Perspektiven für depressive Geisteswissenschaftler

Perspektiven für depressive Geisteswissenschaftler.

 

Zu dem Buch: Armen Avanessian: Überschrift. Ethik des Wissens – Poetik der Existenz. Berlin: Merve – Verlag 2015.

 

Und mir, mir ratet nicht, mich zu bequemen

Und macht mich nicht den Knechten untertan.

Friedrich Hölderlin: Der Jüngling an die

klugen Ratgeber

 

 

An jemanden wie mich hat der Autor dieses Buches sicherlich nicht gedacht. Mich würde er wahrscheinlich für viel zu alt und deformiert  halten, um von dieser kritischen Diagnose der Institution Universität noch profitieren zu können. Als mögliche Leser hat er bestimmt junge Geisteswissenschaftler im Auge, die an der Universität verzweifeln und nach Auswegen suchen. Hilfestellung möchte er leisten. Um „produktivere Arbeitsformen“ (S. 10) geht es ihm, auch um die Überwindung eines frustrierenden „sekundären Denkens“ (S. 149) Aufmerksam wurde ich auf dieses Buch auch deswegen, weil ich durch seinen geistreichen Verfasser auf das alte komparatistische Institut meiner Studien- und Doktorandenzeit im Berlin der sechziger Jahre zurückverwiesen wurde. Im „Sonderforschungsbereich: „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ an der Freien Universität hat der Autor des Buches bis Ende 2014 gearbeitet. Nun ist er Chefredakteur des Merve-Verlages in Berlin.

Wie ein roter Faden durchzieht das Buch die Beobachtung, dass insbesondere Geisteswissenschaftler zu Depressionen neigen. Neugierig wurde ich darauf, wie er diesen mir wohl vertrauten Befund analysiert. Sollte es sich dabei etwa nicht nur um individuelle Zufälligkeiten, sondern auch institutionell bedingte Erscheinungen handeln? Sofern das Buch aber auch unheilvolle Mechanismen der Anpassung und Selbstverleugnung bloßlegte, hatte ich auf eine Konfrontation mit unangenehmen Wahrheiten gefasst sein. Rechnen musste ich womöglich damit, ertappt zu werden.

Dem Unbehagen in der Universität kommt man dem Autor zufolge gerade dann nicht auf die Spur, wenn man bei ihrer Analyse ihr Betriebsgeheimnis auf sich beruhen lässt. Üblicherweise wird ja beklagt, wie wenig ihre gegenwärtige Praxis nach den sogenannten Studienreformen in Deutschland noch mit dem international renommierten Modell der Humboldtschen Universität zu tun hat. Der Autor wagt es nun, die latenten psychischen Miseren der Universität auf dieses Modell zurückzuführen. Er hadert grundsätzlich mit der akademischen Existenzform, auch wenn sie ihm doch selbst gerade einen Rückhalt zu gewähren scheint. Hehre akademische Postulate wie Kritik, Selbstdenken und Innovation werden von ihm hinterfragt. Suspekt sind sie ihm schon deswegen, weil sie staatlich verordnet werden. Bei ihrer Praktizierung dürfte es deswegen weniger um die kritische oder schöpferische Freiheit des einzelnen als vielmehr um die Interessen einer vorgegebenen Ordnung gehen. Dem einzelnen würde demnach hier nur insoweit ein Spielraum zu seiner Entfaltung eingeräumt werden, als er damit zur Legitimierung dieser Ordnung beitrüge –  sei’s dem preußischen Staat nach seiner Niederlage von 1806, sei’s nur der Institution selbst. Motiviert durch die Verheißung einer unbeschränkten Freiheit zur Kritik und Innovation, entpuppt sich der einzelne schließlich als Agent der vorgegebenen Ordnung, eben vorzüglich als Staatsbeamter. Vom Wechselbalg des „Geistes-Bürokraten“ (S.103) ist in diesem Zusammenhang auch die Rede.

Der Akademiker gerät dem Autor zufolge dann in eine Krise, sobald ihm das Trügerische an den offiziellen Verheißungen bewusst wird. Da er aber existenziell von dieser Institution abhängig zu sein meint, kann er sie auch nicht in Frage stellen. Die tiefere Ursache für seine Krise muss ihm verborgen bleiben. Frustration, Depression, gar suizidale Anwandlungen sind die Folge.

