Jüdische Remigranten als Lehrer der Deutschen nach dem Holocaust
Jüdische Remigranten als Lehrer der Deutschen nach dem Holocaust
Helmut Pillau
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Erstaunlich bleibt, wie es uns Deutschen nach dem absoluten Bruch mit der menschlichen Zivilisation durch den Nationalsozialismus gelang, wieder in diese Zivilisation zurückzufinden. Wenn man darüber nachdenkt, stößt man auch auf die Rolle jüdischer Remigranten. Juden waren ja nach dem Holocaust diejenigen, mit deren Rückkehr nach Deutschland man am wenigsten rechnen konnte. Trotzdem entschlossen sich einige von ihnen dazu, insbesondere Intellektuelle. Der Philosoph Jürgen Habermas spricht voll Dankbarkeit von ihnen. Für seine Generation sind sie, wie er schreibt, zu „unersetzlichen Lehrern“ [1] geworden. Bei dieser Aussage erinnere ich mich an ein Aperçu von Friedrich Nietzsche über die Rolle der Juden für die Deutschen:
„Europa ist gerade in Hinsicht auf Logisierung, auf reinlichere Kopf-Gewohnheiten den Juden nicht wenig Dank schuldig; voran die Deutschen, als eine beklagenswert deraisonnable Rasse, der man auch heute immer noch zuerst ‚den Kopf zu waschen’ hat. Überall, wo Juden zu Einfluß gekommen sind, haben sie feiner zu scheiden, schärfer zu folgern und sauberer zu schreiben gelehrt: ihre Aufgabe war es immer, ein Volk ‚zur Raison’ zu bringen.“[2]
Nietzsche hätte wohl nicht geahnt, in welch umfassenderen Sinne Juden nach dem Zivilisationsbruch des „Dritten Reiches“ für eine geistige Regeneration der Deutschen wichtig werden sollten.
Wenn ich an meine Schulzeit in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts zurückdenke, so verstehe ich Habermas gut. Er hatte die deplorable geistige Situation in den deutschen Universitäten im Auge; ich dagegen hatte es mit einer vergleichbaren Lage in der Schule zu tun. Statt uns den Weg weisen zu können, stolperten die Lehrer noch vielfach zwischen dem Pathos des Dritten Reiches und den Prinzipien der Demokratie hilflos hin und her. Insofern traf auch auf uns der Ausdruck „vaterlos“[3] zu, den Habermas für seine Generation verwendete.
Wenn ich von heute aus meinen Bildungsgang überblicke, so fällt mir auf, welch wichtige Rolle Juden dabei gespielt haben. Vor diesem Hintergrund leuchtet mir eine Bemerkung des Historikers Christian Graf von Krockow besonders ein, der zur Generation von Jürgen Habermas gehört:
„Die Heimkehrer aus der Emigration und Verfolgung waren für uns die moralisch und politisch, die geistig Glaubwürdigen […], denen wir uns anvertrauen durften.“[4]
Wie wenig selbstverständlich die Rückkehr deutscher Juden in ihre alte Heimat nach dem Kriege war, zeigte die Haltung der internationalen jüdischen Organisationen. Aus der Sicht des Jüdischen Weltkongresses sollte es nur noch darum gehen, in Deutschland gestrandeten Juden nach Palästina bzw. Israel weiter zu helfen und die Restbestände jüdischer Kultur in Deutschland zu sichern.[5] Sonst lag über diesem Land des Holocaust ein Bann, gar ein Fluch. Deswegen war man entschieden dagegen, dass sich Juden hier wieder ansiedelten. Wer dies trotzdem tat, galt als „’parasitärer’ Charakter“[6]. Man wollte ihn sogar aus der Gemeinschaft der Juden verstoßen, wenn er nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt Deutschland verlassen würde.[7] Diese Haltung verschärfte sich noch nach der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948. Die nun ausgegebenen Pässe enthielten den Vermerk: „mit Ausnahme nach Deutschland“.[8] Die israelischen Behörden gingen sogar so weit, bayerische Beamte im Falle einer Einreise von Israelis nach Deutschland um Amtshilfe zu bitten: Man möge doch diese israelischen Bürger wegen eines Passvergehens in Haft nehmen![9]
Auch der berühmte jüdische Philosoph Martin Buber sollte 1951 bei der Verleihung des Goethe-Preises durch die Stadt Frankfurt in Israel diese Feindseligkeit gegenüber Deutschland zu spüren bekommen. Deswegen konnte er den Preis erst zwei Jahre später in Empfang nehmen.[10]
Die Organisation der Juden in Deutschland war ständig einem entsprechenden Druck von Seiten des Jüdischen Weltkongresses und des israelischen Staates ausgesetzt. In dieser Organisation meinte man aber auch, sich neu gegenüber Deutschland positionieren zu müssen. Das sollte durch ihre offizielle Bezeichnung zum Ausdruck kommen. Den vor 1933 üblichen Begriff: „deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens“ gab man auf. Stattdessen nannte man sich nun: „Zentralrat der Juden in Deutschland.“[11]
Wenn demnach deutsche Juden kurz nach dem Kriege in die alte Heimat zurückkehrten, so riskierten sie ihre Ablehnung durch Juden außerhalb Deutschlands.
