gewisse Freiheit zugunsten einer Verlebendigung des Textes zugesteht, kann doch in seinem Falle nicht von interpretatorischer Willkür gesprochen werden. Maßgeblich für ihn ist, immer dem Originaltext mit seinem Eigensinn verpflichtet zu bleiben. Das gilt auch für den berühmten Fall seiner Übersetzung von Römer 3, 28: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ (Revidierte Luther-Bibel) Indem er der Übersetzung das Exklusivpartikel „allein“ hinzufügt,[38] das sich im Originaltext nicht findet, geht es ihm nicht um eine selbstherrliche Umdeutung des Textes. Vielmehr möchte er den Sinn des Textes nur so wiedergeben, dass er im Deutschen unmissverständlich klar wird.[39]

Wenn Luther auch den zu übersetzenden Text den Vorrang einräumt, so hängt doch der Wert der Übersetzung seiner Meinung nach von der richtigen Einstellung dem Text gegenüber ab. Nur wenn ein solches Vorverständnis existiert, sollen sich die sprachlichen Materialien des Textes in der Übersetzung zu einem sinnvollen Ganzen ordnen können. Aus seiner Sicht handelt es sich bei diesem nötigen Vorverständnis um den Geist des Evangeliums, ohne den auch das Alte Testament nicht recht zu verstehen ist.

Die Freiheit, die sich Luther beim Übersetzen gelegentlich erlaubt, bleibt für ihn, wie wir gesehen haben, an den Originaltext als der obersten Instanz zurückgebunden. Diese (dialektische) Einstellung zum Verhältnis von Geist und Buchstaben spiegelt sich auch bei seiner Auseinandersetzung mit gewissen Übersetzern der Bibel wider.[40] Um den Geist des Textes zu entbinden, meinen sich diese Übersetzer über den Wortlaut des Textes hinwegsetzen zu dürfen. Luther protestiert dagegen. Leute, die so mit den Texten umspringen, beschimpft er als „Enthusiasten“ oder „Schwärmer“.[41] Als „Spiritualisten“ gehören sie ihm zufolge zur theologischen Fraktion Zwinglis, die er – insbesondere beim Streit um das Abendmahl ̶ bekämpft.[42] Auch die „Waldenser“ hat er im Visier. Sich unmittelbar zum Geist aufschwingen zu wollen, gilt ihm als Hybris. Überzeugt ist er davon, dass der Geist immer nur auf indirektem Wege, also über den Buchstaben, erschlossen werden kann.[43] Wer dagegen „‚nicht zuvor durchs ausserliche wort zum geyst, sondern zuvor aus dem geyst auf das außerliche wort komen‘“ würde,[44] stellte die Dinge gerade auf den Kopf. (Ringleben spricht hier von „Gottes Ordnung der wahren Folge.“[45]) Auf die Achtung vor dem Buchstaben kommt es Luther also an. Sie allein vermag vor subjektiver Willkür, sei’s der schweifenden Phantasie, sei’s dem autoritären Dogmatismus, zu bewahren.

Immer wieder kreist Luther darum, die unzertrennliche Symbiose von Geist und Sprache vor Augen zu führen. Er macht dies etwa, indem er zu einer Vielzahl von Bildern greift. So bezeichnet er die Sprache mit ihrem Menschenbezug als die Scheide, in der das Messer des Geistes stecke. Ohne die Sprache behielte der Geist eine Schärfe, die für den Menschen unerträglich wäre. Luther vergleicht sie auch mit einem Schrein für Kleinodien oder mit der Vorratskammer für die Speise.[46] Er greift aber nur zu deswegen zu diesem Dualismus von Kern und Hülle oder Außen und Innen, um ihn ad absurdum zu führen: Den Kern von der Hülle zu scheiden, hieße, die Sprache zu zerstören. Ohne die Hülle hätte man nicht den Kern, sondern gar nichts mehr. Der Spiritualismus kann dagegen nur dann entstehen, wenn die geistigen Implikationen im Sinnlichen nicht wahrgenommen werden. Deswegen fehlt ihm auch der Sinn für das Wort. Wer sich enthusiastisch zum Geist emporschwingt, verkennt demnach aufgrund seines Intellektualismus die diskrete Evidenz des Naheliegenden.

 

Luther wendet sich also gleichermaßen gegen eine Geistgläubigkeit, den „Spiritualismus“, wie auch eine Buchstabengläubigkeit. Verfehlt wäre aus seiner Sicht die Annahme, dass der Geist durch seine schriftliche Fixierung seine definitive Gestalt gefunden habe wie auch die Annahme, dass diese schriftliche Version nur als Sprungbrett für geistvolle Deutungen tauge.

Weit ist er also davon entfernt, das sogenannte Äußerliche und Sinnliche unter Berufung auf den Geist abzuwerten. Grob Sinnliches kann sogar aus seiner Sicht dem Geist näherkommen als hochgezüchtete Intellektualität. Überhaupt stemmt er sich ja nicht mehr mit religiösem Ingrimm gegen das, was nun einmal das menschliche Leben ausmacht – wie etwa der sexualfeindliche Augustinus ̶ , sondern lässt sich darauf ein. Aus seiner Sicht zeugt es von einer menschlichen Selbstüberschätzung, allein durch eigene Anstrengungen wie etwa im Falle der mönchischen Askese zur Erleuchtung kommen zu wollen. Anerkennen solle man demgegenüber, dass man als Mensch niemals aus eigener Kraft über seine Befangenheit im Triebhaften und damit seine Sündhaftigkeit hinauskomme. Da bliebe man auf die Gnade Gottes angewiesen. Diese fundamentale Einsicht verhilft Luther aber auch dazu, wie etwa Lyndal Roper in ihrer Luther-Biographie eindrucksvoll herausarbeitet, eine neue „positive Haltung zum Körper“[47] zu gewinnen. Luther fragt sich, ob nicht hinter der von den Humanisten so hoch gepriesenen menschlichen Autonomie nicht auch die typische Angst des Intellektuellen vor dem Leiblichen stecke. Auch die Angst vor dem eigenen Bedeutungsverlust als Geisteselite könne es sein.

Diese für Luther so charakteristische Affinität zum Sinnlichen wirkt sich auch auf sein Verhältnis zur eigenen, der deutschen Sprache aus. In theologischer Hinsicht leitet ihn dabei der Gedanke der Kondeszendenz. Der Abstieg Gottes in die Menschenwelt ändert hiernach zumindest potenziell auch das Verhältnis des Menschen zu sich selbst. Ermutigt wird der Mensch nun dazu, sich ganz, nicht nur in seiner öffentlich vorzeigbaren Gestalt, anzunehmen. Dies hat, wie schon gesagt, Konsequenzen für Luthers Verhältnis zur deutschen Sprache. Sich wie bisher wegen ihrer dialektalen Zersplitterung, Unreguliertheit und Vulgarität über sie zu erheben,[48] bedeutete doch, sich durch Gottes Großzügigkeit beschämen zu lassen. Wenn Gott nicht vor der Niedrigkeit der menschlichen Existenz zurückschreckte, so sollte auch der Mensch selbst nicht davor, also vor seiner Kreatürlichkeit, zurückschrecken. Zur Sprache kommen darf nun nicht mehr nur das, was kulturell geboten ist, sondern auch das, was zur Sprache kommen will.

Vom Geist durchdrungen zu sein, bedeutet für das Wort nicht, dem Gedanken zu dienen, sondern ihn in einen sinnlichen Akt zu verwandeln. Es i s t nun der Gedanke, statt nur auf ihn zu verweisen.

