Eine These zur Rhetorik von Wilhelm Emrich
Eine These zur Rhetorik von Wilhelm Emrich
Den Ausdruck „Verkündigungsstil“, den Jörg Schönert für die Rhetorik von Wilhelm Emrich gebraucht, finde ich treffend. Auch von einem „emphatischen Stil“ war die Rede. Ich selbst erinnere mich daran, wie ich während meines Studiums an der FU Berlin manchmal vom „Propheten Emrich“ murmelte. (Der Titel eines seiner Bücher: „Protest und Verheißung“ scheint dazu zu passen.) Dabei kam es mir auf den Kontrast zwischen der Hoheit eines Propheten und der Kleinheit eines Emrich an. Der Schauspieler Rolf Mautz, der Emrich durch seinen Vater Kurt Mautz, einen engen Jugendfreund Emrichs, kennengelernt hatte, fühlte sich angesichts der Rhetorik Emrichs an das Hochtönende früherer Staatsschauspieler wie Heinrich George, Albert Bassermann oder Ernst Schröder erinnert.
Diese Rhetorik Emrichs verweist auf einen bestimmten, für ihn charakteristischen Umgang mit den literarischen Texten. Statt diese nur nüchtern aus einer wissenschaftlichen Distanz zu behandeln, werden sie zumindest potenziell als Quellen illuminierender Botschaften verstanden. Gefahndet wird nach einem in den Worten schlummernden Sinn, den es zu erwecken und dann auch zu verkünden gilt. Von einer „pneumatologischen“ Verfahrensweise könnte hier gesprochen werden. Bei dieser würde die Vermittlung des Sinns von literarischen Texten vor der philologischen Präzision rangieren. Dass die Rezipienten, seien es die Zuhörer der Vorlesungen oder auch die Leser der Abhandlungen, davon angeregt oder gar entzündet werden, scheint diesen Umgang mit der Literatur zu rechtfertigen. Jedenfalls wurden die Vorlesungen Emrichs, so wie ich sie erlebt habe, oftmals zu kleinen „Events“.
Vorschlagen möchte ich nun, die Eigenart dieser Verfahrensweise bzw. dieses Stils mit einer bestimmten zeitgeschichtlichen Situation: der Nachkriegszeit in West-Deutschland, genauer: den späten fünfziger und sechziger Jahre des vergangenen Jahrhundert und mit Emrich selbst, sein allenfalls nur halb eingestandenes Versagen im Dritten Reich, in Zusammenhang zu bringen. Meine These wäre, dass Emrich mit dieser Rhetorik auch deswegen so gut ankam, weil er damit der damals noch üblichen, halbherzigen, abstrakt bleibenden Art der ‚Vergangenheitsbewältigung’ entsprach. Abstrakt blieb sie insofern, als sie sich etwa auf eine allgemein moralische oder geschichtsphilosophische Weise vollzog. Kaum erträglich fand man es noch, sich seiner eigenen, konkreten Verantwortung für das Geschehen im Dritten Reich zu stellen. Deswegen musste sich das Bedürfnis nach einer Katharsis eben in dem pathetischen Ritual der Katharsis erschöpfen. Aufklärung, ins abstrakt Weltanschauliche hochgeschraubt, fungierte als Variante von „Beschweigen“ (Jörn Rüsen).
Diese – auch staatlich geförderte – Kultur einer inneren Reinigung musste aber in sich zusammenbrechen, sobald sie mit den realen Taten der Akteure im Dritten Reich konfrontiert wurde. Dann entpuppten sich die beschwörenden großen Worte plötzlich als Ausflüchte gegenüber den bislang beschwiegenen eigenen Handlungen. Man hatte sich anscheinend nur deswegen zum imposanten Sinnstifter aufgeschwungen, um damit sein klägliches Versagen in der Vergangenheit zu überdecken. Die brillante öffentliche Rolle des Individuums wurde zu seinem Versteck. So kann man sich den großen Schock vorstellen, den das fiktionale Enthüllungsbuch von Kurt Mautz: „Der Urfreund“ bei Wilhelm Emrich ausgelöst haben muss. Zitiert wird hier etwa aus einem kompromittierenden antisemitischen Pamphlet Emrichs, das er 1943, also im Zenit des Genozids an den Juden, verfasst hat.
Da fällt mir auch der kurze Brief ein, den mir Wilhelm Emrich am 25. 12. 1974 zusammen mit seinem Gutachten über das erste Kapitel meiner Dissertation über Hegels Tragödientheorie und Schillers Dramatik geschickt hatte. Am Schluss kommt er auf meine Behandlung des „Bösen“ in Hegels Ästhetik zu sprechen. Das interessiert ihn deswegen, weil es sich beim Bösen nicht nur, wie von mir dargestellt, um eine Problem der „bodenlosen Individualität“, sondern, wie das Problem des Faschismus zeige, auch um ein Problem der Geschichte selbst handele.
An dieser Bemerkung Emrichs ist ablesbar, wie er sich mit dem Fiasko des Dritten Reichs, indirekt damit wohl vor allem mit dem Holocaust, auseinandersetzen möchte. Indem er dieses Geschehen als Einbruch des Bösen in die Geschichte deuten will und er es damit auf eine abstrakte geschichtsphilosophische Ebene hebt, vermag er es sich selbst vom Leibe zu halten. Durch ihren Abstraktionsgrad würde dann in diesem Falle die allgemeine Reflexion wie bei seiner Umgangsweise mit den literarischen Werken eher zu einem Verwischen als zu einem Verdeutlichen führen. Wenn Emrich seine Briefe an Kurt Mautz gelegentlich mit „der große Pan“ unterzeichnet, so scheint er damit nicht ohne Selbstironie auf seine gewisse Präferenz für das Visionäre auf Kosten des Minutiösen anzuspielen. Wie aber die öffentliche Wirkung Emrichs zeigt, geht es hierbei eben nicht nur um eine subjektive Eigenart.
Die Enthüllungen über seine Vergangenheit im Dritten Reich, die durch das Buch von Kurt Mautz provoziert wurden, und der Workshop über Wilhelm Emrich vom 19. und 20. Februar 2016 in der Humboldt-Universität haben mir dazu verholfen, Emrich historisch einzuordnen. Ich bin mir aber auch bewusst, wie eng meine eigene Lebens-und Bildungsgeschichte mit dieser größeren Geschichte – auf eine persönlich keineswegs nur unheilvolle Weise – verflochten ist. Helmut Pillau, Heidenfahrt, d. 8. 3. 2016
Dieser Text ist im Zusammenhang eines Workshops über Wilhelm Emrich entstanden, der vom 19. bis zum 20. Februar 2016 an der Humboldt-Universität zu Berlin unter der Leitung von Prof. Jörg Schönert stattfand.
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