Im Folgenden möchte ich mich darauf beschränken, exemplarisch zwei prominente Rückkehrer vorzustellen. Mit dem Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel und dem Philosophen Theodor W. Adorno handelt es sich um zwei Persönlichkeiten, die mehr oder weniger mit meinem Studium an der Freien Universität Berlin in Verbindung stehen.
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Wie viele jüdische Remigranten gehörte der 1898 geborene Ernst Fraenkel zu den deutschen Juden, deren jüdische Identität eher verblasst war. Einer assimilierten Familie entstammend, engagierte er sich im Ersten Weltkrieg als Frontkämpfer. Danach richtete er seine Hoffnungen auf die Weimarer Republik, also auf die Entwicklung einer Demokratie in Deutschland. Er studierte Jura bei dem Sozialdemokraten und deutschen Juden Hugo Sinzheimer, der maßgeblich an der Ausarbeitung der Weimarer Verfassung beteiligt war. Nach 1933 zunächst von den Nazis als Frontkämpfer verschont, verließ er Deutschland erst 1938. Über England emigrierte er in die USA, deren Staatsbürgerschaft er annahm. Nach Kriegsende wurde er nach Südkorea geschickt, um dort bei der Ausarbeitung einer neuen, demokratischen Verfassung zu helfen. Leute wie ihn meinte man auch im ruinierten Deutschland gut gebrauchen zu können. So schrieb ihm der sozialdemokratische Politiker Otto Suhr, später Regierender Bürgermeister von (West-)Berlin, in diesem Sinne einen Bittbrief. Sehr eindrucksvoll finde ich, mit welch wohl fundierter Bitterkeit Fraenkel darauf antwortete. Aus diesem Brief vom 23. März 1946 möchte ich eine Passage zitieren:
„Ich glaube, daß es keinem Juden zugemutet werden kann, in Zukunft in Deutschland zu leben, und ich wehre mich mit aller Entschiedenheit dagegen, daß emigrierte Juden nach Deutschland zurückzugehen versuchen und damit die Auswanderung der wenigen Juden, die verschont geblieben sind, künstlich zu[sic] erschweren. Ich war lange genug in Deutschland, um zu wissen, daß ein sehr erheblicher Teil der deutschen Bevölkerung die Maßnahmen Hitlers gegen die Juden gebilligt hat. Nachdem dieser Feldzug zur Ausrottung geführt hat, ist es für mich als Juden nicht angängig, noch einmal die Sache dieses Volkes zu meiner eigenen zu machen. Das mag bitter klingen, ich fühle mich sehr bitter in dieser Frage. Ich glaube, daß diese Wunde nicht geheilt werden kann.“[12]
Letztlich ließ sich Fraenkel doch erweichen. Er knüpfte gewissermaßen an seine Aktivitäten in der Weimarer Republik wieder an, indem er nun an der „Deutschen Hochschule für Politik“ zu lehren begann. Diese Hochschule war in der Weimarer Republik gegründet worden, um Erwachsene, etwa Gewerkschaftsfunktionäre, „Demokratiewissenschaft“ zu vermitteln. 1959 sollte sie als „Otto-Suhr-Institut“ in die Freie Universität Berlin integriert werden. Dieses Institut war damals das größte seiner Art in der Bundesrepublik. In ihm lehrten zehn Professoren, denen insgesamt neunzehn in der übrigen Bundesrepublik gegenüberstanden.