Walters Apfelbaum

Walters Apfelbaum

 

 

Der Ausdruck „Vitalitätsbrocken“ kam mir in den Sinn, als Walter mit seiner physischen Wucht in unser Haus hineinplatzte. Allerdings war auch er schon angeschlagen mit seiner Thrombose so wie ich mit meinem Herzinfarkt vor vielen Jahren. Die Haare befanden sich bereits auf dem Rückzug. Mit seiner suggestiven Suada beherrschte er aber nach wie vor die Szene. Er schien unbedingt immer etwas los werden zu müssen. Allmählich bekam man dann mit, dass diese Leidenschaftlichkeit von seinem Engagement für Marx nicht zu trennen war. Sie wurde dann immer besonders hitzig, wenn er die Verwässerer von Marxens Werk „Das Kapital“ im Visier hatte. Als Einzelkind war er ohne Vater bei seiner Mutter aufgewachsen. Das Letztere traf ja auch auf mich zu. Im Unterschied zu ihm hatte ich aber noch einen Bruder, allerdings einen recht unzugänglichen. Überraschend sentimental wurde Walter, wenn er auf das gute Einvernehmen zwischen unseren Müttern zu sprechen kam. Er lebte mit einer Partnerin zusammen, war also unverheiratet und ohne Kinder. Wirklich verheiratet schien er trotz aller Lebenslust mit der Wissenschaft zu sein

Da musste schon etwas Besonderes passieren, dass er hier bei uns am Rhein, unweit von Mainz, aufkreuzte. Das war mein siebzigster Geburtstag, der aber nun, im Oktober, schon einige Monate zurücklag. Er, der Sozialist, hätte wohl kaum in die bürgerliche Geburtstagsgesellschaft gepasst, wie er lustvoll überspitzend meinte.

Von den gemeinsamen, höchst intensiven sechziger Jahren in Berlin kamen wir immer noch nicht los. Insbesondere nicht von unserem unglücklichen Doktorvater Szondi, der sich 1971 das Leben genommen hatte. Walter quälte der Gedanke, am Tod dieses Mannes durch seinen Weggang von ihm und seine Hinwendung zu Marx irgendwie mitschuldig geworden zu sein. Das leuchtete mir nicht ein. Zunächst sei es ihm ja bei seiner Beschäftigung mit Marx nur darum gegangen, mit seinen Hegel-Studien weiter zu kommen. Als er dann so weit zu sein meinte, gab es den Doktorvater aber nicht mehr. Trotzdem wollte er, der Soziologe, seinen ursprünglichen Pläne nicht ganz aufgeben. Nun beabsichtigte er nämlich, zwei Gedichte von Goethe aus verschiedenen Schaffensphasen auf Grundlage seiner neuen, durch Marx gewonnenen Erkenntnisse zu interpretieren. Unseren unglücklichen Doktorvater würde er damit leider nicht mehr erleuchten können. Vielleicht wollte er so aber beweisen, der Literaturwissenschaft trotz seiner brüsken Neuorientierung doch im Inneren treu geblieben zu sein.

Wenn nicht auch Marie-Claude und Babette gekommen wären, hätte sich Walter wahrscheinlich nicht zu diesem Besuch aufraffen können. Die beiden Französinnen hatten damals in den sechziger Jahren, um das mythische 1968 herum, in Berlin Germanistik studiert und gehörten zu unserem Freundeskreis.

Interessiert beäugte er unser Heim, meinen persönlichen Schutzraum, vor allem aber das Nest unserer Kinder. Musste ich mich etwa ihm gegenüber für dieses Refugium schämen, weil es von meinem Bruch mit unserer gemeinsamen Berliner Zeit, ihrer intellektuellen Unerbittlichkeit, zu zeugen schien? Jedenfalls ließ ich mich in unseren Gesprächen gelegentlich dazu drängen, mein Leben nach dem Fortgang von meiner Heimatstadt im Jahre 1980 zu verteidigen. Äußerlich war ich ja mit meiner sicheren Stelle an der Universität in Mainz besser integriert als er mit seinen Ausflügen in die freie Wirtschaft und seinen beachtlichen, aber auch hermetischen Studien zu Marx und Hegel. Wegen seiner mathematischen Begabung und seiner Fähigkeit zu systematischem Denken vermochte er in der Computer-Branche schon etwas zu bewegen. Ohne große Verbiegungen hätte er sich hier aber kaum lange halten können.