Er leidet unter Zwängen, denen er sich aber selbst unterworfen hat. Das lässt ihn aggressiv werden. Ablesbar wird dies dem Psychoanalytiker Lacan zufolge – dem wichtigsten theoretischen Gewährsmann des Autors – an der innerhalb der Universität vorherrschenden Sprache. Lacan charakterisiert sie drastisch als einen Diskurs des Hasses (S. 157). Man rennt hier unentwegt gegen Kerkermauern an, die man doch verinnerlicht hat.

 

Der Autor richtet sein Augenmerk vor allem auf das Schreiben im universitären Rahmen. Wie die üblichen akademischen Qualifikationsschriften Dissertation und Habilitationsschrift zeigen, kennzeichnet sich das Schreiben hier im hohen Maße durch Selbstverleugnung. Verklärt wird sie durch das hehre Prinzip der wissenschaftlichen Objektivität. Die Berufung darauf zeugt jedoch dem Autor zufolge von einer Scheu davor, sich persönlich zu dem Geschriebenen zu bekennen. Lieber ordnet man es einer überindividuellen Wissenschaft zu. Indem jedoch der Wissenschaftler seine Erkenntnis als eine primär objektive Erkenntnis deklariert, amputiert er sich selbst. Er verleugnet damit von vornherein – mit einem Begriff von Lacan – das „Begehren“, das ihn ursprünglich beseelte. Das Schreiben kann unter diesen Umständen nicht die innere Dynamik gewinnen, die den Schreibenden über sich selbst hinaustreiben würde. Statt selbst aufs Ganze zu gehen, fügt er sich lieber beflissen in das vorgegebene große Ganze der Wissenschaft ein. Die Chance, durch sein Schreiben über sich selbst und den wissenschaftlichen Status quo hinauszugelangen, hat er damit vertan. Die unweigerlich aufkommende Frustration sucht er durch eine pragmatische, karrieretechnische Relativierung seines Werks oder gar eine zynische Genugtuung über sein virtuoses Anpassungsvermögen zu überspielen.

Der Autor fragt nach den affirmativen Implikationen der (akademischen) Kritik: Sie zehrt ihm zufolge von der Festschreibung ihres Objektes. Indem sich das Subjekt primär durch die Kritik des Objekts selbst bestätigt, entsteht ein symbiotisches Verhältnis zwischen ihm und seinem Objekt. Kritik des Objekts und dessen Legitimierung schließen einander nicht aus. So trägt die Kritik zur Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse bei, die Stagnation bedeuten. Die Wirkungslosigkeit der Kritik bringt der Autor mit einer mittlerweile total gewordenen Ästhetisierung in Zusammenhang. Dies bedeutet für die Kritik, dass auch sie sich dem Gesetz des Konsums unterworfen hat. Sie beschränkt sich nunmehr darauf, bislang Unbekanntes aus dem prinzipiell bereits Bekannten herauszufiltern. So erweitert sie bloß den inneren Spielraum der bestehenden (kapitalistischen) Verhältnisse, statt diese Verhältnisse selbst anzutasten.(S. 47)

Der Autor zielt in verschiedenen, aber konzertierten Anläufen vor allem darauf ab, diese Ohnmacht der Kritik zu überwinden. Eine Schlüsselrolle spielt dabei für ihn der Begriff der Spekulation, den er von Hegel entlehnt. Nur durch die Spekulation wird es ihm zufolge möglich, die Rückwirkung des Gedachten auf das denkende Subjekt zu erfassen. So erschließt sie eine Dimension, die das Bloß-Subjektive oder Bloß-Objektive übersteigt. Sie erfasst die Dialektik, dass sich das denkende Subjekt durch den Prozess des Denkens selbst entthront. Statt durch diesen Prozess bestätigt zu werden, wird es vielmehr im Lichte eines Übergreifenden in seine Schranken gewiesen. Nicht als Herr, sondern als Diener dieses Über- greifenden, des „Absoluten“ oder der „Wahrheit“, erweist es sich. Einem bloßen Weiterdenken wird zugunsten eines Umdenkens Einhalt geboten. Mit Hilfe der Spekulation wird es insofern möglich, die durch den Prozess des Denkens bewirkten Umschwünge im Denken transparent zu machen.