[13] Ernst Fraenkel gehörte mit anderen jüdischen Remigranten wie Ossip Flechtheim und Richard Löwenthal zu diesen zehn Professoren. Wie groß die Bedeutung dieses Instituts für die politische Bildung in der Bundesrepublik gewesen ist, lässt sich meiner Meinung nach am besten an dem von Ernst Fraenkel und dem Historiker Karl-Dietrich Bracher herausgegebenen, höchst erfolgreichen Bändchen „Staat und Politik“ ablesen. 1957 zuerst erschienen, erreichte es 1964 eine Auflage von 225 000 Exemplaren. In meiner Schulzeit und im Nebenfachstudium der Politischen Wissenschaft sollte es mich ständig begleiten. Um Fraenkels Vorstellungen von einer stabilen Demokratie zu verstehen, hilft ein Blick in dieses Buch, genauer: in die von ihm verfassten Artikel.[14]
Das Scheitern der „Weimarer Republik“ brachte Fraenkel zu der Einsicht, dass man zwischen „Volk“ und „Demokratie“ unterscheiden müsse. Von der Demokratie zu verlangen, den Volkswillen direkt widerzuspiegeln, lief aus seiner Sicht darauf hinaus, die Stabilität der Demokratie zu riskieren. Dieser radikaldemokratische Ansatz bedeutete etwa, dass momentane Stimmungslagen innerhalb des Volkes, nicht aber ein verantwortlich planendes Handeln die Politik bestimmten. Da sich Demagogen diese Stimmungen zu Nutze machten, konnten sich solche Staaten leicht in „autoritäre Diktaturen“[15] verwandeln. Offensichtlich hat Fraenkel hier den Aufstieg Hitlers vor Augen. Prinzipiell skeptisch bleibt er seitdem gegenüber einer Koppelung der Demokratie an die „öffentliche Meinung“ sowie gegenüber der plebiszitären Komponente der Demokratie. So soll er beim politischen Aufbau der Bundesrepublik eindeutig für die „repräsentative Demokratie“ plädieren. Dass spontane Initiativen aus dem Volke in Gestalt von Plebisziten oder Referenden der Demokratie nicht automatisch nutzen, weiß er aufgrund seiner eigenen historischen Erfahrungen nur allzu gut. Darin war er sich mit seinem Kollegen Löwenthal einig. Michael Wildt: „Das Volk – das hatten Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal persönlich erlebt – ist nicht per se der Souverän demokratischer Verhältnisse.“[16]
Die pathetische Anrufung des Volkes als des kollektiven Subjekts der Demokratie droht gerade die Demokratie ins Wanken zu bringen. Das zeigen heutzutage populistische Tendenzen in Deutschland, Frankreich und den USA. Sobald der Begriff des Völkischen als eine harmlose Ableitung vom Begriff des Volkes hingestellt wird, sollten jedenfalls die Warnlichter aufleuchten.
Wenn sich die Bundesrepublik als „repräsentative Demokratie“ entwickelte, so war dies auch auf die „Denkfabrik“ des „Otto-Suhr-Institutes“ zurückzuführen. Spezifische Erfahrungen jüdischer Remigranten schwangen dabei mit. Allerdings versteifte sich Fraenkel nicht dogmatisch auf eine Gegenposition zum Plebiszitären. Dies zeigt seine, gerade heutzutage relevante Anmerkung, dass es ein „Zentralproblem“ für die Verfassungspolitik der Gegenwart sei, repräsentative und plebiszitäre Elemente richtig auszubalancieren.
