Zwischen Verdammung und Hochschätzung des jüdischen Geistes: Wilhelm Emrich
Zwischen Verdammung und Hochschätzung des jüdischen Geistes: Wilhelm Emrich
Helmut Pillau
Da ich sehr lange, seit meiner Schulzeit in Berlin, mit Wilhelm Emrich zu tun hatte, schockierten mich die späten Enthüllungen über seine Aktivitäten im Dritten Reich und insbesondere seine antisemitischen Entgleisungen sehr. Unpassend wäre es deshalb meiner Meinung nach, bei der Behandlung dieses Themas die persönliche Dimension auszublenden. Wenn ich Emrichs Versagen zu kommentieren suche, so möchte ich dies in einen Bericht über meine Erfahrungen mit ihm einbetten.
Dass ich auf ihn aufmerksam wurde, habe ich meiner Deutschlehrerin im letzten Jahr meiner Schulzeit zu verdanken. Sie nahm mich 1961 zu einer Veranstaltung über Heinrich von Kleist im Gebäude der „Evangelischen Akademie“am „Kleinen Wannsee“ mit. Ganz in der Nähe hatte sich ja der Dichter gemeinsam mit einer Leidensgefährtin 1811 das Leben genommen. Im Zentrum dieser Veranstaltung stand ein Vortrag von Wilhelm Emrich, später veröffentlicht unter dem Titel: „Heinrich von Kleist: Selbstbewußtsein als Pflicht“.[1] Obwohl ich sicherlich damals nicht alles verstand, prägte sich doch der Auftritt dieses Mannes bei mir nachhaltig ein. Indem ich nun diese Faszination zu rekonstruieren versuche, möchte ich auch allgemeine Charakteristika dieses Mannes ins Licht rücken.
Er wirkte auf mich damals wie jemand, der mit großer Anstrengung einen Gipfel erklomm und dann die gewonnene Höhe unbedingt verteidigen wollte. Dies spiegelte sich auch in seiner Redeweise wider, die von konstatierender, emphatischer, gar hämmernder Art war. Wenn er vom „Empirischen“ sprach, so hatte das durchaus einen pejorativen Unterton. Eben davon schien man sich abstoßen zu müssen, um auf die erstrebte Höhe zu gelangen. Von da aus die anderen da unten traktierend, wirkte er sicherlich nicht kommunikativ. Statt einen Austausch mit den anderen anbahnen zu wollen, konfrontierte er sie lieber mit seiner Gipfelerfahrung. Man fühlte sich im ersten Augenblick befremdet davon, nahm aber schließlich diesen exaltierten Ernst wie denjenigen eines Priesters hin. Vielleicht konnte man ja in seinem Falle von einem Priestertum der höheren Erkenntnis oder des Geistes sprechen. Wie ein Priester erschreckte er sein Publikum mit einer beunruhigenden Gegenwartsdiagnose. Er schien schlimme eigene Ahnungen zu artikulieren, wenn er etwa in seinem Vortrag – wie ich jetzt nachgelesen habe – pauschal über „die fortschreitende Entgeistung, Entseelung und Verdinglichung innerhalb der empirischen Welt“[2] klagte. Das geschah aber nur, um vor diesem Hintergrund die außerordentliche Leistung des Dichters herauszustreichen. Diese Antithetik von Anklage und Erhebung spiegelt sich auch in dem zudem religiös gefärbten Titel eines seiner Bücher: „Protest und Verheißung“ wider.
Das Unvermögen Kleists, sich mit der üblichen Sprache, dem praktischen Leben, ja mit dem Leben überhaupt zu arrangieren, rühmte Emrich als Ausdruck einer kompromisslosen geistigen Rigidität. Kleist wollte sich nicht damit abfinden, dass zu leben nur bedeutete, schläfrig dahin zu leben. Auch wenn ein Selbstbewusstsein und eine Selbstverantwortlichkeit nur um den Preis des Wohlergehens zu erlangen waren, so zog er doch diese Gebote dem Wohlergehen vor. Emrich bekräftigte diese Lebenshaltung noch dadurch, dass er Kleist mit einem anderen prominenten Dichter, nämlich Kafka – zweifellos einen Verehrer von Kleists Dichtungen – an die Seite stellte. Kleist sollte insofern „modern“ sein wie Kafka, als in beiden Fällen das Auszudrückende und die jeweils verfügbaren Ausdrucksmöglichkeiten heillos auseinanderklafften. Die Sprache beider war extrem sachlich, ohne dass dieser Sachlichkeit noch zu trauen gewesen wäre. Wenn Emrich beide Dichter in diesem Sinne als Pioniere einer abwesenden, aber doch unabdingbaren Geistigkeit charakterisierte, so dies durchaus mit einer appellativen Intention. Bei mir, dem davon überrumpelten kleinen Schüler, zündete das. Man mochte sich beschämt oder auch aufgerüttelt fühlen, wenn Emrich am Ende seines Vortrages von einer „geistigen Elite“, „geistigen Aristokratie“ oder mit Kafkas Worten von einem „Adel“ sprach.[3] Diese Elite konnte aber unter den gegebenen Bedingungen nur auf eine beinah tödliche Weise isoliert sein.