Diese neue Einstellung zur Sprache geht bei Luther damit Hand in Hand, sich aus der Verpuppung eines akademischen Theologen herauszulösen und mit seinen 1520 erscheinenden Hauptwerken zum deutschen Schriftsteller zu werden: „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“ und „An den christlichen Adel deutscher Nation“. Zitieren möchte ich, wie die englische Historikerin Lyndal Roper ihn als deutschen Schriftsteller charakterisiert: „Luther begann, einen eigenen Prosastil zu entwickeln, der schwungvoll, lebendig, energisch und erdverbunden war wie Brueghels Bilder war und gespickt mit aneinandergereihten Verben.“[49]

Auf die geistlichen Möglichkeiten der deutschen Sprache kommt es Luther an. Sein Bestreben, eine innige kommunikative Beziehung zwischen Gott und den Menschen zu stiften, meint er vor allem mit ihrer Hilfe erreichen zu können. Sobald die Leute Gottes Wort in ihrer eigenen Sprache vernehmen, werden sie sich auch davon auch berühren lassen. Sie selbst sind gemeint, wenn Gott sich äußert. So können diese Äußerungen in ihnen einen Widerhall finden. Wichtig ist, im Auge zu behalten, dass es Luther dabei nicht um eine Entwicklungshilfe für die deutsche Sprache, eine damals wenig geachtete Sprache, geht. Vielmehr schwebt ihm vor, Gottes Geist mit Hilfe dieser Sprache in den Menschen zu erwecken und sie in diesem Geiste zusammenzuführen. Deswegen wird es für ihn auch so wichtig, die Bibel zu übersetzen. Andererseits weiß jeder, wie sehr dieses theologisch motivierte Interesse am Deutschen der Entwicklung dieser Sprache zu Gute kommt.

Nur weil die eigene Sprache nicht mehr unter einem kulturellen Vorbehalt steht, kann ein „Sprachvertrauen“[50] entstehen. Ungeahnte Kräfte dieser Sprache werden damit freigesetzt. Dem Wort wird nunmehr zugetraut, mehr als nur Gefäß für den Gedanken zu sein. Luther ist sich bewusst, dass der seelische Wirkungsradius des Wortes größer ist als derjenige des abstrakten Gedankens. Während der Gedanke im Kopf verbleibt, vermag das im Glauben wurzelnde Wort in die Seele des Menschen einzudringen. Um die Vereinigung dieses Wortes mit der Seele zu veranschaulichen, greift Luther zu einem Bild, das ihm aus der Welt seines Vaters, des Erzbergbaus, wohl vertraut ist. So wie das Eisen durch das Feuer glutrot wird, so wird das Wort im Kontakt mit der Seele zum Aufschwung der Seele. So heißt es in der „Freiheit eines Christenmenschen“:

„[…] sondern alleyn das wort und glaube regiren yn der seelen. Wie das wort ist, so wirt auch die seele von yhm, gleych als das eyssen wirt glutrodt wie das fewr aus der voreynigung mit dem fewr.“

„[[…] allein das Wort und der Glaube regieren in der Seele. Wie das Wort ist, so wird auch die Seele durch ihn [d. h. den „Glauben“]; gleichwie das Eisen wird glutrot wie das Feuer aus der Vereinigung mit dem Feuer.“][51]

 

Statt nur als Transportmittel für den Gedanken zu dienen, zeugt die Sprache Luther zufolge potenziell vom ganzen Menschen, also auch von seiner Sinnlichkeit und seinen Gefühlen. Zu sprechen heißt dann, sich einem Anderen gegenüber ganz erkennen zu geben. Nur wenn man sich ihm in seiner wirklichen Unfertigkeit, seiner Kreatürlichkeit, zeigt, kann dieser einem vertrauen. Die Sprache bietet die Chance, auf die Schutzbehauptung der eigenen Souveränität zugunsten dieser Unfertigkeit zu verzichten, um mit Anderen, gleichfalls Unfertigen, zusammenzuwirken.

Die gebildeten Menschen zu Luthers Zeit neigten im Unterschied zu Luther dazu, die eigene Sprache zugunsten des Lateinischen zu missachten. Erasmus von Rotterdam etwa mokierte sich darüber, dass sich Luther mit seinen auf Deutsch verfassten Schriften nicht mehr wie üblich an die Gelehrten, sondern das Volk wandte.

Aus Luthers Sicht kann hinter dieser vornehmen Zurückhaltung auch eine Scheu vor der Entzündung von Gottes Geist in den Menschen stecken. Komfortabler mag es für die Gebildeten sein, sich weiterhin ihrer gehobenen kulturellen Position zu erfreuen, statt sich mit den anderen jenseits aller Hierarchie im Geiste Gottes zusammenzufinden. Auf diese ‚Gleichheit vor Gott‘ möchten sie sich trotz aller wohlklingenden Beteuerungen doch nicht so gern einlassen. Um dagegen über die Welt hinauszukommen, muss man sich erst so tief wie möglich auf sie einlassen. Man muss, wie der Lutheraner J. G. Hamann im Blick auf die biblische Rede sagt, eine „Knechtsgestalt“ [52] annehmen. Ohne in die Welt ganz einzutauchen, bliebe die Sprache nur eitles Machwerk.

Wegen seiner theologischen Bildung vermochte sich Luther souverän zwischen dem Lateinischen und dem Deutschen zu bewegen. Insofern war er perfekt zweisprachig – viele seiner theologischen Schriften verfasste er ja auf Lateinisch. Sich mit dem Deutschen zu identifizieren, bedeutet demnach auch für ihn, über den eigenen Schatten, denjenigen eines abgehobenen Gelehrten, zu springen.

Wie seine ehemaligen Gesinnungsgenossen und späteren Widersacher Andreas Karlstadt und Thomas Müntzer ist sich Luther wohl bewusst, wie wenig das Wort der Gelehrten in seiner Zeit noch die akuten gesellschaftlichen Konflikte und damit die Menschen zu erreichen vermag. So zitiert er lustvoll das beim Volke beliebte bissige Wortspiel „die Gelehrten, die Verkehrten.“[53] Er weiß sehr wohl, dass das Wort – eben auch das gelehrte und schöne – in dem Maße hohl wird, wie es nur noch der Selbstbestätigung dient. Indem er die Sprache vom akademischen Podest herunterholt, verschafft er ihr eine Wirkungskraft innerhalb eines offenen gesellschaftlichen Prozesses. Statt aber aus der Einsicht in die Ohnmacht des Gelehrtenwortes wie Karlstadt und Müntzer radikale populistische Konsequenzen zu ziehen und brüsk alle Gelehrsamkeit zu verwerfen, engagiert er sich für die allgemeine Schulbildung. Auch Latein sollte sie umfassen. Davon zeugt seine Schrift von 1524: „An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christlichen Schulen errichten sollen.“ Er steigt also nur zum einfachen Volk herab, um ihm zur Mündigkeit zu verhelfen. Die Reformation Luthers kann somit als Beispiel einer gelungenen Kulturrevolution dienen, in der die Öffnung für das „einfache Volk“ auf Kosten herrschender Eliten nicht zu einem Niveauverlust für die Kultur führt, sondern zu deren Fortentwicklung.

 

In dem von Thea Dorn und Richard Wagner verfassten lexikonartigen Band mit dem etwas verstörenden Titel: „Die deutsche Seele“ finden sich unter dem Stichwort „Reformation“ folgende Bemerkungen zur Leistung Luthers für die Entwicklung der deutschen Sprache:

„Er [d. h. Luther] hat die Heilige Schrift des Neuen Testaments in elf Woche auf der Wartburg wie im Rausch aus dem Griechischen übertragen. Damit wurde er zum Begründer der neuhochdeutschen Schriftsprache.“[54]

Sowie:

„Die deutsche Bibel, die er 1534 herausbringt, wird dem Volk zugänglich sein, sie gibt aber auch der Volkssprache eine Kompetenz. Das weiß er. Weit mehr als vierhundert Sprichwörter hat er gesammelt, um der Volksweisheit gerecht zu werden. Er bedient sich aus diesem Schatz. Bis zu den Romantikern wird ihm das keiner nachmachen.“[55]

 

Luther konzentriert sich deswegen so sehr auf die deutsche Sprache, weil sie allen Deutschsprachigen ein inniges, persönliches Verhältnis zu Gott ermöglicht. So tritt diese Sprache endlich aus dem Schatten heraus. Offensichtlich taugt sie für das Größte, was man ihr wohl zuvor nicht zugetraut hatte. Ihr Eigenwert bestätigt sich. Es scheint damit, als ob sie als solche erst durch die Religion richtig erweckt worden wäre. Ihre Kompetenz zur Vermittlung geistlicher Inhalte erweist insofern ihre generelle Kompetenz. Wie die deutsche Geschichte nach Luther zeigt, kann diese Legitimation der deutschen Sprache auch leicht in ihre Überhöhung umschlagen. Das kann geschehen, weil sie lange Zeit als Surrogat für eine höchst zweifelhafte nationale Identität herhalten muss. Sie allein vermag zumindest eine transpolitische Identität, diejenige einer ‚Kulturnation‘, zu begründen, die über das Fehlen einer politischen Identität hinwegtröstet.