Wie ein Schock wirkte die Studentenbewegung in Berlin von 1967/1968 auf Fraenkel. Als Studenten die direkte Demokratie innerhalb der Universität und sogar in der Gesellschaft überhaupt mit rabiaten Mitteln durchzusetzen suchten, fühlte er sich an das Ende der „Weimarer Republik“ erinnert. Er sah sein Lebenswerk bedroht.[17]
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Theodor W. Adorno, 1903 in Frankfurt am Main geboren, entstammte wie Fraenkel einer assimilierten deutsch-jüdischen Familie. Nur sein Vater mit dem Namen Wiesengrund war jüdischer Abstammung, seine Mutter, geborene Cavelli-Adorno, war eine nichtjüdische Italienerin. Tief durchdrungen wurde er, der Hochbegabte, von der deutschen Kultur, insbesondere der Musik und der Philosophie. Sein Ehrgeiz richtete sich zunächst darauf, im Geiste von Arnold Schönberg zu komponieren. Am meisten zog ihn aber letztlich die Philosophie an, in seinem Falle auch mit der Variante der Musikphilosophie. 1933 verließ er Deutschland und emigrierte über England in die USA. Wie Ernst Fraenkel nahm er dort die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Als das ursprünglich in Frankfurt beheimatete „Institut für Sozialforschung“ unter Adornos Freund Max Horkheimer 1950 nach Frankfurt zurückkehrte, kehrte auch Adorno in die alte Heimat zurück. Auf die deutsche Sprache meinte er als Philosoph wegen ihres „metaphysischen Überschusses“[18] nicht verzichten zu können. Er spürte sofort das geistige Vakuum, das nach dem „Dritten Reich“ in Deutschland entstanden war. Auch dies sollte ihn zu seinen ungeheuren intellektuellen, auch öffentlich wirksamen Aktivitäten von einer großen interdisziplinären Spannweite anspornen. Auf den Gebieten der Philosophie, Soziologie, Musikwissenschaft und Ästhetik wurde er produktiv. Er entwickelte sich „zum einflussreichsten philosophischen Lehrer der zweiten deutschen Republik“[19], gar zu einer „politischen Leitfigur“[20]. Als ich in den sechziger Jahren in Berlin bei dem Literaturwissenschaftler Peter Szondi, einem ungarischstämmigen Juden, studierte, begegnete ich Adorno einige Male. Zu jener Zeit war es eine Ehrensache für die Doktoranden Szondis, alle neu erscheinenden Schriften Adornos zu lesen. Ich wunderte mich gelegentlich darüber, wie sehr sich manche junge Intellektuelle mit Adornos Denkfiguren identifizierten und sogar seinen sperrigen Stil imitierten. Dies verstanden sie womöglich als Gegengift zu einer tückischen deutschen Biederkeit, die auch ihnen, gleichsam von Hause aus, innewohnte.[21]
Das „Affirmative“ ist vielleicht das Reizwort, das bei Adorno, vor allem aber seinen Schülern, besonders hervorsticht. Man kritisiert im Hilfe dieses Ausdrucks etwa einen bestimmten, konventionellen Umgang mit literarischen oder philosophischen Werken. So wird ein Werk, in dem ein Leiden an den bestehenden Verhältnissen zur Sprache kommt, in ein so mildes Licht gerückt, das es plötzlich zur Verklärung dieser Verhältnisse taugt. Adorno zufolge betrügt man auf diese Weise nicht nur das Werk, sondern auch sich selbst. Statt sich der subversiven Kraft seiner eigenen Wünsche anzuvertrauen, passt man sich lieber an. So macht man sich unter dem wohlwollenden Blick der Mächtigen kleiner als man angesichts der Spannweite seiner Wünsche wirklich ist. Wenn Adorno demnach Anstoß an der Neigung zum „Affirmativen“ nimmt, so nicht aus bloßer Lust an der Negation. Vielmehr steckt hinter seinem prononcierten Nein ein größeres Ja, das aber noch nicht zu seinem Grund gefunden hat.