Emrich beeindruckte mich also – wie viele andere auch. Der Germanist Hartwig Schultz apostrophierte ihn später in einem Nachruf – meiner Meinung nach zutreffend – als „Begeisterer“[4]. Deswegen lag es nahe, wenn ich mich bei meinem Studium der Germanistik vor allem an ihm, an seinen monumentalen Vorlesungen, orientierte. Dass er, durch sein Werk „Symbolik von Faust II“ ein renommierter Goethe-Experte, in meinem ersten Semester eine Vorlesung über Goethe anbot, traf sich gut. Im Auditorium Maximum der Freien Universität Berlin strömten die Leute, nicht nur Studenten und Germanisten, zusammen, um ihn zu hören. Er wandte sich auch in abendlichen Vorträgen an eine außeruniversitäre Öffentlichkeit und publizierte zeitweise Kolumnen in einer Tageszeitung. Manche munkelten vom dämonischen Blick des großen, schwarzhaarigen Mannes mit dem Klumpfuß. Andere nannten ihn einen „Menschenfänger“. Wegen seiner ständig überfüllten Hauptseminare besuchte ich nur ein Oberseminar unter seiner Leitung mit dem Thema: „Sprachtheorien von Herder bis Grimm“. Ich hielt ein Referat über den christlichen Sprachdenker Johann Georg Hamann.
Als jedoch im Wintersemester 1965/66 ein neuer Star der Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin auftauchte: der ungarischstämmige Jude Peter Szondi, wechselte ich im Hauptfach von der Germanistik zu dem neu eingerichteten Fach der „Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft“. Von der Zentrierung auf die deutsche Literatur und den deutschen Idealismus – Emrichs wesentliche Inspirationsquelle – loszukommen und sich internationale Horizonte zu erschließen, motivierte mich dabei. Allerdings schien Szondi auf eine methodologisch reflektiertere und subtilere Weise in gewisser Hinsicht das fortzuführen, was ich schon bei Emrich kennengelernt hatte. Während Emrich mit seinen verzweiflungsvollen Gegenwartsdiagnosen zum weiteren Umkreis Adornos und Walter Benjamins zu gehören schien, gehörte Szondi zum engeren Kreis um Adorno, also der „Frankfurter Schule“. Durch „1968“ insbesondere wurden meine Jahre bei Szondi sehr unruhig. Als jedoch diese Zeit 1971 wegen des Selbstmordes Szondis jäh endete, kehrte ich nach allerhand Umwegen reumütig zum Ausgangspunkt meines Studiums, also zu Emrich zurück. Unter seiner Leitung sollte ich meine Doktorarbeit über das Verhältnis von Schillers Dramatik zu Hegels Tragödientheorie vollenden. Der Umgang mit ihm war durchaus unkompliziert und herzlich.