Indem sich Luthers Leistung für die deutsche Sprache mit dieser Problematik der deutschen Identität verschränkt, beginnt sie ihrerseits in ein Zwielicht zu geraten. Allzu verführerisch wurde es nun für den deutschen Protestantismus, sich in seinen innigen Beziehungen zur deutschen Sprache, Kultur und schließlich auch der Nation zu sonnen. Eine allgemeine Akzeptanz fiel ihm auf diese Weise gleichsam in den Schoß, während durch das Ringen um die Seelen nur viel schwerer Anerkennung zu gewinnen war. Insbesondere im 19. Jahrhundert bewegte sich der der deutsche Protestantismus gern in einer Zwischenzone von Religion und Kultur. Repräsentativ dafür ist vor allem der protestantische Theologe Friedrich Schleiermacher, der das Konzept der „Kunstreligion“ wesentlich prägt.[56] Karl Barth soll diesen Kulturprotestantismus kritisieren, weil ihm der nötige theologische Biss fehle. Der absolute Tiefpunkt in dieser fortschreitenden Desorientierung im deutschen Protestantismus wurde erreicht, als sich im Dritten Reich die „Reichsbewegung Deutsche Christen“ „Lutherdeutsche“ nannte.[57]

Die eigene Sprache zu lieben, ist auch deswegen legitim, weil sich die Liebe immer nur am Individuellen entzündet. Zur Liebe gehört aber auch, nicht bloß zu konservieren, sondern auch zu verwandeln. Sie lehrt, sein Zuhause nicht nur in sich selbst, sondern auch im Anderen zu finden. Ohne das Individuelle oder Eigene zu verleugnen, strebt sie doch darüber hinaus. Statt

dass aber dieses Umfassendere – nach dem religiösen Verständnis: „Gott“ – das Individuelle in den Schatten stellen würde, wird es vielmehr zu seinem Licht. Obwohl sich demnach die Liebe immer auf das Individuelle richtet, hebt sie es doch zugleich über sich selbst hinaus. Das gilt auch für die Liebe zur eigenen Sprache. Wenn diese Liebe also exklusiv bleiben sollte, so müsste dies kontraproduktiv wirken. Auf sich selbst eingeschränkt, droht die eigene Sprache zu verkümmern. Das zeigt etwa das Deutsche, wie es im Dritten Reich gepflegt wurde. Ins Dumpfe, Geschwollene und Exaltierte droht es abzugleiten.(Geschwollen wird die Sprache immer dann, wenn man das, was die Wahrheit sein mag, direkt sagen will.)

Der philosophische Schriftsteller Walter Benjamin hat sich nicht nur als Übersetzer betätigt, sondern, ähnlich wie Luther, eine, zudem theologisch grundierte Übersetzungstheorie formuliert: „Die Aufgabe des Übersetzers“. Ihm zufolge wohnt jeder einzelnen Sprache der Drang zur vollkommenen Sprache inne, mit dem Terminus Benjamins: zur „reinen Sprache“.[58] So versteht er die einzelne Sprache als individuellen und insofern von vornherein gebremsten Anlauf zur „reinen Sprache“. Bliebe die einzelne Sprache ohne Kontakt zu den anderen Sprachen, so müsste dieser Anlauf zur Sackgasse werden. Die Arbeit des Übersetzers kann aus dieser Sackgasse hinausführen. Sie konfrontiert nicht nur die „Ausgangssprache“ mit der „Zielsprache“, sondern erweitert womöglich die „Zielsprache“ durch den Kontakt mit der „Ausgangsprache“. Jede einzelne Sprache ist demnach aus der Sicht Benjamins zugleich Ganzes und Bruchstück. Sie rundet sich nur zu einem individuellen Ganzen, um zugleich ihre Bruchstückhaftigkeit angesichts eines absoluten Ganzen zu offenbaren. Wenn demnach Luthers Konzeption der Sprache nur das Ziel hätte, die deutsche Sprache zu emanzipieren, so müsste sie in dieser Perspektive problematisiert werden. Sie könnte dann darauf hinauslaufen, ein Bruchstück zu vergötzen. Dies Luther vorzuwerfen, hieße, ihm die Vernachlässigung seiner geistlichen Motivation für die Hinwendung zur deutschen Sprache vorzuwerfen. In der Perspektive dieser Motivation gilt das Eigene, sei‘s die eigene Sprache, sei’s die eigene Nation, nur als – allerdings unabdingbarer – Durchgangspunkt, nicht aber als Endpunkt. Die eigene Nation oder die eigene Sprache über alles zu lieben, bedeutete, die Liebe zu verraten.

So sieht es übrigens auch Luther selbst ̶ und zwar angesichts der Pluralität der Sprachen. In seiner Vorrede zur „Deutschen Messe“ von 1526 erklärt er mit Blick auf Tendenzen zu einer Verabsolutierung der eigenen Sprache: „Ich halte es überhaupt nicht mit denen, die sich nur gänzlich auf eine Sprache verlegen und alle anderen Sprachen verachten.“[59] Für einen sprachlichen Nationalismus kann er offensichtlich nicht in Anspruch genommen werden.

Trotzdem möchte ich nun noch kurz vor Augen führen, wie die Leistung Luthers für die Entwicklung der deutschen Sprache eingeschätzt wird. Herder und Nietzsche haben sich dazu geäußert.

Luther gelang es nach Herder, den „schlafenden Riesen“[60] der deutschen Sprache aufzuwecken. Herder versteht Luther ganz richtig, wenn er in diesem Zusammenhang Luthers Skepsis gegenüber einer Verschriftlichung der Sprache herausstellt. Luther ließ sich demnach nicht vom Fortschritt der Verschriftlichung blenden. Statt also die mündliche Sprache links liegen zu lassen, versucht Luther vielmehr so viel wie möglich von ihr für die Sprache insgesamt zu bewahren. Ihn überzeugt die verschriftliche Sprache nur insoweit, als sie nicht über das Mündliche zu triumphieren sucht. Im Definitiven braucht sie dann nicht zu erstarren, wenn in ihr das Provisorische der mündlichen Kommunikation noch weiterwirkt. Herder hat dies im Blick, wenn er die Überwindung der „scholastischen Wortkrämerei“[61] durch Luther rühmt. Weniger an die Sprachexperten und Schriftgelehrten als vielmehr die Hörer und Leser möchte sich Luther halten. So soll verhindert werden, dass die Sprache zur Manipulation der Leute verwendet wird. Herder versucht dies mithilfe einer biblischen Geschichte zu veranschaulichen, nämlich der Geschichte von der Vertreibung der Wechsler aus dem Tempel durch Jesus. (Markus 11, 15). So wie die Wechsler mit vorgetäuschten Werten betrügen, so betrügen die „scholastischen Wortkrämer“ mit hochgestochenen Worten. Der Sinn für die Sprache der einfachen Leute, die „Volkssprache“, soll diesen Betrug in Schach halten.

Ohne Luthers Reformation lässt sich nach Herder die Entwicklung der Kultur in Deutschland nicht verstehen: „[…] er [d. h. Luther] hat durch seine Reformation eine ganze Nation zum Denken und Gefühl erhoben.“[62]

Dass Luther die deutsche Sprache vor dem Absolutismus der Schriftlichkeit zu bewahren vermochte, betrachtet Nietzsche ähnlich wie Herder als die wichtigste Leistung Luthers für die Entwicklung der deutschen Sprache. Auch in ihrem schriftlichen Aggregatszustand sollte man ihr die Schriftlichkeit im Sinne von Abstraktheit möglichst wenig anmerken. Dies war eben nur zu erreichen, wenn man auch im Schriftlichen dem Mündlichen nacheiferte. Von hier aus wird verständlich, warum nach Nietzsche der Predigt eine Schlüsselrolle für die Ausbildung der deutschen Sprachkultur zufallen sollte. Dieses Genre befindet sich auf der Schwelle zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit, zwischen der Permanenz und dem Augenblick. Das Schriftliche kann hier erscheinen wie ein Kerker für die Sprache, aus dem sie zugunsten eines direkten Kontaktes mit der Gemeinde auszubrechen hat. Auch wenn der Predigt ein Text zugrunde liegt, bewährt sie sich doch nur als Initialzündung für eine kommunikative Interaktion. So hat sich nach Nietzsche die Kunst, die Menschen über die Sprache zu erreichen, anzurühren und zu aktivieren in Deutschland vornehmlich durch dieses, von Luther privilegierte Medium entwickelt:

„Der Prediger allein wusste in Deutschland, was eine Silbe, was ein Wort wiegt, inwiefern ein Satz schlägt, springt, stürzt, ausläuft, er allein hatte Gewissen in seinen Ohren, […]“[63]

 

Wie stilbildend die Predigt für die deutsche Sprache insgesamt geworden ist, zeigt Nietzsche zufolge das wohl wichtigste Monument für die Entwicklung der deutschen Sprache, eben die Bibel in der Übersetzung Luthers. So überaus populär konnte dieses Buch deswegen werden, weil sich ihre Sprache dem Mündlichen annäherte. Es verschanzte sich nicht ̶ wie eben auch die Predigt ̶ hinter seiner Textualität. Nietzsche meint registrieren zu können, wie diese Einstellung zur Sprache die Eigenart der sprachlichen Kultur in Deutschland insgesamt bestimmte. Sie hatte ihm zufolge zur Konsequenz, dass die „Litteratur“ im Sinne von verschriftlichter Kultur in Deutschland einen anderen Stellenwert erhielt als in anderen Ländern, wohl insbesondere in Frankreich:

„Gegen Luthers Bibel gehalten ist fast alles Übrige nur ‚Litteratur‘ – ein Ding, das nicht in Deutschland gewachsen ist und darum auch nicht in deutsche Herzen hinein wuchs und wächst: wie es die Bibel gethan hat.“[64]

 

IV. Ausblick

Signifikant für die Reformation Luthers scheint mir zu sein, dass der Reformator auf die mündliche Sprache so großen Wert legt, ohne dabei zum Verächter der Schriftlichkeit zu werden. Diese auffällige Privilegierung des Mündlichen hat sicherlich mit Luthers Wahrnehmung der Kirche in seiner Zeit zu tun. Mit Schrecken registriert er, wie sich die Kirche vorwiegend um ihre eigene Macht- und Prachtentfaltung kümmert, wie sich die Vergewisserung des Glaubens in Förmlichkeiten erschöpft und die Kleriker selbstherrlich über die Köpfe der Gläubigen hinweg agieren. Indem er demgegenüber den lebendigen Sinn der Norm gegen die Norm selbst ausspielt, meint er sich in der Bahn von Jesus Christus zu bewegen. Überzeugt ist er davon, dass Gottes Wort in seiner Schriftform erst das versprochene, noch nicht eingelöste Wort ist. Die Sprache zu verschriftlichen, bedeutete ihm zufolge, sie wegen der gegenwärtigen Unmöglichkeit ihrer vollen Entfaltung vorläufig auf Eis legen zu müssen. Wer jedoch die Schriftform der Sprache für ihren Idealzustand hielte und entsprechend kommunizierte, würde die Sprache endgültig vereisen lassen. Luther selbst hat mit der besonderen Art seiner Bibelübersetzung die Rückverwandlung des Schriftlichen ins Mündliche bewusst in die Wege geleitet. Nun geht es nur noch darum, die eingefrorene Mündlichkeit dieser Übersetzung wieder aufzutauen, um die Menschen direkt ansprechen zu können.[65] Franz Rosenzweig lässt durch eine Nebenbemerkung in seinem Aufsatz: „Die Schrift und Luther“ erkennen, inwiefern Luthers Haltung zur „Schriftlichkeit“ dem Geist der „Hebräischen Bibel“ entspricht. Bei deren Übersetzung käme es nämlich darauf an, „[…] den in der Schriftlichkeit der Schrift erstickten freien, mündlichen Atemzug des Wortes zurück[zugeben]“.[66]

Das potenziell Autoritäre der Schrift erlischt in dem Maße, wie man sich ihren Sinn selbstständig erschließt. Statt sich der Schrift zu unterwerfen, erhebt man sich vielmehr aus freien Stücken zu ihr. Sie sich wahrhaft anzueignen, heißt, sich von sich selbst mit ihrer Hilfe zu befreien. Man streift die Schriftlichkeit des Wortes wie eine Schutzhülle ab und schafft damit Raum für den Heiligen Geist.

Auch Adorno hält die Schriftform nicht für die definitive Gestalt der Sprache, warnt aber vor einem überstürzten Aufsprengen dieser Form zugunsten des mündlichen Wortes. Was schriftlich aufbewahrt ist, darf mündlich nicht wieder verschleudert werden. So lautet ein Aphorismus aus den „Minima Moralia“:

„Erst das Sprechen, das die Schrift in sich aufhebt, befreit die Schrift von der Lüge, sie sei schon menschlich.“[67]

 

Der Theologe Joachim Ringleben betont, dass es sich beim Christentum nicht um eine „Schrift-, sondern eine Wortreligion“ handele.[68] Ähnlich sieht es auch Martin Niemöller: „Gottlob, das Christentum ist keine Buchreligion.“[69]

Das Wort gilt Luther gleichsam als letzte Chance, die dem christlichen Glauben nach seiner Auszehrung durch Konventionen, religiöse Folklore, Scholastik, Geschäftstüchtigkeit und Pomp noch bleibt. Diese kritische Tendenz spiegelt sich auch in der gewissen Reserve Luthers gegenüber der Kirche als Institution wider. Statt dass die Kirche für die Gläubigen agiert, sollen sich vielmehr diese im Geiste Gottes von selbst zusammenschließen. Der Heilige Geist, nicht die Institution, hält sie zusammen. Auch wenn diese Zusammenschlüsse wie Underground-Vereinigungen anmuten sollten, überstrahlen sie doch nach Luther bei weitem die pompösen Inszenierungen von Gemeinsamkeit durch die römische Kirche.[70] So liegt der evangelisch-lutherische Pfarrer Thomas Baltrock von St. Aegidius in Lübeck auf der Linie Luthers, wenn er 2015 feststellt: „Wobei klar sein sollte, dass das Fortleben der Institution Kirche in ihrer vertrauten Form nicht das Ziel des christlichen Glaubens ist.“[71]

Luther spricht von der „christlichen Freiheit.“[72] Hieraus leitet er ab, dass die Ordnung der Kirche für die Gläubigen da ist und nicht umgekehrt. Dies veranschaulicht er etwa durch seine Haltung zur Ordnung des Gottesdienstes:

„Denn die Ordnungen sollen zur Förderung des Glaubens und der Liebe dienen und nicht zum Nachteil des Glaubens. Wenn sie das nicht mehr tun, so sind sie schon tot und abgetan und gelten nichts mehr,[…]“[73]

 

Vor allem daran interessiert, den Sinn der religiösen Normen in der Praxis zur Geltung zu bringen, steht also der Protestantismus zumindest in seiner Aufbruchsphase in einem produktiven Spannungsverhältnis zu den Normen selbst, der Schriftlichkeit und den institutionellen Strukturen. Dieser Wille, sich möglichst wenig an solchen Äußerlichkeiten festzuhalten, macht die eigentümliche, durchaus imponierende Kühnheit des frühen Protestantismus aus. Ernüchternd kann dann ein Blick auf seine weitere Entwicklung wirken. Sehr schnell, noch zu Luthers Lebzeiten, wurde offenbar, dass sich die Evangelischen doch nicht mit einer Verinnerlichung von Gottes Wort begnügten. Gottes Wort im Sinne Luthers zu verlebendigen, war doch viel schwerer als es zu konservieren; äußerliche Strukturen, von denen man sich im Geiste des Evangeliums emanzipiert zu haben meinte, schienen doch zur Stabilisierung des schwankenden Gebildes unverzichtbar zu sein; Worte aus der Heiligen Schrift, schließlich gar von Luther selbst, gewinnen für die Gläubigen eine autoritäre Verbindlichkeit; durch die „Beweihräucherung Luthers“ entstand Lyndal Roper zufolge ein „Modell priesterlicher Autorität“ mit durchaus restriktiven Konsequenzen[74]; das von Luther propagierte „Laienpriestertum“ sinkt unter der Dominanz der Pfarrer zur bloßen Farce herab; die Evangelischen fungieren weithin als treue Stützen der staatlichen Ordnung; die kirchliche Institution dominiert gegenüber den Gemeinden; die Pfarrer plustern sich zu Staatsbeamten auf…. Schließlich kann immer wieder irritieren, wie leicht das typisch protestantische Pochen auf Authentizität bloß rhetorisches Blendwerk bleibt. Die Authentizität, die als legitimer utopischer Gegenentwurf zu mechanisch gewordenen Verhaltensweisen fungiert, wird in dem Maße zum bloßen Trug, wie man sie sich selbst zuschreibt. Kurzum: Der Protestantismus unterlag schließlich prinzipiell einer Dialektik wie vorher schon die alte Kirche.