Statt nun weiter pauschal über Adornos Philosophie zu sprechen, möchte ich mich im Folgenden auf die Behandlung eines Textes beschränken: „Erziehung nach Auschwitz“. Dieser Text, ursprünglich ein Vortrag im Hessischen Rundfunk aus dem Jahre 1966, soll etwas genauer ins Auge gefasst werden. Er ist allgemein verständlich gehalten. Trotzdem stößt man auch hier auf die beklemmenden Grundgedanken von Adornos Philosophie.
Eigenartig können uns Adornos Überlegungen zu einer „Erziehung nach Auschwitz“ deswegen vorkommen, weil er sich selbst dabei gleich ins Wort fällt. Der Erzieher wird hier unter der Voraussetzung aktiv, dass er die Erfolgsaussichten der Erziehung erst einmal prinzipiell anzweifelt. Adornos pessimistischer Einschätzung zufolge handelt es sich nämlich bei den Denkweisen, die den Holocaust möglich gemacht haben, um diejenigen, die nach wie vor den Ton angeben. Er geht sogar so weit, die menschliche Zivilisation insgesamt in ein kritisches Licht zu rücken. Den Schlüssel für den zivilisatorischen Fortschritt bildet ihm zufolge eine kalte Rücksichtslosigkeit gegenüber den Dingen, die letztlich auch auf den Menschen selbst übergreift. Um erfolgreich zu sein, muss man innerlich erkalten. Wohin das schlimmstenfalls führen kann, soll nach Adorno durch die systematische Ausrottung von vermeintlich Andersartigen offenbar werden. So spricht er vom „Desperaten“[22], das aus seiner Sicht alle Bemühungen um eine „Erziehung nach Auschwitz“ von vornherein überschattet. Statt sich aber von dieser Verzweiflung lähmen oder zu Kurzschlusshandlungen hinreißen zu lassen, versucht er das Beste aus dieser blockierten Lage zu machen Das meint er wahrscheinlich auch den Opfern des Holocaust schuldig zu sein. Von heute aus können wir darüber nachdenken, aus welchen persönlichen Gründen Adorno diesen „düstersten Aspekt einer Erziehung nach Auschwitz“[23] so sehr betont. Zum einen lastet auf ihm wohl der Gedanke, dass auch er ein Opfer des Holocaust hätte werden können. Seine prägende Erfahrung als marginalisierter Jude ist es, fast die ganze Welt gegen sich zu haben. Zum anderen müssen wir bedenken, wie lange der Nationalsozialismus in ideologischer und vor allem personeller Hinsicht in der deutschen Gesellschaft der Nachkriegsgesellschaft noch nachwirkt. Dies war dem Remigranten aufgrund eigener Erfahrungen nur allzu bewusst. Um Ereignisse wie den Holocaust ein für allemal auszuschließen, wäre ein grundlegender, ja revolutionärer Wandel der Gesellschaft vonnöten. Dafür sieht Adorno aber derzeit keine Chancen:
„Da die Möglichkeit, die objektiven, nämlich gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen, die solche Ereignisse ausbrüten, zu verändern, heute aufs äußerste beschränkt ist, sind Versuche, der Wiederholung entgegenzuarbeiten, notwendig auf die subjektive Seite abgedrängt.“[24]
Statt also seine Hoffnung auf eine gesellschaftliche Umwälzung zu setzen, richtet Adorno seinen Blick notgedrungen auf den einzelnen Menschen. Wenn er nun die Psychologie und Soziologie ins Spiel bringt, so hat er dabei die möglichen aufklärerischen Wirkungen dieser Disziplinen im Auge.