Die Rede von der Spekulation wirkt heutzutage, unter den Bedingungen eines sich ewig verjüngenden Status quo, genauso anachronistisch wie die Rede von der „Wahrheit“ und dem „absoluten Wissen“. Der Autor scheut sich aber nicht davor, eine solche provokativ anti-positivistische Begrifflichkeit zu verwenden. Er greift zu ihr, um die Eigendynamik des Erkenntnisprozesses gegenüber dem erkennenden Subjekt herauszuarbeiten. Indem sich das Subjekt kritisch mit seinem Objekt auseinandersetzt, verändert es nicht nur das Objekt, sondern auch sich selbst. Der Autor spricht an dieser Stelle gern von „Rekursion“. (S. 252) Die Perspektive des Absoluten verhilft zu der Erkenntnis, dass es sich bei der strikten Separation des Subjektivem vom Objektiven nur um eine künstliche Grenzziehung handelt.

Der Einschätzung des Autors zufolge gibt es auch gegenwärtig noch Keime zu einem transformativen Denken, die aber in der Regel durch Banalisierung oder Pathologisierung erstickt werden. So erinnert er daran, wie wenig eigentlich die Sprache auf externe Sinnvorgaben angewiesen ist. Statt nur innerhalb eines vorgegebenen Sinnzusammenhangs zu funktionieren, vermag sie aus sich heraus einen Sinnzusammenhang zu stiften. Der Autor spricht von der „paradigmenschaffenden Funktion der Sprache“ (S.122), die er durch den Begriff der „Poeisis“ kennzeichnet. In der Lyrik komme diese Funktion noch zum Vorschein. Allerdings verblasst sie durch die Ästhetisierung der Lyrik. Die Depotenzierung der Lyrik wird als ihre kulturelle Etablierung schmackhaft gemacht. Um den leeren Verheißungen von Kritik und Innovation zu entkommen, ermutigt der Autor die jungen Wissenschaftler dazu, sich auf die verborgenen „poietischen“ Möglichkeiten der Sprache zu besinnen und diese „demiurgisch“ (S. 129) ins Werk zu setzen.

Die Annahme, dass die universitären Verhältnisse durch die Demokratisierungswelle nach 1968 besser geworden seien, hält der Autor für eine schöne Selbsttäuschung. Wenn einem nun der Professor im Geiste von 1968 kumpelhaft entgegenkommt, so lässt er die gebotene Unterwerfung unter das „Gesetz“ wie einen Akt der Freundschaft erscheinen. Ein produktiver Widerstand kommt damit nicht mehr in Frage. Dass es sich bei dem Professor um den wahren Souverän innerhalb der Universität handele, entpuppt sich allerdings dem Autor zufolge bei näherem Hinsehen als bloßer Schein. Er bezeichnet die Professoren als „beherrschte Herrschende“ (S. 87).

Bei seiner Inspektion des akademischen Innenlebens entdeckt der Autor Anomalien, die ihn hoffen lassen. So muss die Verstrickung in die zugleich repressive und existenzsichernde Institution nicht unbedingt zur Quelle depressiver oder neurotischer Blockaden werden. Vielmehr könnte sie auch die Ausbildung von bizarren Formen einer Lebendigkeit befördern. Statt gelähmt zu werden, verbeißen sich manche Akademiker auf eine sonderlich anmutende Weise in Partikularitäten. Sie hängen ihr Herz so sehr an Äußerlichkeiten, dass sie von ihren nüchternen oder ernüchterten Kollegen nur belächelt werden können. Der Autor weiß aber diese Verschrobenheiten zu schätzen. Ihm gelten solche Spleens oder Macken als Refugien eines Begehrens, das der akademische Betrieb dem einzelnen eigentlich schon längst ausgetrieben haben müsste. So vermag der Akademiker potenziell einem Schicksal zu entgehen, das anscheinend jedem innerhalb der Universität droht: seiner Kastrierung durch das „Gesetz“.