Zumindest ansatzweise dürfte Luther solche Entwicklungen registriert haben. Ihm fiel es jedoch schwer, sie im Sinne der von ihm so hoch gehaltenen Buße selbstkritisch zu reflektieren. Leichter fiel es ihm, andere, nämlich schlechte äußere Einflüsse von Seiten des „Papismus“ und des Judentums dafür verantwortlich zu machen. Insbesondere seine enthemmte Aggressivität gegenüber den Juden zeugt davon, wie wenig er mit zutage tretenden Widersprüchen seiner eigenen Glaubensgemeinschaft souverän umzugehen vermochte. Bedenkenlos setzte er hier spezifisch christliche Tugenden wie die Nächstenliebe und das Erbarmen außer Kraft. Ihm mangelte es, wie die Theologin Dorothea Wendebourg angesichts seines Umspringens mit den Juden formuliert, an einem „gotteszentrierten Gleichmut“.[75] Dass es ihm bei seinen Angriffen auf die Juden vor allem darum geht, „unseren Glauben zu stärken und zu ehren“[76], betont er selbst in einer seiner späten judenfeindlichen Schriften von 1543. Die Notwendigkeit, den Glauben zu stärken kann sich aber nur dann ergeben, wenn er schwach geworden ist. [77] Luther bekämpft in den Juden das stolze menschliche Ich, gegen das er seine ganze Theologie entworfen hat, das aber ihn selbst wie auch alle Christen immer wieder einzuholen droht. Während das Judentum vielleicht realistischerweise die Zähigkeit dieses Ich voraussetzt und deswegen noch nicht von einer Erlösung durch den Messias zu sprechen wagt, wagt das Christentum gerade umgekehrt von dieser Erlösung zu sprechen. Allzu leicht bildet man sich nun auf das, was einem doch nur zugeflogen ist, etwas ein und begräbt es damit wieder unter sich. Man profiliert sich mithilfe einer Lehre, deren Pointe gerade darin liegt, die Kurzatmigkeit jeder eigenen Profilierung offenzulegen. Der Modus des „Vielleicht“ wäre demnach dem Glauben angemessener als derjenige der Gewissheit.

Nur wenn der Protestantismus dazu in der Lage wäre, die Kritik, die er an den vermeintlichen Totengräbern des christlichen Glaubens übt, auch auf sich selbst anzuwenden, bliebe er lebendig. Durch seinen eigentümlichen historischen Einsatz, seine Opposition gegen eine Veräußerlichung der Kirche, müsste gerade er dazu prädestiniert sein.

Rätselhaft kann aus theologischer Sicht erscheinen, wie der Mensch in seiner Welt zurechtkommt, ohne ihr zu verfallen. Nach Luther löst sich dieses Rätsel zumindest prinzipiell durch das Wort. Ohne sich über den Menschen hinwegzusetzen, führt es ihn doch über sich selbst hinaus. Man schält sich mithilfe des Wortes auf eine solche Weise aus sich selbst heraus, dass man freier wird als zuvor – im Sinne der „Freiheit eines Christenmenschen“.

Was im Wort steckt, soll sich, wie wir gesehen haben, erst durch seine Rezeption erweisen. Als vernommenes Wort löst es sich aus der Sterilität seiner Schriftlichkeit. Es ist eher Samen als Frucht.[78] Luther weiß sehr wohl, dass sich die christliche Lehre nicht durch ihre vorgegebene Autorität, sondern erst durch die Aufnahmebereitschaft der Gläubigen legitimiert.[79] Das Wort realisiert sich nur in dem Maße, wie es in seinem Empfänger wiederauflebt. Wenn demnach der Geistliche gegenüber dem Gläubigen mit seiner Autorität auftrumpfen würde, würde er bloß sein Scheitern ins Werk setzen. Er gibt den Gläubigen nur einen Anstoß dafür, seines Glaubens selbsttätig inne zu werden, statt ihm die Artikulation seines Glaubens abzunehmen. Das Wort wird aus der Konserve seiner Schriftlichkeit in die autonome Sphäre des Gläubigen entlassen und damit auf eine nicht mehr kontrollierbare Weise lebendig. So sehr Luther auch von der Erfindung Gutenbergs profitiert, so wenig lässt er sich doch von ihr programmieren. Er lässt sich nur deswegen auf die Ferne des Gedruckten ein, um Nähe unter komplizierter gewordenen zivilisatorischen Bedingungen erzeugen zu können. Gott steht aus seiner Sicht für eine zwar lebenspendende, aber generell unerreichbare Nähe.

Die geistige Kraft des Wortes – theologisch gesprochen: sein Durchdrungensein vom „Heiligen Geist“ ̶ zeigt sich daran, dass es ohne einen vorgegebenen Rahmen auskommt. Deswegen vermag es drängende, aber bislang noch unausgesprochene Wahrheiten zum Ausdruck zu bringen. So implantiert es Zukunft der Gegenwart. Dass die Zukunft der Gegenwart innewohnt, manifestiert sich in ihm, dem insofern „eschatologischen“ Wort.[80] Als lebendiges Wort ist es immer auch antizipierendes Wort, das als solches Anstoß erregen muss. Für Luther gehört es nicht auf die Seite der Theorie. Es ist embryonale Praxis. Wenn man dieses ungeschützte und insofern schwache Wort zu einem Machtwort machen wollte, verspielte man es wieder. Nur in dem Maße, wie man sich den Einflüssen der herrschenden Mächte zu entziehen vermag, gewinnt man die geistige Macht des Wortes. Dieses Wort in politische Rhetorik umzumünzen, bedeutete, es genau in sein Gegenteil zu verkehren. Es leuchtet ein, ohne dass es einzuordnen wäre.

Bevor man heutzutage den Mund aufmacht, wird einem   schon das angeblich passende Wort von kommerziellen Formulierungskünstlern in den Mund gelegt. Insbesondere einem Protestanten mit seinem Bewusstsein vom ‚freien Wort‘ sollte es gelingen, solchen marktkonformen Entmündigungen zu widerstehen. Das freie Wort im Sinne Luthers ist nicht das entfesselte Wort, sondern das in der letzten Tiefe verankerte Wort. Es gewährt die Freiheit dazu, sich den Suggestionen gerade vorherrschender Meinungen und vermeintlicher Selbstverständlichkeiten zu entziehen. Das freie Wort befremdet, weil das, dem es sich verpflichtet fühlt, verborgen bleibt, während das, wogegen es sich kehrt, vor aller Augen liegt. Es ist illoyal aus großer Loyalität – gegenüber Gott. Jemand wie Donald Trump erscheint in diesem Lichte wie ein monomanischer Parasit des freien Wortes. Er wie alle Virtuosen der „postfaktischen Wahrheit“ verblüffen oder bluffen mit einer banalisierten Version von Transzendenz.

Luther schwebt dagegen nicht vor, sich von Fakten auf eine emotionell wohltuende Weise zu entlasten. Vielmehr soll ihre Unerbittlichkeit so sehr als Enge erfahrbar werden, dass sie von selbst über sich hinausweisen. Eben dies kann nach Luther durch das Wort geleistet werden. Es vermag den Bann des Faktischen von innen heraus zu lösen. Dass dem Wort dieses schöpferische Vermögen innewohnt, versucht der gläubige Christ immer wieder beim Abendmahl – gleichsam in einer „imitatio dei“ – nachzuvollziehen.[81]

Jedenfalls ermutigt uns Luther zu einem solchen Wort, das gerade wegen seiner aktuellen Ohnmacht wirkmächtig werden kann. Paulus formuliert diese Einsicht (1. Korinther 1, 27) – hier nach der revidierten Luther-Bibel:

„Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist; […]“

 

 

 

 

(Revidierte Fassung eines Vortrages, der im Rahmen eines vom Dekanat Ingelheim veranstalteten Studientages am 1. März 2017 gehalten wurde.)