Fatal für die menschliche Gesellschaft ist nach Adorno, wie wenig es in ihr trotz aller offiziellen Beteuerungen doch auf den Einzelnen ankommt. Sobald man diesen Beteuerungen Glauben schenkt, hat man schon verloren. Leichter findet man es sowieso, im Einklang mit den anderen zu bleiben. Das versteht man unter Glück. Dass man auf diese Weise nur eingelullt wird, vermag man allenfalls durch ein dumpfes Unbehagen zu spüren. Dieses reagiert man in der Regel durch eine Aggressivität gegenüber denjenigen ab, die anders als man selbst sind. Adorno meint nun, dass Ereignisse wie der Holocaust gerade durch ein solches, anscheinend unausrottbares Bedürfnis nach dem „Mitmachen“[25] möglich werden. Beim Nationalismus handelt es sich ihm zufolge um die Ideologie, die dieses Bedürfnis besonders effektiv zu nutzen versteht. Gefährlich wird der Nationalismus in der Gegenwart deswegen, weil er sich durch die internationale Vernetzung in die Enge getrieben fühlt. So wird er im besonderen Maße anfällig für „sadistische Praktiken“[26] wie im Extrem für den Völkermord.
Es käme also nach Adorno gleichsam erzieherisch darauf an, dem Einzelnen bewusst zu machen, was er selbst durch seine automatische Anpassung verliert. Erfahren müsste er, wie wenig er als solcher, in seiner Einzigartigkeit, innerhalb des Kollektivs etwas gilt. Dass er um seiner selbst willen geachtet wird, könnte nur durch die Liebe bezeugt werden. Solange aber das Kollektiv gegenüber dem Einzelnen dominiert, vermag sie sich nicht zu entfalten:
„Sie [d. h. die Menschen, insbesondere die Technikfreaks] sind durch und durch kalt, müssen auch zuinnerst die Möglichkeit von Liebe negieren, ihre Liebe von anderen Menschen, von vornherein, ehe sie sich entfaltet, abziehen.“[27]
Gerade in unserem kirchlichen Rahmen ist interessant zu hören, wie Adorno unter diesem Blickwinkel das Christentum beurteilt:
„Es war einer der großen, mit dem Dogma nicht unmittelbaren Impulse des Christentums, die alles durchdringende Kälte zu tilgen. Aber der Versuch scheiterte; wohl darum, weil er nicht an die gesellschaftliche Ordnung rührte, welche die Kälte produziert und reproduziert.“[28]
Diese Kritik am Christentum überzeugt aber meiner Meinung nach deswegen nicht, weil ja Adorno selbst eine radikale Infragestellung der „gesellschaftlichen Ordnung“ unter den gegenwärtigen Bedingungen ausschließt. Um also Ereignissen wie dem Holocaust vorzubeugen, bleibt zunächst nur, sich auf den Einzelnen statt auf die Gesellschaftsveränderung zu konzentrieren.
Adorno setzt darauf, den Einzelnen erst einmal zu sich selbst zu bringen. Solange dieser sich primär über sein Kollektiv, die Nation oder sogenannte objektive Notwendigkeiten definiert oder besser: sich definieren lässt, gibt es ihn als solchen noch gar nicht. Adorno greift zu einem der zentralen Begriffe der Philosophie Kants, denjenigen der „Autonomie“, um diese immer auch riskante Besinnung des Einzelnen auf sich selbst zu bezeichnen.[29] Erst als autonomes Wesen würde aber der Einzelne die innere Sensibilität für sich selbst und andere wieder gewinnen können, die durch seinen Hang zum „Mitmachen“ verschüttet wurde. Wohl vorbereitet durch seine eigenen diversen soziologischen Studien in den USA, stellt uns Adorno den Typus des „manipulativen Charakters“ vor Augen. Erschrecken sollen wir darüber, wie wenig sich dieser moderne Prototyp eines Erfolgsmenschen von den furchtbaren „Naziführer(n)“[30] unterscheidet. Wenn Adorno englische Vokabeln aus seinen früheren Studien in die Argumentation mit einfließen lässt, so scheint er damit die Aktualität dieses Typus herausstreichen zu wollen:
„Er [d.h. der „manipulative Charakter“] will um jeden Preis angebliche, wenn auch wahnhafte Realpolitik betreiben. Er denkt oder wünscht nicht eine Sekunde lang die Welt anders, als sie ist, besessen vom Willen of doing things , Dinge zu tun, gleichgültig gegen den Inhalt eines solchen Tuns. Er macht aus der Tätigkeit, der Aktivität, der sogenannten efficiency als solcher einen Kultus, der in der Reklame für den aktiven Menschen anklingt“.[31]
Angesichts der Macht des Mainstreams bleibt Adorno skeptisch, ob er den Leuten durch ein solches Durchleuchten ihres geheimen Leitbildes wirklich die Augen zu öffnen vermag. Statt mit einem Erfolg bei der „Erziehung nach Auschwitz“ zu rechnen, möchte er sich eher durch das Ausbleiben des erwarteten Misserfolges überraschen lassen.