Damit schien dieses Kapitel abgeschlossen zu sein, zumal ich ab 1980 an der Mainzer Universität im Fach Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft zu arbeiten begann. Als Emrich jedoch 1998 mit achtundachtzig Jahren starb, wurde ich überraschenderweise doch wieder mit ihm konfrontiert. Man redete nun viel über einen Schlüsselroman von Emrichs Jugendfreund Kurt Mautz: „Der Urfreund“[5], in dem die opportunistischen Häutungen Emrichs im Dritten Reich behandelt wurden. Zitate aus dem antisemitischen Pamphlet Emrichs erschreckten mich. Sehr unbehaglich war mir dabei zu Mute, weil diese Enthüllungen gar nicht zu meinem Bild von ihm passten: Emrich, der sich von Adorno und Walter Benjamin inspirieren ließ, der bei dem deutschen Juden Martin Sommerfeld promoviert hatte und später Kafka so sehr verehrte, sollte ein Antisemit sein? Ohne die Impulse, die er durch ein Seminar bei Adorno 1932 empfangen habe, sei sein gesamtes wissenschaftliches Oeuvre nicht denkbar – meinte jedenfalls Szondi. „Adorno-Benjamin-Schüler“ nannte er ihn.[6] Ich ging alldem zunächst deswegen nicht nach, weil sich eher mediokre Leute in meiner Umgebung aus durchaus eigennützigen Motiven über diesen Fall ereiferten. Erst 2013 sollte ich den Roman „Der Urfreund“ lesen. Meine Auseinandersetzung mit dieser peinlichen Angelegenheit begann. Den Ausgangspunkt dafür bildeten längere Telefongespräche mit dem Schauspieler Rolf Mautz, dem Sohn von Kurt Mautz, über das Verhältnis seines Vaters zu Emrich. Danach vollzog sich meine Auseinandersetzung mit diesem Komplex in vier Etappen.
(1)
In einem ersten Anlauf versuchte ich Emrichs zweideutige Stellung zum Judentum zu verstehen, indem ich sie in den allgemeinen Rahmen der ambivalenten Beziehungen von Christentum und Judentum einordnete. Statt von vornherein im Gegensatz zum Judentum zu stehen, entsprang ja das Christentum innerjüdischen Kontroversen. Sobald es sich gegenüber dem Judentum zu profilieren suchte, drohte es sich, worauf bereits Paulus ahnungsvoll hinwies, von seinen Wurzeln abzuschneiden.[7] Zu seiner Regeneration musste es sich immer wieder auf seine Wurzeln rückbesinnen. Das wurde besonders in Zusammenhang von Luthers Reformation deutlich. Von der alten Kirche beargwöhnt, griff Luther auf die Bibel und auch das, von ihm geliebte Hebräische zurück. Dies führte aber bei ihm nicht zu einer größeren Dankbarkeit gegenüber dem Judentum, sondern im Gegenteil zu einer verstärkten, geradezu hysterischen Abgrenzung. Die wieder gewonnene Nähe zu den eigenen Wurzeln wurde demnach nicht nur als förderlich, sondern auch als bedrohlich empfunden. Dass die vom Christentum behauptete Unabhängigkeit vom Judentum zumindest tendenziell nur eingebildet war, drohte nun offenbar zu werden. So kam das Christentum nie darüber hinaus, zwischen einer spirituell gebotenen Wiederannäherung an das Judentum und einer polemischen Abgrenzung davon zu schwanken. Der Verrat an der eigenen geistigen Herkunft galt dem Christentum zugleich als Befreiungsakt und als Hypothek. Eben diese Ambivalenz schien sich aus meiner Sicht, nun unter säkularem Vorzeichen, in Emrichs haltlosem Pendeln zwischen Hochschätzung und Verdammung des Judentums widerzuspiegeln.
(2)
Produktiv war es für mich, dass ich bei meiner Auseinandersetzung mit Emrichs Fall nicht nur auf solche spekulativen Überlegungen angewiesen blieb. Die Teilnahme an einem Workshop über Wilhelm Emrich, das an der Berliner „Humboldt-Universität“ im Februar 2016 unter der Leitung von Professor Jörg Schönert stattfand, brachte mich weiter. Historiker, erst in zweiter Linie Literaturwissenschaftler, berichteten hier darüber, was sie über Emrichs Metamorphosen von einem radikalen Linken zu einem Nazi, seine beruflichen Aktivitäten im Dritten Reich und insbesondere seine spätere, besonders kompromittierende Tätigkeit als eine Art Zensor im „Reichministerium für Volksaufklärung und Propaganda“, also unter Joseph Goebbels, herausgefunden hatten. Im Rahmen dieser Tätigkeit sollte ja sein antisemitisches Pamphlet entstehen. Davor war er im Auftrag dieses Ministeriums in der „Deutschen Bücherei Leipzig“ damit betraut gewesen, das jüdische Schrifttum in deutscher Sprache bibliografisch zu erfassen. Erhellend waren diese historischen Recherchen auch deswegen, weil sie sich nicht nur auf Emrich beschränkten. Man nahm ebenso Wissenschaftler ins Visier wie den Historiker Theodor Schieder, den Philosophen Erich Rothacker und den Literaturwissenschaftler Erich Kühne aus der DDR. Alle konnten trotz ihrer kompromittierenden Aktivitäten im Dritten Reich nach dem Kriege beachtliche Karrieren an den deutschen Universitäten machen.