Wie der Begriff des Fetischismus zeigt, den der Autor in diesem Zusammenhang einführt, knüpft er hier wieder an die Psychoanalyse von Lacan an. Ihm imponiert die Energie des Fetischisten. Indem dieser seine Narrheit unbeirrt, aber auf eine allgemeingültige Weise zum Ausdruck zu bringen sucht, tut er dem „Gesetz“ Genüge, ohne von diesem versehrt zu werden. Er begreift es als Ansporn zur Objektivierung seiner Exzentrik, nicht aber als verbindliches Dogma. Weder hat er sich dem „Gesetz“ mit seinen Kastrationsansprüchen unterworfen, noch wütet er gegen das „Gesetz“ auf eine fruchtlose Weise. Ein freier Umgang mit dem „Gesetz“ wäre ihm also gelungen. Fatal wirkt das Gesetz wegen seiner Doppelgesichtigkeit: In ihm amalgamieren sich dem Autor zufolge der jeweils erreichte, verbindlich gewordene wissenschaftliche Erkenntnisstand, der vornehmlich durch den Professor repräsentiert wird, einerseits und dessen Machtinteressen andererseits.

Dass der Autor die Rolle des Fetischismus innerhalb des Universitätslebens durchaus positiv sieht, zeigt schon der Titel des Kapitels: „Antidepressivum Fetischismus“ (S. 170 – 185). Er empfiehlt dort eine Überlebensstrategie für Akademiker. Flapsig formuliert: Statt sich seine Macken austreiben zu lassen, käme es vielmehr darauf an, sie bis zur Öffentlichkeitsreife weiter zu entwickeln.[1]

Prekär ist die Existenz des „Fetischisten“ innerhalb der Universität deswegen, weil er sie wegen seiner Obsession gar nicht recht wahrzunehmen vermag. Konflikte werden damit unausweichlich. Da aber diese Konflikte seine argumentative Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlich Etablierten provozieren, kann er auch nicht einfach abgetan werden. Statt hinter das jeweils erreichte wissenschaftliche Niveau zurückzufallen, scheint er es noch zu überbieten. Man bewundert ihn vielleicht sogar, weil er Routinen und Verkrustungen durch sein Außenseitertum aufzubrechen vermag. Da jedoch die Institution für Kontinuität schlechthin einsteht, kann die Bewunderung schnell wieder verpuffen oder sogar ins Gegenteil umschlagen.

Der Außenseiter ist deswegen auf die Konflikte angewiesen, weil ihn die Institution ständig mit Aussichten auf eine soziale Absicherung zu ködern sucht. Die Funktion dieser Konflikte wäre demnach, ihm die Unvereinbarkeit seines geistigen Strebens mit der Institution bewusst zu machen. Während ihn die Institution auf eine bestimmte Rolle in ihrem Rahmen festzulegen sucht, strebt er nach einer Entfaltung seines noch in pathologischen Symptomen verkapselten „Begehrens“. Die Universität meint ihn besser zu kennen als er sich selbst jemals kennen könnte. Die Identität, die ihm die Institution zuschreibt, droht ihm zu einem Käfig zu werden. Dem Autor zufolge dreht sich hier alles um das Schreiben. Das Ich möchte es deswegen in der Hand behalten, weil es ihm sonst den Boden unter den Füßen fortzuziehen droht. Andererseits vermag sich das Ich erst dann zu beglaubigen, wenn es sich selbst von seinem Schreiben überholen lässt. Von einer „manchmal ganz naive(en) Liebe zur Wahrheit“ (S. 253) und deren Konsequenzen für das Ich ist hier auch die Rede. Das Ich würde sich demnach durch diese Liebe so transzendieren, dass es nicht mehr dasselbe bleiben könnte. Eine „endgültige Unterschrift“ würde ihm erst durch das „Überschreiben“(S. 253) zustehen, wie es am Ende etwas pathetisch heißt. Die Rede von der „endgültigen“ oder verifizierten Unterschrift mag auch darauf hindeuten, dass es bei der Ermächtigung des Schreibens nicht nur um eine Suspendierung des Ich mit seinen Kontrollfunktionen geht wie bei der écriture automatique der Surrealisten. Stattdessen geht es hier auch darum, ein Ich nach dem Ich, also ein „postödipales“ Ich, zu konstituieren. Im Sinne von Hegels Begriff der Spekulation soll ein Umdenken oder eine „Konversion“ (S. 253) erfolgen, allerdings mit praktischen Konsequenzen für das Verhalten zur Welt. Das von sich selbst befreite Ich würde sich etwa durch eine ganz andere Haltung zu den gesellschaftlichen Ordnungen, den Institutionen, der Universität und ihrem „Gesetz“ kennzeichnen. Statt von diesen Instanzen noch eingeschüchtert zu werden, verstünde es spielerisch und kreativ damit umzugehen. Dass die Realität anders ist als sie aus der Perspektive der Ordnungen erscheint, wäre ihm wohl bewusst.