Wenn unser Widerwillen gegen die marktkonformen Geistesgrößen erneut aufflammte, waren wir uns wieder ganz einig – wie in den alten Zeiten.

In der Umgebung unseres Hauses spazieren zu gehen, erschien mir als die beste Möglichkeit, die Besucher für unser Heim, vielleicht sogar meine neuen Lebensumstände, zu erwärmen. Das mochte doch gerade auch für Walter, den bekennenden Naturburschen aus dem Wittgensteinschen Land, gelten. Immerhin spazierte ich hier schon seit Jahrzehnten herum, bis vor Kurzem noch mit unserem Hund. Dabei bevorzugte ich den Fußweg entlang des Rheins Richtung Ingelheim, gern mit dem Ziel des Ausflugslokals „Rheinklause“. Hier handelte es sich um ein kapellenartiges, im romanischen Stil gehaltenes Häuschen, das zu Kaisers Zeiten von einem Baron errichtet worden war. An den Wochentagen hatte ich diesen Weg mit seinen Pappeln, verworrenen Urwaldresten und gelegentlich herumspringenden Rehen fast für mich allein. Im Frühjahr war dieses vor dem Damm gelegene Gelände meist vom Hochwasser überflutet. Das Steigen und Fallen des Wassers pflegten wir gespannt von unserem Haus aus zu beobachten, das sich ja unmittelbar hinter dem Damm befand. Ich staunte regelmäßig, wie schnell sich die Vegetation nach dem Rückzug des Wassers etwa im April wieder erholte. Auch bewunderte ich die Leute, die sich trotz dieser jährlichen Widrigkeiten mit ihren wenigen Häusern in der „Leberts-Aue“ vor dem Damm angesiedelt hatten. Daran gewöhnt waren sie, während der Zeit des Hochwassers mit Booten an den Damm heran zu fahren. Ihre Autos hatten sie auf asphaltierten Flächen hinter dem Damm geparkt. Als mir einer von dieser Leuten einmal gestand, woanders nicht leben zu können, meinte ich ihn gut zu verstehen.

Lange redete ich mir ein, dass ich in diesem Naturschutzgebiet Urlaub von meinem strapaziösen Berlin machen und ich mich hier überhaupt im Exil befinden würde. Diese Rede begann aber deswegen fadenscheinig zu werden, weil ich sie schon so oft, seit Jahrzehnten gar, wiederholte. Als Claude Vigée einmal zu einer Lesung in der Mainzer Universität weilte, führte ich ihn auch in diese Landschaft. Er, der leidenschaftliche Rheinländer aus dem Elsass  – und zugleich leidenschaftlicher Jude –, fühlte sich hier gleich heimisch.

So brachen wir, die beiden Französinnen, Walter und ich zu unserem Spaziergang auf. Nun, im Oktober, verwandelte sich die Heiterkeit des Frühlings und des Sommers in den Ernst des Herbstes. Dass der Leichtsinn der warmen Tage durch die Strenge der heranziehenden kalten Tage zur Ordnung gerufen und umgekehrt der schon zu erahnende Winter durch den schwindenden Sommer milde gestimmt wurde, ließ ein reizvolles Zwielicht entstehen. Babette begann eifrig zu fotografieren.