Ich erfuhr, dass Emrich unmittelbar nach Kriegsende von den Amerikanern interniert worden war. Das anschließende „Spruchkammerverfahren“ verlief glimpflich für ihn. Auch aufgrund von Fürsprachen wie derjenigen des noblen deutsch-jüdischen Germanisten Oskar Seidlin aus den USA wurde er als entlastet eingestuft und konnte bald zu seiner brillanten akademischen Karriere abheben. In dem Verfahren versuchte er sich übrigens als Gegner des Nazi-Regimes zu stilisieren. Sicherlich profitierte er wie viele andere davon, dass 1948 mit der Berliner Blockade der „Kalte Krieg“ zwischen der Sowjetunion und den westlichen Mächten ausbrach.
(3)
Diese zeitgeschichtliche Einordnung Emrichs sollte mir auch dazu verhelfen, Emrichs Eigenart, die gewisse Exaltiertheit seines wissenschaftlichen Auftretens, zu hinterfragen. Nun wurden mir die Augen dafür geöffnet, dass sein Sich-Aufschwingen zu einer ethischen Unbedingtheit auch zur Verschleierung eines eigenen Fehlverhaltens dienen konnte. Da doch auf dieser hohen, prinzipiellen Ebene alles geklärt war, sollte sich doch eine Befassung mit „empirischen“ Kleinigkeiten erübrigen. Dazu mochte dann auch Emrichs, vielleicht sowieso nur taktisch begründete Anpassung an die antisemitische Ideologie der Nazis gehören.[8] In seinem konzisen Text: „Franz Kafka: Porträt“ stieß ich auf folgende Stelle:
„Die Erfüllung unserer eigenen sittlichen Prinzipien würde das Leben unmöglich machen. Ideale sind nach landläufiger Meinung unrealisierbar. Mit ‚Erleichterung’ gibt man sie preis, um ‚auskommen’ zu können. Die absurde Welt Kafkas spiegelt die Logik unseres Lebens.“[9]
Ob er dabei wohl auch an sich selbst, sein eigenes Fehlverhalten im Dritten Reich, dachte? Er würde dieses Verhalten dann mit einer fatalen „Logik unseres Lebens“ in Zusammenhang bringen. Wie alle anderen wäre er dazu gezwungen gewesen, die „eigenen sittlichen Prinzipien“ um des bloßen Überlebens willen preiszugeben. Zu der von ihm beschworenen „Elite“ gehörte er damit offensichtlich nicht.
In seinem Vortrag über Kleist von 1961 hatte Emrich Kafka dafür gerühmt, dass dieser, durchaus im Sinne von Kleist, die virtuose, aber stets in der Schwebe bleibende Auseinandersetzung moderner Intellektueller mit der Relativität weltanschaulicher Positionen als „Aufschub, Schutz vor dem Unbedingten“[10] durchschaut hatte. Nun sollte gerade umgekehrt diese Perspektive des „Unbedingten“ Emrich dazu dienen, sich vor eigenen peinlichen Bedingtheiten wie seinem Fehlverhalten im Dritten Reich abzuschirmen.
Zu kurz würde man meiner Meinung nach aber greifen, wenn man die emphatische Rhetorik Emrichs bloß für eine individuelle Eigenart halten würde. Er traf damit nämlich in den späten fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Westdeutschland einen Ton, der offiziell erwünscht war. Emrich entsprach auf diese Weise der damals noch üblichen, abstrakt bleibenden Art der „Vergangenheitsbewältigung“. Abstrakt blieb sie insofern, als sie sich etwa auf eine allgemein moralische oder geschichtsphilosophische Weise vollzog. Schwer erträglich fand man es, sich seiner eigenen konkreten Verantwortung für Handlungen im Dritten Reich zu stellen. Deswegen musste sich das Bedürfnis nach einer Katharsis eben in dem pathetischen Ritual der Katharsis erschöpfen. Aufklärung, ins abstrakt Weltanschauliche hochgeschraubt, fungierte als Variante von „Beschweigen“ (Jörn Rüsen).