Der Autor verwendet die Wendung „Othering des Ich“ (S. 213-219), um sein Experimentieren mit einer Metamorphose des Ich zu umschreiben. Ohne eine solche Metamorphose könnte es keine  „produktivere(n) Arbeitsformen“ (S. 10) geben, deren Entwicklung der Autor in der Einleitung zu seinem Buch verheißt. Wie man sich das konkret vorstellen kann, führt er in dem Kapitel „Zu zweit Schreiben“ aus (S. 231-238). Veröffentlichungen zeugen davon, dass er entsprechende Versuche mit einer Kollegin aus dem komparatistischen Institut in Berlin unternommen hat. Vielleicht gelingt es ihnen dabei ja, „den Akademiker fröhlich aus sich heraus[zuschreiben]“ (S. 19).

Der Autor charakterisiert die Universität als eine Institution, die sich wegen der verborgenen politisch-strategischen Motive ihrer Ideale als eine Anstalt zur Entzauberung dieser Ideale entpuppt. Statt ihr deswegen den Rücken zu kehren, plädiert der Autor vielmehr für ihre produktive Überrumplung. Er empfiehlt, ihre Ideale frech zu vereinnahmen und möglichst zu überbieten, statt sich von ihnen, ihrer Zwiespältigkeit, lähmen zu lassen. Damit kommt es zwar zu keiner nachträglichen Versöhnung mit der Institution. Immerhin kann man sich aber nun die Momente der Verblüffung zu Nutze machen, die einem durch die Überrumplung geschenkt wurden. Überrumpelt entdeckt die Universität vielleicht sogar den Geist wieder, den sie über ihrem automatischen Funktionieren schon vergessen hatte. Der „normale“ Akademiker droht demgegenüber deswegen depressiv zu werden, weil er in dem Widerspruch zwischen der in ihm erweckten Energie und seiner Prägung durch die Institution verfangen bleibt. Er erstickt an einer Lebendigkeit, deren Entfaltung ihm illegal vorkommt.

Nach der Lektüre dieses Buches meinte ich meine eigenen Erfahrungen mit der Universität, sei’s als Student, sei’s als Lehrender, besser verstehen zu können. Statt depressive Phasen während meiner Zeit in der Universität bloß biografisch zu deuten, vermochte ich sie nun mit der Diposition der Universität, ihrem unlauteren Spiel mit emanzipatorischen Verheißungen, in Zusammenhang zu bringen.

Verheißungsvoll klang es, wenn innerhalb der Universität nur die Stärke des Arguments, unabhängig von der Hierarchie, gelten sollte. Ohne die Orientierung an dem Prinzip des „herrschaftsfreien Diskurses“ im Sinne von Habermas würde sich ja die Universität selbst aufgeben. Ich bemerkte aber, wie in Diskussionen die jeweilige Position des Diskutanten mehr oder weniger diskret mit ins Spiel gebracht wurde. Behutsam wurde damit signalisiert, dass es letztlich nicht nur auf die Qualität des Arguments ankomme. Wer zu widersprechen wagte, würde womöglich nicht nur den vorgebrachten Standpunkt, sondern auch die durch den Diskutanten repräsentierte Ordnung antasten. Dieser käme aber letzten Ende ein größeres Gewicht zu als einem einzelnen Argument. Angesichts dieser Konstellation verzichtete man lieber darauf, sein womöglich besseres Argument vorzubringen. Statt als Bereicherung könnte es ja leicht als Bedrohung aufgefasst werden. Schlafende Hunde, d. h. die Paranoia des Höhergestellten, sollten besser nicht geweckt werden.