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Wie Fraenkel so geriet auch Adorno durch die Studentenbewegung in Bedrängnis. Trotz oder gerade wegen der gewissen Nähe der revoltierenden Studenten zu seiner Philosophie attackierten sie ihn. Nähe schlug in Entzweiung um. Zur Veranschaulichung dieses Umschlagens möchte ich auf das Motiv der Verzweiflung zurückkommen.[32] Bei Adorno führt die Verzweiflung über die blockierten Verhältnisse zu einem Ausharren in der philosophischen Reflexion und im Ästhetischen; bei den wütenden Studenten dagegen zu einem wüsten, kurzschlussartigen Aufbegehren gegen diese Verhältnisse, letztlich auch gegen Adorno. Dieser starb 1969 mit 66 Jahren. Manche aus seinem Freundeskreis sehen einen Zusammenhang zwischen seinem relativ frühen Tod und diesen Ereignissen.
Das Abtreten der Generation von Fraenkel und Adorno aus der Öffentlichkeit der Bundesrepublik verweist auch auf das Ende eines bestimmten Kapitels in den Beziehungen zwischen Deutschen und Juden, insbesondere zwischen nichtjüdischen Deutschen und deutschen Juden. Bei beiden Männern handelt es sich um deutsche Juden, die noch selbstverständlich in der deutschen Kultur verwurzelt waren und auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiter in diesem Rahmen, allerdings bereichert durch ihre Erfahrungen in den USA, agierten. Insofern mag ihr Wirken wie ein später Ausläufer der sogenannten „deutsch-jüdischen Symbiose“ erscheinen, von der bis 1933 noch zu Recht geträumt werden konnte. Danach, in den folgenden Jahrzehnten, soll ein ganz neues Verhältnis zwischen Juden und Deutschen entstehen. Da nun die Juden angesichts Israels ihrer selbst sicher geworden sind, können sie den Deutschen selbstbewusst – insbesondere als Israelis – gegenübertreten.
Fraenkel und Adorno sowie andere jüdische Remigranten[33] halfen den Deutschen in der frühen Geschichte der Bundesrepublik dabei, eine Widerstandskraft gegenüber der Suggestivität des Kollektiven zu entwickeln. Nietzsche nannte die Juden einmal „Wegzeiger für die Europäer“[34]. Als solche haben die jüdischen Remigranten auch bei uns gewirkt.
(Vortrag am 9. November 2016 im Rahmen einer Gedenkveranstaltung zur „Reichspogromnacht“, veranstaltet von den beiden christliche Kirchen und dem Forum „Kultur und Politik“ in Heidesheim am Rhein)
[1] Jürgen Habermas: Großherzige Remigranten. Über jüdische Philosophen in der frühen Bundesrepublik. In: Neue Zürcher Zeitung, 2. 7. 2011.(http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/grossherz…)
[2] Friedrich Nietzsche: „Die fröhliche Wissenschaft“. In: Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, hg. von Karl Schlechta. München: Hanser 1955, Bd. 2, S. 215.
[3] Habermas (Nr. 1), S. 7.
[4] Zitiert nach: Carola Dietze:’Kein Jud’ und kein Goi’. Konfligierende Selbst- und Fremdwahrnehmungen eines assimilierten ‚Halb-Juden’ in Exil und Remigration: das Beispiel Helmuth Plessner. In: ‚Auch in Deutschland waren wir nicht wirklich zu Hause’. Jüdische Remigration nach 1945. Hg. von Irmela von der Lühe, Axel Schildt und Stefanie Schüler-Springorum. Göttingen: Wallstein-Verlag 2008, S. 237.
