Über eine musikalische Vorliebe: Johannes Brahms
Über eine musikalische Vorliebe: Johannes Brahms
Helmut Pillau
Am Beginn der vierten Symphonie von Brahms bleibt in der Schwebe, ob das Thema als gleichmütige Wiedergabe einer Wellenbewegung oder verhüllter Ausdruck eines Schmerzes aufzufassen ist. Dieses Fragezeichen nistete sich jedenfalls bei mir ein, seitdem ich das Werk zum ersten Mal, noch in meiner Schulzeit, hörte. Wie eine Leerstelle mit dem enormen Potenzial zur Konkretisierung kam mir das vor. Eine Obsession, nicht nur damit, sondern mit Brahms überhaupt, sollte sich nun beinah entwickeln.
Da gab es eine Lehrerin, die ich gern an meinen neuesten aufregenden Entdeckungen teilnehmen lassen wollte. Ihr war eine Abhandlung zugedacht, nicht über die Symphonie insgesamt, sondern nur über den dritten Satz. Dieser kontrastierte scharf mit dem vorhergehenden langsamen Satz: „Andante moderato“. In einer neutral und fahl wirkenden Umgebung war es dort zum überraschenden Ausdruck einer untröstlichen Wehmut gekommen. Clara Schumann zeigte sich befremdet über den darauf folgenden Satz: „Allegro giocoso – Poco meno presto“, der sich strikt gegen jeglichen Gefühlsausdruck zu verwahren schien.
Seltsam war schon, wie ich mich damals mit Brahms gegenüber meinen bedrohlicher werdenden Gefühlen zu wappnen suchte. Altklug erhob ich ihn, in Anlehnung an Nietzsches Essay über Schopenhauer, zum „Erzieher“. Ich verkündete: Brahms kann lehren, wie man sich zu seinen Gefühlen bekennt, ohne ihnen zum Opfer zu fallen. Mein Freund Reimar, den ich mit meinen Weisheiten traktierte, belächelte meine neueste, von Brahms entliehene Lebensdevise: „FAE – Frei aber einsam!“
Da war es doch gut, dass ich den Komponisten auch von einer anderen Seite kennenlernte. Ende der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts entrüsteten sich Moralapostel, insbesondere amerikanische Puritaner, über einen französischen „Skandalfilm“ von Louis Malle: „Les amants“. Jeanne Moreau verkörperte dort die frustrierte Ehefrau eines blasierten Geschäftsmanns, die sich zu einer leidenschaftlichen Affäre mit einem zufällig auftauchenden Studenten hinreißen ließ. Die Musik des jungen Brahms – der zweite Satz seines ersten Streichsextetts: „Andante, ma moderato“ – eignete sich offenbar vorzüglich dazu, das Liebesspiel der beiden zu untermalen. Man geriet hier in den Bann einer unerbittlich drängenden, aber auch beglückenden musikalischen Bewegung, die langsam anschwoll und schließlich wieder abflaute. Notwendigkeit verwandelte sich in Seligkeit.
Diese Musik beeindruckte mich so sehr, dass ich mir gleich die Schallplatte mit (unter anderem) Pablo Casals und Isaac Stern besorgte. Besonders authentisch wirkte diese Aufnahme vom Festival in Prades aus dem Jahre 1952 durch das Mitbrummen und Mitjaulen von Casals. (Glenn Gould sollte es ihm in dieser Hinsicht ja gleich tun.) Das war überhaupt die erste Platte, die ich mir in West-Berlin kaufte, denn sonst pflegte ich Platten im billigeren Ost-Berlin zu kaufen.
Da stieß ich also auf den frühen Brahms, denjenigen der stürmischen drei Klaviersonaten, des ersten Klavierkonzertes mit dem explosionsartigen Beginn und dem Klavierquartettt in g-moll, später orchestriert durch den Brahms-Fan Arnold Schönberg.
So unvermittelt wie hier ließ Brahms sein Inneres später nicht mehr zur Sprache kommen. Nun hegte er es sorgfältig ein oder suchte es wie eben bei seiner vierten Symphonie durch einen brüsken Einspruch in die Schranken zu weisen.