Ergötzen konnte ich mich an einem der plastischen Sprüche, die der Autor gelegentlich zur Erholung des Lesers von seinem hochelaborierten Text eingestreut hatte. Ein solcher Spruch löste bei mir allerhand Assoziationen aus. Da versetzt der Autor einen leitenden Akademiker in die unwahrscheinliche Lage, aus dem Nähkästchen zu plaudern: „Ich bin ein mickriges Gesetz, ich übe kleinkarierte Gewalt aus und nur sehr notdürftig kann ich meine Beliebigkeit kaschieren.“ (S. 15, 179)

Aufgeklärt konnte ich mich also durch den Autor fühlen, aber auch ertappt. Schon das gute Vierteljahrhundert, das ich in der Universität überstanden hatte, mochte verdächtig wirken. Möglich wurde diese lange Zeit wahrscheinlich auch deswegen, weil ich gelegentlich, trotz aller Konflikte, meine, bloß pragmatisch gebotene Kapitulation vor der Macht wissenschaftlich bemäntelte. Ein Abgleiten in den offenen Zynismus wurde damit zumindest vermieden. Ertappt konnte ich mich auch fühlen, als der Autor ausführlich und zustimmend aus einem Buch von Mark Fisher („Kapitalistischer Realismus ohne Alternative“) zitierte. Dort wurden Akademiker kritisiert, die ihr Sich-Drücken vor einem unbedingten Schreiben mit dem „’Projekt>Kind<’“ (S.91) zu entschuldigen suchten. (Andererseits: Könnte nicht auch das unbedingte Schreiben als Alibi für jenes „Projekt“ und überhaupt für ein „wirkliches“ Leben fungieren?)

Die Empfehlung des Autors, sich lieber an der Blindheit seines „Begehrens“, seiner „Erregung“(S. 19) oder seiner Obsession als an der Klarheit des „Gesetzes“ zu orientieren, muss in der aktuellen Situation der Universität mit ihrer Studienreform wie ein besserer Witz wirken. Als Eckstein der Reform gilt der Mythos „Wissen“, der die reflexive Infragestellung der wohl definierten Wissenspakete verbannt. Reflexion, durch die sich die Universität doch eigentlich zu konstituieren hätte, droht zum Störfaktor bei der Abfragerei zu werden. Tödlich soll das für die Geisteswissenschaftler sein, wie ich verschiedentlich von Professoren, insbesondere der Philosophie, zu hören bekam. Angesichts dieser Verhältnisse den vorliegenden Traktat  zu verwerfen, bedeutet aber, das unvollendete Projekt Universität endgültig aufzugeben.

Trotz der verständlichen Skepsis des Autors gegenüber der Maxime der Ergebnisorientierung versuchte ich mir doch die Werke vorzustellen, die im Sinne des Autors wären. Statt sich an vorgegebenen Kriterien zu halten, hätten sie die für sie gültigen Kriterien gleich mitzuerschaffen. So müssten sie zwar befremden, würden aber im Lichte ihrer eigenen Kriterien überzeugen können. Obwohl sie aus dem Rahmen fallen, können sie nicht ignoriert werden. Als ich mir das zu veranschaulichen suchte, fiel mir das Buch „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ von Walter Benjamin ein. Ich erinnerte mich daran, wie mich die Lektüre dieses Buches im Jahre 1965 aus der Monotonie des Germanistikstudiums herausgerissen und elektrisiert hatte. Tatsächlich führt der Autor dieses Buch in einem anderen Zusammenhang, demjenigen eines Vortrages, als exemplarisches Werk an wie auch Nietzsches „Der Ursprung der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ (Siehe: Armen Avanessian: „Das spekulative Ende des ästhetischen Regimes“. Aus: „Texte zur Kunst“, S. 7) Beide Werke sind aus dem Konflikt mit der Universität hervorgegangen und haben bis heute keinen Frieden mit ihr geschlossen. Die germanistische Barockforschung meinte Benjamins gescheiterte Habilitationsschrift bis heute bei Seite lassen zu müssen. Nietzsches Schrift ist den Altphilologen bis heute suspekt geblieben. Andererseits gibt es wohl kaum anerkannte wissenschaftliche Werke, die eine solche inspirierende Kraft zu entfalten vermögen wie diese beiden Bücher. Wohin gehören sie überhaupt? Oder liegt ihre Kraft gerade darin, nirgendwo hinzugehören? Nirgendwo hingehörend, vermögen sie vom einlullenden Bann der Zugehörigkeit zu erlösen.