Diese, auch staatlich geförderte Kultur einer inneren Reinigung musste aber zusammenbrechen, sobald sie – etwa durch die Nachfragen der nachrückenden Generation („1968“) – mit den realen Taten der Akteure im Dritten Reich konfrontiert wurde. Dann entpuppten sich die beschwörenden großen Worte plötzlich als Ausflüchte gegenüber den bislang beschwiegenen eigenen Handlungen. Man hatte sich anscheinend nur deswegen zum imposanten Sinnstifter aufgeschwungen, um sein klägliches Versagen in der Vergangenheit zu überdecken. So kann man sich den großen Schock vorstellen, den das fiktive Enthüllungsbuch von Kurt Mautz: „Der Urfreund“ bei Wilhelm Emrich kurz vor seinem Tod ausgelöst haben muss. Zitate aus dem antisemitischen Pamphlet Emrich finden sich dort.
Da fällt mir der kurze Brief ein, den mir Wilhelm Emrich am 25. 12. 1974 zusammen mit seinem Gutachten über den ersten Teil meiner Dissertation geschickt hatte. Am Schluss kommt er auf meine Behandlung des „Bösen“ in Hegels Ästhetik zu sprechen. Das interessiere ihn deswegen, weil es sich beim Bösen nicht nur, wie von mir dargestellt, um eine Problem der „bodenlosen Individualität“, sondern, wie das Problem des Faschismus zeige, auch um ein Problem der Geschichte handele.
An dieser Bemerkung ist ablesbar, wie er sich mit dem Fiasko des Dritten Reiches, implizit vor allem mit der Schoah, auseinandersetzen möchte. (Dass sich Hegel wohl kaum dafür eignen sollte, kommt ihm dabei nicht in den Sinn.) Indem Emrich die menschenfeindlichen Projekte der Nazis als Einbruch des Bösen in die Geschichte deuten will und er sie damit auf eine abstrakte geschichtsphilosophische Ebene hebt, vermag er sie sich selbst vom Leibe zu halten. Durch ihren Abstraktionsgrad würde dann in diesem Falle die allgemeine Reflexion wie potenziell auch bei seiner Umgangsweise mit den literarischen Werken eher zu einem verallgemeinernden Vernebeln als zu einem differenzierenden Erhellen führen. Wenn Emrich sich selbst gelegentlich als „großen Pan“ bezeichnet, so scheint er damit nicht ohne Selbst- ironie auf seine gewisse Präferenz für das Visionäre auf Kosten des Minutiösen anzuspielen. Wie aber seine öffentliche Wirkung zeigt, geht es hierbei eben nicht nur um einen individuelle Eigenart.
(4)
Erst Anfang 2016, im Rahmen des Workshops, sollte ich den vollständigen Text von Emrichs Pamphlet: „Der Einbruch des Judentums in das wissenschaftliche und fachliche Denken“[11] kennenlernen. Schon dieser Titel wirkt infam. Er könnte einen auf den Gedanken bringen, dass es sich bei den Juden um Einbrecher in das wohl gepflegte Haus der deutschen Wissenschaft handele.
Abstoßend war hier besonders, wie bedenkenlos Emrich die bei den Nazis üblichen Diffamierungen der Juden übernahm – und dies 1943, also im Zenit des Genozids an den Juden! So ist etwa die Rede von dem „Aufeinanderprallen zwischen einem organisch geschlossenen Totalitätsdenken und einem auflösenden, alle geistigen Werte überhaupt leugnenden jüdischen Intellektualismus“[12]. Während Emrich die Juden als die eigentlichen Treiber einer hemmungslos sich ausdifferenzierenden und insofern destruktiven Moderne hinstellte, rühmte er den deutschen Idealismus wegen seines „Ganzheitsdenkens“. Emrich empört an Sigmund Freud und Karl Marx, dass sie die Menschen nur noch als Funktionen anonymer Prozesse, also nicht mehr als Herren ihrer selbst erscheinen lassen. Die Herausforderung für die deutsche Kultur soll nun darin bestehen, die Menschen im Geiste des deutschen Idealismus wieder aus den Fängen dieser anonymen Mächte zu befreien. Dazu beschwört er gar noch eine „germanische Freiheit“. In diesem Zusammenhang geht es ihm aber nicht nur um eine bloße Rückwendung auf den deutschen Idealismus. Vielmehr schwebt ihm eine Synthese von Moderne mit ihren wissenschaftlichen Errungenschaften wie z. B. der Atomphysik und deutschem „Ganzheitsdenken“ vor.