Helmut Pillau

       

 

 

  

 

 

 

 

 

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[1] Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2014, S. 71.

[2] Joachim Ringleben: „Gott im Wort. Luthers Theologie von der Sprache her.“ Tübingen: Mohr Siebeck 2010. (Ringleben war bis 2010 Professor für Systematische Theologie an der Universität Göttingen. Zeitweise fungierte er auch als Abt von Bursfelde.)

[3]In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1910, Bd. 10, 1.Abt., 1. Hälfte, S. 130.

[4] Martin Luther: „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. In: Luthers Werke (Nr. 3), Bd. 7 (1897), S. 21.

[5]Ringleben (Nr. 2) S. 409.

[6] Ebd. (Nr. 3) Bd. 12, S. 259. (Aus: „Epistel Sanct Petri gepredigt und ausgelegt.“)

[7] Zur Rolle der Stimme in der Theologie Luthers siehe Ringleben (Nr. 2), S. 422-423.

[8] Ringleben (Nr. 2), S. 407.

[9] Eine Nebenbemerkung in einer seiner schlimmen judenfeindlichen Schriften aus der Spätzeit (1543) zeugt etwa für diese Präferenz des Mündlichen gegenüber dem Schriftlichen. Hier heißt es in Bezug auf den Gottesnamen „Jehova“: „Und wenn er [der Gottesname] ebenfalls mit Feder und Tinte geschrieben werden kann, warum sollte er nicht auch mit dem Mund, der viel besser ist als Feder und Tinte, genannt werden?“ In: „Martin Luther und die Kabbala. ‚Vom Schem Hamesphorasch und vom Geschlecht Christi‘“. Neu bearbeitet und kommentiert von Matthias Morgenstern. Wiesbaden: Berlin University Press 2017, S. 68.

[10] J. W. v. Goethe: „Dichtung und Wahrheit“. In: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe Bd. 9, Hamburg: Wegner 1961, S. 447.

[11] „Das erste, das in disser sachen furnehmlich zu thun ist, das wir uns yhe [stets] fursehen mit grossem ernst, und nit etwa anhuben mit vortrawen [Vertrauen] grosser macht odder vernunfft, ob gleich aller welt gewalt unser were, dan Gott mag und wils nit leyden, das ein gut werk werde angefangen im vortrawen eygener macht und vernunfft.“ Martin Luther: „An den christlichen Adel deutscher Nation“. In: Luthers Werke (Nr. 3), 1888, Bd. 6, S. 405.

[12] In: Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelische Kirche in Hessen-Nassau. Frankfurt: Spener Verlag 2004 (4. A.), Nr.362.

[13] Wilhelm von Humboldt: „Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues“. In: Wilhelm von Humboldt: Schriften zur Sprachphilosophie. Werke in fünf Bänden, hgg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969, S. 226.

Ringleben zitiert den folgenden Satz als Kernsatz von Humboldts Sprachphilosophie: „Durch denselben Act, vermöge dessen er [der Mensch] die Sprache aus sich herauspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein.“ Ringleben (Nr. 2), S. 183. Ringleben zufolge hält der prominente Sprachphilosoph Bruno Liebrucks diesen Satz für den „Ersten Hauptsatz Humboldts.“ Ringleben (Nr. 2), S. 441, Anmerkung Nr. 997.

[14] Friedrich Nietzsche: „Die fröhliche Wissenschaft“. In: Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bände, hgg. von Karl Schlechta. München: Hanser 1965, S. 217.

[15] Luthers Werke (Nr. 3), Bd. 47, S. 33. Vgl. auch in der „Freiheit eines Christenmenschen“: „So mussen wir nu gewiß seyn, das die seele kan allis dings emperen on des wort gottis, und on das Wort gottis ist yhr mit keynem ding beholffen. Nu sie aber das wort hatt, darff sie auch keynß andern dings mehr, sondern sie hat in dem wort genugde, spiß, freud, frid, licht, kunst, gerechtigkeyt, warheyt, weysheyt, freyheit und allis gut uberschwenglich.“ (Nr. 4), S. 22.

[16] Ringleben (Nr. 2), S. 62.

Wichtig ist, dass „Gottes Wort“, also die Äußerung Gottes in der menschlichen Sprache, nicht nur das Verhalten Gottes gegenüber den Menschen, sondern auch dasjenige der Menschen untereinander bestimmt. So wie sich Gott im Wort gegenüber den Menschen öffnet, so öffnen sich auch die Menschen im Medium der Sprache füreinander. Ringleben: „Es ist das Wort, das uns wesentlich untereinander und mit Gott verbindet.“ Ebd., S. 17.

[17] Luther (Nr. 4), S. 22. („[…] und so mustu an dir selber vortzweyffeln […]“)

[18] Ebd.

[19] Ebd.

[20] Ebd., S. 38.

[21] Ringleben (Nr. 2), S. 454 (Anmerkung Nr. 64).

[22] „Gott wahrt konsequent seine Transzendenz und offenbart zugleich in diesem Menschen [d. h. Jesus Christus] die ganze Reichweite seines an die Menschen gerichteten Wortes.“ Michael Weinrich: „Dreimal anders derselbe. Zur Grammatik christlicher Gotteserkenntnis.“ In: „Zeitzeichen“, 17. Jg., Mai 2016, S. 41.

[23] Goethe: „Wem die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst.“ J. W. v. Goethe: „Maximen und Reflexionen“. Abschnitt: „Kunst und Künstler“. In: Goethes Werke (Nr.10), Bd. 12, S. 467.

[24] Ringleben spricht vom Hören als einer theologischen „Leitkategorie“ für Luther: Ringleben (Nr. 2), Luther zum Hören: S.618-619; vgl. auch S. 27, 37, 39 und 496 ff.

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pöksen über das „Du-Ohr“: „Menschen sind widerspruchsfeindliche Wesen, eingehüllt in den Kokon ihrer Sehnsucht nach Bestätigung, äußerst energisch in dem Versuch, eigene Gewissheiten zu verteidigen. Man will nicht wahrnehmen, was nicht zur eigenen Weltsicht passt, die so dominant sein kann, dass man nicht einmal hört, dass man nicht hört. Das ist die Ur-Ursache der Ignoranz, eine Taubheit zweiter Ordnung, wie der Philosoph Heinz von Foerster einmal gesagt hat. Sie lässt Beziehungen erkalten und führt dazu, dass Störungen und Skandale im System einer Organisation schlicht nicht erkannt werden. Und tatsächlich wäre unendlich viel Vorarbeit zu leisten, um das Du-Ohr dauerhaft zu aktivieren.“

Bernhard Pörksen:>Man kann Menschen zum Schweigen bringen, sie jedoch niemals zum Zuhören zwingen. Echtes Zuhören ist ein Geschenk. < “ In: „Die Zeit“, 11. 8. 2016, S. 50.

[25] Zitiert nach Friederike Wißmann: Deutsche Musik. München/Berlin: Berlin-Verlag 2015, S. 33.

[26] Ebd., S. 28.

[27]Zitiert nach der im Internet veröffentlichten Übersetzung von „De servo arbitrio“, S. 1. Der vollständige Text dieser Schrift in lateinischer Sprache findet sich in: Luthers Werke (Nr. 3), Bd.18, S. 551 – 787 (incl. Kommentar).

[28] Martin Luther: „Das Magnificat verdeutscht und ausgelegt“ (1521). In: Martin Luther: das große Lesebuch, hgg. Von Karl-Heinz Göttert. Frankfurt a. M.: Fischer 2016, S. 150.

[29] Zum Hintergrund dieser These vgl. Ringleben: „Mit dem Verweis auf den schöpfungsmäßigen Vorgang von ‚grammatica et usus loquendi‘[…] bzw. der ‚grammatica odder rede kunst‘ […] markiert Luther seinen Orientierung an der Sprachpragmatik (bzw. an der Rhetorik), die aus der Sachordnung im Verhältnis von Sprechen und Denken der (formalen) Logik (mit ihren ontologischen Implikationen) vorgeordnet bleiben muss: kurz gesagt: ‚non more Aristotelis, sed Quintiliani‘ […]. Wenn es gilt, ‚auff die sprache [zu] sehen […], dann müssen die ‚spitzen Sophisten‘, d. h. die gemäß der aristotelischen Logik und nicht von der Sprache denkenden Scholastiker, Text und Sinn der h. Schrift verfehlen.“ Ringleben (Nr. 2), S. 360/61.