Sich beim Schreiben an andere Bücher zu halten, vertrüge sich aber nicht mit dem „Begehren des Schreibens“ (S. 9), das der Autor in seinem Buch propagiert. Er schärft hier vor allem das Bewusstsein dafür, dass das, was einen nährt, einen auch erwürgen kann: Die Universität, welche die Voraussetzungen für die wissenschaftliche Produktivität bereitstellt, schwingt sich zugleich zum Vormund für den Wissenschaftler auf und droht ihn damit zu lähmen. Als Lahmer erfreut er die Institution und ihre „Geistes-Bürokraten“ (S. 103), als Agiler erschreckt er sie. Statt sich wieder zur Ordnung rufen zu lassen, käme es dem Autor zufolge darauf an, durch Unbotmäßigkeit gegenüber der Institution deren geistige Möglichkeiten zu entbinden. Sich aus ihr hinauskapitulierend, erweckte er sie wieder zum Leben.

Jürgen Renn, Direktor am Max-Planck- Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, hat erstaunlicherweise einen realistischen Blick für die wirklichen Verhältnisse des Wissenschaftsbetriebes, verzweifelt jedoch nicht. Er (Jahrgang 1956), äußert auf eine skeptische Frage seines Interviewers Arno Widmann:

Machtverhältnisse thematisieren wir schon. Die spielen auch in den Institutionen der Wissensökonomie eine

Schlüsselrolle. Interessant aber ist, dass Machtverhältnisse Wissen offenbar nie vollkommen determinieren.

Es gibt fast immer einen emanzipatorischen Überhang des Wissens, der auch die Machtverhältnisse in

Frage stellt.  (Aus: Frankfurter Rundschau 3./4. 1. 2015, S. 37.)

 

 

 

 

 

Heidenfahrt, d. 20. 2. 2015   Helmut Pillau

[1] Solche Ideen liegen heutzutage vielleicht in der Luft. So meint die junge Berliner Autorin Helene Hegeman, dass unsere gegenwärtige Gesellschaft allenfalls durch Autisten zu retten wäre: „Menschen, die sich aufgrund von psychologischer Selbstvergessenheit einer Sache verschreiben, ohne dass es dabei auch nur ansatzweise um ihr persönliches Fortkommen geht. Isolierte Wissenschaftler, talentierte Sänger, die aus Angst vor der Öffentlichkeit keinen Plattenvertrag unterschreiben, oder sechsjährige Inselbegabte, die zwar kaum kommunizieren können, aber dafür gut rechnen oder fotorealistisch Bilder vom Regenwald abzeichnen. Das Idealbild eines aufrichtigen, der Gesellschaft nützlichen Menschen ist nur noch durch einen gewissen Grad an krankhafter Abweichung zu erreichen. Bei dieser neuen, glorifizierten Form von Autismus handelt es sich nicht um unberechenbare Asperger-Kids, die schon im Vorschulalter masturbierend am Kronleuchter hängen. Es geht um zurückhaltende Außenseiter, die nicht lügen können und ihre Fähigkeiten wegen irgendeines irrationalen Pflichtbewusstseins in den Dienst der Allgemeinheit stellen. Sie sind hochbegabt und deshalb unsere letzte Rettung.“ Helene Hegemann: „Wir sind alle Felix Krull“. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22. 3. 2015, S. 42.