Wie ein Blick auf seine späteren Arbeiten zeigt, blieb er dieser Vision, wenigstens ihrem Grundgedanken nach, treu. Nun sollte aber ausgerechnet ein Jude wie Franz Kafka derjenige sein, der diese hohen Ansprüche, zumindest in der Literatur, zu erfüllen vermochte. Kafka ließ sich Emrich zufolge ganz auf die moderne Welt mit ihrer verwirrenden Relativierung aller Werte ein und kapitulierte doch nicht wie die meisten davor. Er gab also das „Absolute“ nicht preis. Statt es auf religiösem Wege durch eine Transzendierung der Wirklichkeit zu erschließen, erschloss er es durch eine Durchdringung der Wirklichkeit, insbesondere derjenigen des Menschen. In diesem entdeckte er das, allerdings „unformulierbare“[13] Absolute. Wie Emrichs Buch über Kafka zeigt, führte er diese besondere geistige Leistung Kafkas auf dessen Judentum zurück. In einer Anmerkung verweist er auf
„[…] Kafkas starke Hinneigung zum ostjüdischen Chassidismus seit etwa 1911/12 und überhaupt zur jüdischen Mystik, wo ja ein ethischer Rigorismus sich untrennbar verband mit der Überzeugung, dass das Göttliche, bzw. die unbedingte Forderung Gottes, im Menschen selbst liege.[…].[14]“
Es scheint so, als ob Emrich durch diese Einschätzung des jüdischen Geistes sein früheres, völlig entgegengesetztes Urteil wieder auszulöschen suchte. Ohne offen darüber zu sprechen, musste jedoch dieses Urteil wie ein Kainsmal an ihm haften bleiben.
[1] Diese Veranstaltung fand im Zusammenhang einer Gedenkfeier der „Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft“ anlässlich des 150. Todestages von Kleist statt.
[2] Wilhelm Emrich: Heinrich von Kleist: Selbstbewußtsein als Pflicht. In: Wilhelm Emrich: Geist und Widergeist. Wahrheit und Lüge in der Literatur. Studien. Frankfurt a. Main: Athenäum 1965, S. 130.
[3] Ebenda, S. 145 und 146.
[4] Hartwig Schultz: Begeisterer. Wilhelm Emrich ist tot. In: Frankfurter Rundschau, 13. 8. 1998. Der Nachruf endet folgendermaßen: „So blieb er jedoch in Berlin der einzige Germanist, der auch nach der Studentenbewegung großes Ansehen genoß und bis in die jüngste Vergangenheit zu begeistern verstand. Noch als Emeritus füllte er das Audimax.“
[5] Kurt Mautz: Der Urfreund. Roman. Paderborn: Igel-Verlag 1996.
[6] Peter Szondi: Einführung zu Adornos Vortrag : „Zum Klassizismus von Goethes ‚Iphigenie’“ am 7. 7. 1967. In: Peter Szondi: Über eine „Freie (d.h. freie) Universität“ Stellungnahmen eines Philologen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973, S. 56.
[7] „Wenn du dich aber überhebst – nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel dich!“ (Römer 11, 18b; „Einheitsübersetzung“)
[8] Der Sohn Emrichs: Hinderk Emrich, versucht jedenfalls das Verhalten seines Vaters im Dritten Reich in diesem Sinne, als taktisch gemeinte Anpassung zur Gewinnung eines größeren Spielraums für subversive Aktivitäten, zu interpretieren. Vgl. seinen Leserbrief in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. 9. 1998, S. 12.
[9] Wilhelm Emrich: „Franz Kafka:Porträt“. Ebd. (Nr. 2), S. 293
[10] Ebd.(Nr.2), S. 146.
[11] Wilhelm Emrich: „Der Einbruch des Judentums in das wissenschaftliche und fachliche Denken.“ In: „Das deutsche Fachschrifttum“ 1943, Heft 4/5/6, S. 1-2-
[12] Ebd., S. 1.
[13] Wilhelm Emrich: Franz Kafka, Frankfurt a. Main, Bonn . Athenäum-Verlag 1965 (4. Auflage), S. 56.
[14] Ebd., S. 423. (Emrich bezieht sich in dieser – anscheinend nachträglich eingefügten – Anmerkung auf das Buch von Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt a. M. Alfred Melzer Verlag 1957.
- Jüdische Remigranten als Lehrer der Deutschen nach dem Holocaust
- Walters Apfelbaum