Franz Rosenzweig erhellt mit einer prägnanten Formulierung die Differenz zwischen der Logik und der – seiner Auffassung nach ̶ genuin dialogischen Sprache: „[…] die Logiker, diese Möchtegern-Monologiker […]“. Franz Rosenzweig: „Die Schrift nach Luther“. In: Franz Rosenzweig: „Mein Ich entsteht im Du.“ Ausgewählte Texte zu Sprache, Dialog und Übersetzung. Freiburg und München: Alber-Verlag 2013 (2. A.), S. 128.

[30] Franz Rosenzweig: „Die Schrift und das Wort. Zur neuen Bibelübersetzung“ (1925). In: Rosenzweig (Nr. 29), S. 127.

[31] a) D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Tischreden 4. Bd., Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1916, Bd. 4, S 446-447 (Nr. 4719). b) Ebd., Bd. 2, S. 541 (Nr. 2609 b).

Göttert zu den Predigtaktivitäten Luthers: „Um einen groben Eindruck vom Erfolg dieser Predigten zu geben: 1522 hat Luther ca. 120 Mal gepredigt, wovon heute noch 90 Predigten bekannt sind.“ Göttert (Nr. 28), S. 219.

[32] Luther: „Der zeitliche Friede, der das größte Gut auf Erden ist, worin auch alle anderen zeitlichen Güter inbegriffen sind, ist eigentlich eine Frucht des rechten Predigtamtes.“ Aus: Martin Luther: „Eine Predigt, dass man Kinder zur Schule anhalten soll.“ In: Göttert (Nr. 28), S. 383.

[33] Ringleben (Nr. 2), S. 536.

[34] Ebd., S.86.

[35] Luther: „[…] den man mus nicht die buchstaben in der lateinischen sprachen fragen, wie man sol Deutsch reden, wie diese esel thun, sondern, man mus die Mutter ihm hause, die kinder auff der gassen, den gemeinen man auf dem markt drubm fragen, und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen; so verstehen sie es den und merken, das man Deutsch mit yn redet.“ Martin Luther: „Sendbrief vom Dolmetschen“, in: Luther (Nr. 3), Bd. 30,2 (1909), S. 637.

[36] Luther: „Doch hab ich widerumb nicht allzu frey die buchstaben lassen faren, sondern mit grossen sorgen sampt meinen gehülfen drauff gesehen, das, wo etwa an einem ort gelegenn ist, hab ich’s nach den buchstaben behalten und bin nicht frey davon gegangen; […]“. Ebd., S. 640.

Zur doppelten Zielsetzung Luthers bei seiner Übersetzungsarbeit siehe z. B. Werner Koller: Einführung in die Übersetzungswissenschaft. Tübingen und Basel: Francke Verlag 2011 (8. A.), S. 33 sowie die revidierte Version der Luther-Bibel von 2017, Anhang: S. 53-64.

[37] Zitiert nach Rosenzweig (Nr. 29), S. 130-131.

[38] Vgl. Rochus Leonhardt: „Drei, vier oder fünf. Über Sinn und Bedeutung der reformatorischen Sola-Formeln“. In: Zeitzeichen 17. Jg., Januar 2016, S. 37-39.

[39] Ringleben (Nr. 2), S. 324. Dabei handelt es sich jedenfalls um die Sichtweise Luthers. Karl-Heinz Göttert meint dagegen, dass Luther hier interpretierend im Sinne seiner Theologie in den Text eingegriffen hat. Göttert (Nr. 27), S. 423, Anmerkung Nr. 10.

[40] Luther denkt dabei an Hieronymus Emser (Ringleben, Nr. 2), S. 288 und Sebastian Franck.

[41] Ringleben (Nr. 2), S. 513-514.

[42] Ebd., S. 491-492 (zu Zwingli). Karl-Heinz Göttert weist in einer Anmerkung zu seiner Wiedergabe von Luthers Vorrede zum Alten Testament darauf hin, wie entschieden sich Luther von einer primär spirituellen Auslegung der Bibel, hier des Alten Testaments, verwahrt. Damit grenzt er sich aber auch von seiner eigenen Verfahrensweise ab, die er als Mönch noch praktizierte. Göttert (Nr. 28), S. 283.

[43] Diese Dialektik – Vermitteltheit des Geistes – erinnert an die Dialektik von „Glauben“ und „guten Werken“. Prinzipiell gesehen, dominiert der Glaube gegenüber den „guten Werken“: ohne Glaube keine guten Werke. Pragmatisch gesehen, ist aber der Glaube auf seine Bewährung durch die guten Werke angewiesen: Ohne die guten Werke bliebe der Glaube bloß abstrakt. Analog verhält es sich mit dem Gegensatzpaar Geist und Buchstaben. Prinzipiell gesehen, kommt dem Geist Priorität gegenüber dem Buchstaben zu: Ohne den Geist bliebe der Buchstabe tot. Pragmatisch gesehen, verflüchtigte sich aber der Geist ohne den Buchstaben. Dass die „guten Werke“ ohne den „Glauben“ oder der Buchstabe ohne den Geist nichts wären, darf also weder zu einer Geringschätzung der guten Werke noch des Buchstabens führen. Obwohl unterscheidbar, bedingen sie doch einander.

[44] Zitiert nach Ringleben (Nr. 2), S. 517.

[45] Ebd.

[46] Vgl. Martin Luther: „An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen errichten sollen.“ (1524). In: Göttert (Nr. 28), S. 312.

[47] Lyndal Roper: „Der Mensch Martin Luther“. Die Biographie. Frankfurt a. M.: Fischer 2016, S. 215. Übersetzt aus dem Englischen von Holger Fock und Sabine Müller. (Originalausgabe: „Martin Luther. Renegate and Prophet“. London: Bodley Head / Penguin Random House 2016)

Luther legt in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ dar, inwiefern die Unterdrückung der eigenen Leiblichkeit aus geistlichen Motiven nicht nur in gesundheitlicher, sondern auch in geistlicher Hinsicht in die Irre führt. Vgl.: Luthers Werke (Nr. 4), § 21, S. 30-31.

[48] Der Germanist Karl-Heinz Göttert zu den Prinzipien von Luthers Bibelübersetzung: „Was Orthographie und Lautstand betrifft, orientierte er sich an der Meißnischen Kanzlei des Kurfürsten, stilistisch griff Luther auf die gesprochene Sprache seiner Zeit zurück, um die Frische zu erzielen, die die Aufnahme erleichterte.“ Göttert (Nr. 28), S. 256. Siehe dazu das Interview mit Göttert: „Warum muss man Luthers Deutsch übersetzen?“ von Matthias Heine, in: „Die Welt“, 1. 9. 2016, http://www.welt.de/157907740

[49] Ebd. (Nr. 47), S. 187.

[50] Ringleben (Nr. 2), S. 445.

[51] Luthers Werke (Nr. 4), S. 24.

[52] Zitiert nach Ringleben (Nr. 2), S. 445.

[53] Martin Luther: „Das Magnificat verdeutscht und ausgelegt“ (1521), in: Göttert (Nr. 28), S. 187.

[54] Thea Dorn, Richard Wagner: „Die deutsche Seele“. München: Knaus 2011, S. 390.

[55] Ebd., S. 391.

[56] Wißmann (Nr. 25), S. 60.

[57] Vgl. Kurt Meier: „Kreuz und Hakenkreuz. Die evangelische Kirche im Dritten Reich.“ München: dtv 2008 (2.A.), S. 22.

Klaus Holz zufolge gerät der deutsche Protestantismus deswegen auf Abwege, weil er sich zum Schirmherrn der deutschen Nation aufschwingt: „Der deutsche Protestantismus hat sich als Religion depotenziert, indem er den ‚Abstammungsglauben‘ (Max Weber) zu seinem sola fide machte, und er hat sich zugleich potenziert, weil ihm dies seine politische Macht und kulturelle Hegemonie im Bildungsprozess des deutschen Nationalstaats sicherte.“ Klaus Holz (Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland): „Luthers Abweg. Die evangelische Kirche stellt sich dem Judenhass des Wittenberger Reformators. Für die unselige Geschichte, wie der Protestantismus völkisch wurde, bleibt sie blind.“ In: „Die Zeit“, 24. 11. 2016, S. 21.