Während des Spaziergangs auf dem Damm konnte Walter nicht davon lassen, mich wegen meines anscheinend wieder erwachten Interesses am Christentum von seinem materialistischen Standpunkt aus zu kritisieren. Da ihm jeglicher Idealismus und vor allem jegliche religiöse Spiritualität wie ein feiges Rückzugsverhalten gegenüber der Wirklichkeit vorkam, konnte er bei diesem Thema ordentlich in Wallung geraten. Imponierend waren ja seine Bücher, in denen er unablässig um eine Erweckung Hegels aus seiner idealistischen Trance und eine endlich korrekte Darstellung von Marxens Werttheorie kreiste. Den Gegensatz von Natur und Geist durch den „absoluten Geist“ zu überwinden, bedeutete das nicht, ihn erst recht, auf eine vermeintlich nicht mehr hinterfragbare Weise, zu installieren? Das beschäftigte Walter. So nahm er Hegel von Marx her in die Zange. Ein Tiefenbohrer war er, der auch dann noch weiter bohrte, wenn man ihn eigentlich schon wieder oben erwartete. Ich bedauerte schon, ihm nicht mehr ganz folgen zu können. Prägnant, aber auch ein wenig monoton kamen mir seine Überlegungen vor. Stolz berichtete er davon, wie oft seine teilweise im Internet publizierten Texte angeklickt wurden, sogar von China aus. Andererseits klagte er auch darüber, dass die renommierten Spezialisten ihn totschweigen würden. Manche von ihnen hatte er allerdings schon ordentlich auseinandergenommen. Da fühlte ich mit ihm solidarisch. Anscheinend war er nicht so richtig im Geschäft, was wahrscheinlich für ihn, seine Gründlichkeit, sprach. Umgekehrt konnten dann diejenigen, die so gut im Geschäft waren, wie Schaumschläger wirken. Walter tröstete sich damit, zumindest die Zukunft, wenn auch vielleicht erst nach seinem Tod, auf seiner Seite zu haben.

Neben dem Damm, auf der Seite zum Rhein hin, gab es kleine Obstplantagen, verfilzte Waldstückchen mit bizarren Baumfragmenten und Lichtungen. Ich machte meine Gäste auf eine solche Lichtung mit einigen üppig belaubten Bäumen aufmerksam. Walter hatte es ein alles überragender Baum von etwa sieben Meter Höhe mit weit ausholenden Ästen angetan, der Äpfel zu tragen schien. Bei meinen Promenaden auf dem Damm war mir dieser Baum schon aufgefallen. Im Frühling wirkte er mit seinen schwarzen und kahlen Ästen wie abgestorben und stach insofern von seiner bereits grünenden Umgebung ab. Außerdem neigte sich ein ganzer Flügel des Baums bedenklich tief zum Boden. Offensichtlich war er schon abgebrochen. So hatte ich diesen Baum bereits abgeschrieben. Walter registrierte aber, dass er doch noch recht vital war. Das zeigte sich auch an dem halb abgebrochenen Flügel, der überraschenderweise Äpfel trug.

Leichtsinnig kam es mir vor, wie behände Walter sich von dem steilen Damm herab auf den Baum zubewegte. Wir anderen folgten ihm vorsichtig. Übersät war der Boden unter dem Baum mit Äpfeln. Zu grün schienen sie noch zu sein, um sie aufzuheben. Bei genauerem Hinsehen wirkten sie mit ihren kräftigen roten Flecken doch wieder ganz vielversprechend. Etliche von ihnen waren von Vögeln oder Mäusen schon angefressen worden; andere lagen noch unversehrt herum. Walter brannte darauf, möglich viele mitzunehmen. Dazu fehlten uns aber die Transportmöglichkeiten. Ich gratulierte ihm dazu, diesen einsamen Apfelbaum in der verwilderten Gegend entdeckt zu haben. „Walters Apfelbaum“ taufte ich ihn.

Später, auch in den folgenden Jahren, machte ich mich auf, um Äpfel dieses Baumes aufzulesen oder zu pflücken. Eigentlich konnte man in diesen Apfel nicht unbeschwert hineinbeißen, weil ihm die nötige Süße fehlte. Jedenfalls war er noch saurer als ein Boskop. Katherine wusste aber etwas mit ihm anzufangen. Sie verwendete ihn für ihren berühmten „Apple Crumble“ oder den gedeckten Apfelkuchen.

Walter freute sich dann bei unseren Telefongesprächen, wenn ich auf „seinen“ Apfelbaum zu sprechen kam. Der war schon etwas Besonderes: Trotzig setzte er sich auf seine eigene, knorrige Weise darüber hinweg, schon abgeschrieben zu sein.

 

Helmut Pillau

Heidenfahrt, 31. 5. 2016