Joachim Ringleben, Gott im Wort. Luthers Theologie von der Sprache her

Joachim Ringleben, Gott im Wort. Luthers Theologie von der Sprache her, Mohr Siebeck,  Tübingen, 2010.

 

Im Hinblick auf das 500jährige Jubiläum der Reformation im Jahre 2017 schwillt die Flut der Publikationen zu diesem Ereignis und Luther in Deutschland gewaltig an. Hingewiesen werden soll hier aber auf ein Buch, das zwar schon 2010 erschienen ist, dem aber wegen seiner zentralen Fragestellung für die Theologie Luthers ein besonderes Gewicht zukommt. Ringleben, Professor für systematische Theologie an der Universität Göttingen, geht es um die Schlüsselrolle der Sprache für Luthers Theologie. Spannend wird seine Untersuchung auch deswegen, weil er sich dabei mit einem der Väter des Protestantismus im 20. Jahrhundert: Karl Barth anlegt.

Wie Barth Gott von seiner strikten Entgegensetzung zur (Menschen-)Welt zu denken, bedeutet, seine Entäußerung in diese Welt: „Kondeszendenz“ nicht recht würdigen zu können. Diese Kondeszendenz steht aber nach Ringleben gerade im Zentrum von Luthers Theologie. Gott macht sich damit den Menschen vernehmlich. Er wird innerhalb der menschlichen Sprache präsent, ohne sich dadurch zu verlieren – entsprechend der Titel von Ringlebens Buch: „Gott im Wort“. Ringleben zufolge ist Luthers Theologie demnach wesentlich eine Theologie der Sprache. Wenn bei Barth die Kondeszendenz unterbelichtet bleibt, so ergibt sich Ringleben zufolge daraus zunächst ein Spannungsverhältnis zwischen seiner Theologie und derjenigen Luthers. Außerdem kann er unter diesen Voraussetzungen kein rechtes Verständnis für die Sprache entwickeln: Dass der Geist in der Sprache nach Luther auf die sinnliche Welt der Menschen einzugehen vermag, ohne darin unterzugehen, muss Barth verschlossen bleiben. Er wird, nach einem harten Ausdruck Ringlebens, „sprachflüchtig“ (S. 11, Anmerkung Nr. 37).

Indem Ringleben demgegenüber Luthers Theologie von der Sprache her interpretiert, vermag er die ungeheuren Wirkungen dieser Theologie insbesondere  für die deutsche Sprache, die Literatur und die Philosophie in den Blick zu bekommen. So wird sein Buch auch für Nichttheologen, Literaturfreunde, Linguisten und Philosophen lehrreich.

Demonstrieren möchte er etwa, wie fruchtbar Luthers Sprachdenken ist: So bemüht er sich darum, Konvergenzen zwischen dem Werk von Dichtern wie Hölderlin, Goethe, Rilke und Benn einerseits und Luther andererseits aufzuweisen.

Ein breites theoretisches Fundament gewinnt seine Untersuchung dadurch, dass er das Sprachdenken Luthers zu Sprachtheoretikern und Philosophen wie J. G. Hamann, W. v. Humboldt, G. W. F. Hegel, F. Nietzsche und W. Benjamin in Beziehung setzt. Die umfangreiche Berücksichtigung von J. G. Hamann, dem originellen Sprachdenker in der Nachfolge Luthers, überzeugt mich besonders.

Bei der Wirkung von Luthers Sprachtheologie für die deutsche Sprache und Literatur (Bibelübersetzung!) handelt es sich aus der Sicht Luthers wohl nur um eine Nebenwirkung, allerdings eine überwältigende. Das Motiv der Kondeszendenz, also der selbsterniedrigenden Identifikation Gottes mit den Menschen, hat nach Luther eine Aufwertung der niedrigen Sprache: der „Volkssprache“ zur Folge. Diese vermag die Menschen vor allem in ihrer mündlichen Gestalt unmittelbar zu berühren und damit zu verwandeln. Das daraus erwachsende, theologisch begründete „Sprachvertrauen“ (S. 445) soll die Entwicklung der deutschen Sprache – eben auch in literarischer und philosophischer Hinsicht – mächtig beflügeln.

Imponierend finde ich, wie systematisch und reich orchestriert Ringleben seine Untersuchung entfaltet, wobei er den Grundgedanken der Kondeszendenz unter wechselnden Gesichtspunkten immer wieder neu und auf prägnante Weise formuliert. Diese Systematik wirkt – nach dem Titel von Luthers berühmtesten Kirchenlied – wie eine „feste Burg“, die Luthers Sprachtheologie sicher umschließt. Eine solche Engführung kann aber auch als eine Schranke der Untersuchung gelten. So immanent nachvollziehbar etwa die Rede von einem „Artikulationsfortschritt“ (S. 78) des Christentums gegenüber dem Judentum aus dem Blickwinkel der Kondeszendenz erscheinen mag, so sehr müsste sie doch auch im Hinblick auf Luthers heftigen Antijudaismus und generell das christlich-jüdische Verhältnis problematisiert werden.

Auch blendet Ringleben weitgehend die Paradoxie aus, dass Luther das Christentum durch die Privilegierung des erweckenden, insbesondere oralen Wortes erneuern möchte, er sich aber zur Verbreitung seiner Lehre bedenkenlos dem damals modernen Buchdruck anvertraut. Diskutiert wird auch nicht, welche Rolle die Sprachtheologie Luthers noch in der Gegenwart spielen kann, in der Sprache und Literatur vielleicht an Bedeutung verlieren. Schließlich ketzerisch gefragt: Haben nicht vielleicht die eigentümlichen Impulse von Luthers Sprachtheologie eher außerhalb des kirchlichen Rahmens, also in der Literatur und Philosophie, Früchte getragen? Aufschlussreich könnte es jedenfalls sein, nach einem möglichen Wechselverhältnis zwischen der kirchlich eingehegten Sprachtheologie Luthers und der außerkirchlichen poetischen Sprache zu fragen.

Helmut Pillau