[58] Walter Benjamin: „Die Aufgabe des Übersetzers“. In: Walter Benjamin: „Illuminationen“. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1961, S. 61. Benjamin lehnt sich hier an Franz Rosenzweig an. Dieser spricht von „Eine[r] Sprache“. Vgl. Rosenzweig (Nr. 28), S. 150.

Vgl. hierzu auch: Ringleben (Nr. 2), S. 340-351. (Zur Kritik an dieser Konzeption Benjamins siehe: Henri Meschonnic: „Un coup de Bible dans la philosophie.“ Chalifert: Les Cahiers de Peut Être. Association des amis de l’oeuvre de Claude Vigée, 2016, S. 84.)

[59] Göttert (Nr. 28), S. 331.

[60] Johann Gottfried Herder: „Fragmente. Von der neuen römischen Literatur“ (1767). In: J. G. Herder: Frühe Schriften 1764- 1772. Hrsg. von Ulrich Gaier. Frankfurt a. M. Deutscher Klassiker Verlag 1985, S. 381. Vgl.: Ringleben (Nr. 2), S. 309, Anmerkung Nr. 305.

[61] Ebenda.

[62] Ebenda.

[63] Friedrich Nietzsche: „Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral“, in: Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe, Bd. 5, hgg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: dtv/de Gruyter 2009 (10. A.), S. 191. Vgl. Ringleben (Nr. 2), S. 328, Anmerkung Nr. 369.

[64] Ebenda.

[65] Brigitte Müller: „Und noch für Martin Luther ist es selbstverständlich, dass das Wesen des Wortes im Gehörtwerden besteht: ‚Natura verbi est audiri.‘Darum ist seine Bibelübersetzung auch für den Vortrag angelegt. Sie ist ein Genuss für das Ohr, der sich einstellt, wenn man ihren Alliterationen und Lautmalereien folgt.“ Brigitte Müller: „Die Bibel vorlesen. Hilfen für die Schriftlesung im Gottesdienst“. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2004, S. 4.

[66] Rosenzweig (Nr. 29), S. 149

[67] Theodor W. Adorno: „Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben“. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1964, S. 130,

[68]„Desungeachtet ist der christliche Glaube wesentlich nicht als Schrift-Religion, sondern eigentlich als Wort-Religion anzusprechen.“ Ringleben (Nr. 2), S. 391

[69] Martin Niemöller: „Die gegenwärtige Theologie und der Religionsunterricht“. Vortrag am 1. 11. 1962 in Wiesbaden. In: Martin Niemöller: „Was würde Jesus dazu sagen?“ Reden – Predigten – Aufsätze. 1937- 1980. Berlin: Union-Verlag 1980, S. 171.

[70] Hans-Martin Barth: „Wohl wegen der Allgegenwart der Institution Kirche, die nach Luthers Wahrnehmung mit dem Evangelium wenig zu tun hatte, schätzte er den Begriff ‚Kirche‘ nicht. Er hielt ihn für ein ’blindes‘, also nichtsagendes Wort, dazu ‚undeutsch‘, nämlich ein Fremdwort. Er redete lieber von der christlichen Gemeinde oder Versammlung, von der heiligen Christenheit, dem heiligen christlichen Volk Gottes, der ‚ganze(n) Christenheit auf Erden‘, so in der Auslegung des dritten Glaubensartikels im Kleinen Katechismus. Die Kirche war ihm ‚Haufe oder Sammlung solcher Leute, die Christen und heilig sind.‘“ Hans-Martin Barth: „Die Theologie Martin Luthers. Eine kritische Würdigung.“ Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2009, S. 385.

[71] Thomas Baltrock: „Warum es uns immer noch gibt.“ In: „Kulturstiftung des Bundes“, Nr. 24, Frühling/Sommer 2015, S. 7.

Der Theologe Ulrich Körtner, Professor für evangelische Theologie, stellt die passenden Fragen dazu: „Wozu braucht der persönliche Glaube auch nach evangelischem Verständnis die Kirche, und zwar in der Gestalt, die sich seit der Reformation entwickelt hat? Die reformatorische Idee vom Priestertum aller Getauften setzt die Existenz der Kirche auch nach evangelischem Verständnis voraus. Doch beides versteht sich längst nicht mehr von selbst.“ Ulrich Körtner: „Getrübtes Urteilsvermögen. Das Reformationsjubiläum als Gradmesser einer theologischen Orientierungskrise“. In: „Zeitzeichen“ 1/2017, S. 39.

[72] Martin Luther: Vorrede zur „Deutschen Messe“ (1526). In: Göttert (Nr. 28), S. 329.

[73] Ebd., S. 347.

[74] Roper (Nr. 47), S. 520-521.

[75] Dorothea Wendebourg: „Angst vor den religiösen Gegensätzen. Die EKD zieht falsche Schlüsse aus Luthers Antijudaismus.“ In: „Zeitzeichen“, 17. Jg. Juli 2016, S. 14.

[76]Martin Luther: „Vom Schom Hamphoras und vom Geschlecht Christi“. In: Dr. Martin Luthers sämtliche Schriften. Ausgabe Walch. Groß-Oezingen: Verlag der Lutherischen Buchhandlung 1986, Bd. 20, Abt. 2, Sp. 2030. (Nachdruck der 2. überarbeiteten Auflage).

[77]Karl-Heinz Göttert deutet Luthers Fronstellung gegenüber den Juden als einen Akt vorsorglicher Selbstverteidigung. Da Luthers selbst eine Kompetenz für das Hebräische und insbesondere die Auslegung der Bibel beanspruchte, musste ihn die die zweifellos größere Kompetenz der Rabbiner irritieren. Diese Unsicherheit kompensierte er durch seine Aggressivität. Vgl. Göttert (Nr. 28), S. 445.

Auch der islamische Prediger Gülen kommt zu der Erkennnis, dass die Aggressivität gegenüber den sogenannten Ungläubigen von einer Unsicherheit im eigenen Glauben zeugt: „Wer andere angreift, weil sie nicht glauben, ist sich seiner selbst nicht sicher.“ Interview mit Fethullah Gülen von Evelyn Finger: „Vielleicht will Gott uns strafen.“ In. „Die Zeit“, 29. 9. 2016, S. 5.

[78] Vgl. Bruno Liebrucks: „[…] sobald die Schrift nicht mehr der Sprache dient, sondern die Sprache schriftlich wird […] sobald also der Diener Schrift zum Herrn der Sprache wird, weil er alles in sein Gegenteil zieht – von diesem Augenblick an verwandelt die Buchstabenschrift alle ihre Tugenden in Laster […]“. Bruno Liebrucks: „Sprache und Bewusstsein“ Bd. 2, Den Haag 1965, S. 402.

[79] Luther in seiner Predigt am Montag nach Invocavit: „Ich kann nicht weiter vordringen als bis zu den Ohren, ins Herz kann ich nicht kommen. […] Darum soll man das Wort frei wirken lassen und nicht unsrer Werk dazu tun. Wir haben in der Tat das Recht des Wortes, aber nicht die Ausführungswalt. Das Wort sollen wir predigen, aber was daraus folgt, soll allein in Gottes Gefallen liegen.“ Göttert (Nr. 28), S. 226.

[80] Siehe hierzu „Eschatologie des Wortes“, das 13. Kapitel von Ringleben (Nr. 2), S. 550 – 620.

[81] Inwiefern Luthers Auffassung vom Abendmahl aufgrund der konstitutiven Rolle des Wortes in diesem Zusammenhang von der katholischen wie auch der reformierten Auffassung abweicht, arbeitet Ringleben ausführlich heraus. Vgl. Ringleben (Nr. 2), S. 158 -165.

Luther selbst hebt in seinem „Großen Katechismus“ die konstitutive Rolle des Wortes für das Abendmahl hervor. Z. B.: „Denn auf den Worten steht all unser Grund, Schutz und Wehr gegen alle Irrtümer und Verführung, die je gekommen sind oder noch kommen mögen.“ Martin Luther: Der Große und der Kleine Katechismus. Ausgewählt von Kurt Aland und Hermann Kunst. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, S. 79.