Ich hörte wieder einmal seine dritte Symphonie, nun in der eher entlegenen Aufnahme eines Konzertes mit den Leningrader Philharmonikern unter Yevgeny Mrawinsky aus dem Jahre 1972. Insbesondere bei dieser Gelegenheit wurde mir bewusst, wie sehr doch die übliche Unterscheidung zwischen dem frühen und späten Brahms einem rechten Verständnis des Werks selbst im Wege stehen konnte. Diese Einteilung verhalf dazu, schon im voraus im Bilde zu sein. Indem man das Werk der einen oder der anderen Seite zuordnete, drohte aber gerade eine markante Diskontinuität im Werk verfehlt zu werden.
Diese Symphonie macht zunächst einen defensiven Eindruck – vor allem im Vergleich mit der ersten und vierten Symphonie. Der Komponist hat sich hier von den Frontlinien eindeutiger Bekenntnisse optimistischer oder pessimistischer Art zurückgezogen. Er scheint sich nun damit zu begnügen, einem wohl unabänderlich gewordenen Status quo noch Tröstliches abzugewinnen. Davon zeugen insbesondere die beiden Mittelsätze, in denen Melancholie durch ihr Aussingen mit dem Leben versöhnt wird. Die wogende Unruhe im ersten Satz wirkt deswegen nicht offensiv, weil ihr die Zielstrebigkeit eines menschlichen Willens fehlt. Vor diesem Hintergrund überrascht die trotzige Erbitterung, die plötzlich im Zentrum des vierten Satzes aufbricht. Sie passt weder zum Vorhergehenden, wo eine milde Resignation dominiert, noch zum Nachfolgenden, wo eine erinnernde Rückwendung auf den Anfang und damit auf das Werk selbst erfolgt. Brahms erlaubt sich ein Aufbäumen, obwohl er es doch angesichts der Gegebenheiten für aussichtslos halten müsste. Während ein solcher Impuls bei Beethoven noch in die Struktur des Werkes insgesamt eingesenkt ist, bleibt er bei Brahms isoliert. Die Äußerung dieses Impulses imponiert bei ihm aber gerade deswegen, weil sie ohne Rückendeckung durch das Ganze bleibt. Offensichtlich lässt sich der Komponist auch durch seinen nüchternen Realismus nicht davon abhalten, spontanen Unwillen zum Ausdruck zu bringen. Dies könnte vielleicht als „Botschaft“ des Werks verstanden werden: Sich auch durch die Pflicht zum Realismus, die gerade Brahms teuer ist, nicht die Möglichkeit zur spontanen Bekundung des Nicheinverstandenseins nehmen zu lassen. Selbst wenn dieses Aufbegehren im Kontext des Werkes episodisch bleibt, so prägt es sich doch durch seinen insistierenden Gestus ein. Brahms verhindert auf diese Weise, dass sich die introvertierten und resignativen Aspekte des Werks zu einem entsprechenden Gesamtbild verfestigen.
Sein Zorn gehört zwar für ihn nicht mehr auf eine menschheitliche Tagesordnung, soll sich aber trotzdem noch, zumindest als subjektive Äußerung, äußern dürfen.
Da musste ich auch an ein „spätes“ Werk der Kammermusik von Brahms denken, nämlich an den überraschend trotzigen und kämpferischen Kopfsatz seines Klaviertrios in c-moll, op. 101.
Die intime Dimension der Symphonie bewahrt also den Zorn davor, sich vorschnell auf die Bühne einer Allgemeingültigkeit zu schwingen. Beethoven mit seiner geistigen und historischen Nähe zur Französischen Revolution ist fern. Brahms wehrt sich andererseits dagegen, diese Bescheidenheit mit Kapitulation zu verwechseln. Die Einsicht, die Dinge nicht mehr ändern zu können, vermag doch nicht den Impuls, sie ändern zu sollen, zu ersticken. Das Leben, obwohl hilflos ohne die „vernünftige“ Einsicht, kann sich trotzdem nicht mit ihr arrangieren.
- Das totum ist das Totem
- Eine These zur Rhetorik von Wilhelm Emrich