[5] Vgl.: Dan Diner: Im Zeichen des Banns. In: Michael Brenner (Hg.): Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart. München: Beck 2012, S. 29. (Hier über „Jewish Cultural Reconstruction“)
[6] Ebd., S. 19.
[7] Ebd., S. 22.
[8] Ebd., S. 23 („prat le germania“)
[9] Ebd.
[10] Ebd., S. 24
[11] Ebd., S. 9.
[12] Zitiert nach: Michael Wildt: Die Angst vor dem Volk. Ernst Fraenkel in der deutschen Nachkriegsgeschichte. In: Monika Boll, Raphael Gross (Hg.):’Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können.’ Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945. Frankfurt a. M.: Fischer 2013, S. 317/318.
[13] Ebd., S. 329.
[14] Ernst Fraenkel und Karl-Dietrich Bracher: Staat und Politik. („Das Fischer Lexikon“ Nr. 2) Frankfurt a. M.: Fischer 1964. Hierin die Artikel: „Demokratie“ (zusammen mit K.-D. Bracher), „Judenfrage“, „Plebiszit“, „Repräsentation“.
[15] Ebd., S. 252.
[16] Ebd. (Nr. 12), S. 336. Vgl. auch: „Aber dass das Volk nicht per se demos ist, sondern ethnos werden kann, dass ihm eine Potentialität totalitärer Herrschaft innewohnt, haben Fraenkel und Löwenthal klar gesehen.“ Ebd., S. 339.
[17] Zur richtigen Ausbalancierung von repräsentativen und plebiszitären Elementen, ebd. (Nr. 14), S. 253. Erwähnenswert ist auch, dass er zu den Vätern des „konstruktiven Misstrauensvotums“ gehört.
[18] Theodor W. Adorno: Auf die Frage: Was ist deutsch. In: Th. W. Adorno: Stichworte. Kritische Modelle 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969, S. 111.
[19] Christian Schneider: Apriorische Erfahrungen und Menschheitskatastrophe. In: Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens. Hg. von Wolfram Ette, Günter Figal , Richard Klein und Günter Peters. Freiburg/München. Albers 2004, S. 472.
[20] Alfons Söllner: Adornos ‚Einsatzstelle’ im kulturellen Kontext der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ebd. (Nr. 19), S. 512.
[21] Christian Schneider zufolge bot Adorno seinen Studenten die „Möglichkeit einer alternativen intellektuellen Herkunft.“ Ebd. (Nr. 19), S. 475.
[22] Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz. In. Theodor W. Adorno: Stichworte (Nr. 18), S. 85.
[23] Ebd., S. 97.
[24] Ebd., S. 86.
[25] Ebd., S. 90.
[26] Ebd., S. 101.
[27] Ebd., S. 97.
[28] Ebd., S. 99
[29] Ebd., S. 90. In Adornos „Glosse über Persönlichkeit“ findet sich folgende prägnante Definition von „Autonomie“: „[…] die Kraft des einzelnen, nicht blind über ihm Ergehenden sich anzuvertrauen, ebenso blind ihm sich gleichzumachen.“ Ebd. „Stichworte“ (Nr. 18), S. 56.
[30] Ebd. (Nr.22), S. 94.
[31] Ebd.
[32] Alfons Söllner spricht insbesondere im Blick auf Adornos früher Philosophie („Minima Moralia“) von einer „Philosophie der Verzweiflung“. Ebd. (Nr. 20), S. 508.
[33] Jürgen Habermas nennt die Philosophen Adorno, Horkheimer, Helmut Kuhn und Michael Landmann. Er bemerkt dazu: „Gerufen wurden die wenigsten.[…]Es waren also relativ wenige Philosophen, die überhaupt zurückamen.“ Ebd. (Nr. 2), S. 1 und 3.
[34] In: Friedrich Nietzsche: „Morgenröte“. Gedanken über die moralische Vernunft. In: Nietzsche (Nr. 1), Bd. 1, S. 1154.
- Eine These zur Rhetorik von Wilhelm Emrich
- Zwischen Verdammung und Hochschätzung des jüdischen Geistes: Wilhelm Emrich