Das totum ist das Totem

„Das totum ist das Totem.“

 

Zu: Theodor W. Adorno, Gershom Scholem: Briefwechsel 1939 – 1969

Herausgegeben von Asaf Angermann

Berlin: Suhrkamp 2015

                                                                                                            Helmut Pillau

 

Als Adorno 1950 nach Deutschland zurückkehrt, bedeutet das für ihn gerade kein Bekenntnis zu seiner ursprünglichen Heimat. Jedenfalls legt er gegenüber Scholem Wert darauf, diesen Schritt von einem solchen, allzu naheliegenden Missverständnis frei zu halten. Vielleicht möchte er das deswegen in einem späteren Brief an Scholem besonders hervorheben, weil dieser ja Deutschland bereits 1923 aufgrund seiner Einsicht in die fatale Mesalliance von Juden und Deutschen den Rücken gekehrt hatte. Auf eine erschütternd prosaische Weise rechtfertigt Adorno seine Rückkehr:

„Wenn ich trotzdem zurückkehrte, so kann ich dafür nichts anderes als individuelle Gründe: die Möglichkeit eines – auf Zeit – völlig ungehemmten und den Kontrollen entzogenen Produzierens anmelden.“ [1]

 

In der Tat gewinnt Adorno in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts innerhalb der (west-)deutschen Öffentlichkeit auf verschiedenen Gebieten wie der Philosophie, Ästhetik, Musikwissenschaft, Soziologie und Literaturwissenschaft zunehmend eine ungewöhnliche Präsenz, manchmal gar Dominanz, ohne dabei aber von der Zuversicht in einen lebendigen Austausch geleitet zu werden. Statt sich auf eine vorgegebene Öffentlichkeit einzustellen, sucht er sich eher im Widerstand dagegen eine neue Öffentlichkeit zu schaffen. Er profitiert, anders gesagt, von der inneren Widersprüchlichkeit einer Öffentlichkeit, die noch großenteils von Verschweigen, Verdrängung und auch Bigotterie bestimmt wird. Bewusst missachtet er eine vermeintliche  (pädagogische) Grundregel für ein Gelingen von Kommunikation. Statt die anderen im Sinne dieser Regel dort abzuholen, wo sie sich gerade befinden, möchte er sie lieber von dem Platz vertreiben, an dem sie sich verschanzt haben. „Kommunikation“ erscheint ihm wie ein wohliges Eintauchen in die trübe Immanenz des Miteinander. In diesem Sinne formuliert er später in seiner „Ästhetischen Theorie“ mit einer marxistischen Nuancierung: „Denn Kommunikation ist die Anpassung des Geistes an das Nützliche, durch welche er sich unter die Waren einreiht, und was heute Sinn heißt, partizipiert an diesem Unwesen.“ [2]

Ihm kommt es demnach bei seinen öffentlichen Äußerungen nicht auf das an, was leicht zu vermitteln wäre, sondern auf das, was sich wegen seiner notwendigerweise brüsken Wirkung einer reibungslosen Vermittlung entzieht. Dies soll sich auch durch die – nicht selten imitierte – Eigenart seines Stils ausprägen. Hochfahrend wirkt dieser Stil insofern, als er, eine ferne Höhe anpeilend, vom Eingefahrenen und vermeintlich Selbstverständlichen loszureißen sucht. Adorno missachtet durch seine sprachliche Praxis die Immanenz der Sprache im Sinne einer kommunikativen Geläufigkeit und vermag gerade dadurch die Sprache lebendig zu halten. Aber auch das kann, wie insbesondere seine Nachahmer zeigen, zur Manier werden.

Im Hintergrund von alldem steht die desolate geistige Situation Deutschlands unmittelbar nach dem Untergang des Dritten Reiches im allgemeinen und das zerbrochene Verhältnis von Juden und Deutschen im besonderen. Dies wird durch Adornos Polemik gegen das wohl klingende Konzept eines „deutsch-jüdischen Gesprächs“ anschaulich, womit mehr oder weniger seine heftige Abwehr von deutschen Juden wie Martin Buber, Arnold Metzger und Hannah Arendt einhergeht. Wenn er in seinem Brief vom 22. 6. 1965 an Scholem allergisch auf das Wort: „jüdisch-deutsches Gespräch“ reagiert,[3] so folgt er dabei nicht nur eigenen Überzeugungen, sondern stellt sich auch entschieden an die Seite von Scholem. Denn dieser hatte ja 1962 in seinem Text: „Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch“ die prononcierteste und klarste Position in dieser Frage bezogen.[4] Adorno schlägt in seinem Brief auf eine recht emotionelle Weise in die gleiche Kerbe:

„Schon wenn man ein Wort wie jüdisch-deutsches Gespräch nach dem Geschehenen hört, kann es einem übel werden, und es ist die einfache Wahrheit, daß es ein solches Gespräch nie gegeben hat, und daß auch die sogenannten größten Deutschen wie Kant und Goethe Dinge geschrieben haben, die sich nun doch ausnehmen wie die Scheite, welche das alte Weiblein zum Scheiterhaufen des Hus herbeischleppte.“[5]

 

Inwiefern es sich konkret um eine Solidarisierung mit Scholem handelt, zeigt sich an seiner Haltung gegenüber dem Philosophen jüdischer Abstammung Arnold Metzger. Dieser hatte, allerdings ohne Scholem zu nennen, in einem Artikel in der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 21. 5. 1965 Scholems Thesen über das Illusionäre eines deutsch-jüdischen Dialogs widersprochen und demgegenüber auf der Unzerstörbarkeit dieses Dialogs, sogar über den Holocaust hinaus, beharrt. Scholem versteht Metzgers Artikel als eine „bitterböse Antwort“ auf seine Thesen.[6]. Adorno wiederum solidarisiert sich mit Scholem nicht auf argumentativem Wege, sondern durch eine peinlich wirkende Wiedergabe seiner persönlichen Eindrücke von diesem, ihm seit „alten Zeiten“ bekannten Manne: „[…]er ist einer der widerlichsten und miesesten Menschen, die mir in meinem ganzen Leben begegnet sind.“[7]

Eine prinzipielle, philosophische Dimension gewinnt seine Haltung zu einem „deutsch-jüdischen Gespräch“ durch seine Ablehnung von Martin Buber, der ja auch aufgrund seines enormen Widerhalls beim deutschen Publikum beinah zu einer Ikone eines solchen Gesprächs geworden war. Indem er sich heftig von Buber abgrenzt, solidarisiert er sich wie im Falle von Metzger mit Scholem. Auch dieser stand ja Buber eher skeptisch gegenüber, weniger aus persönlichen Gründen, sondern etwa deswegen, weil er als strenger, philologisch orientierter Wissenschaftler die Vermengung von Wissenschaft und eigener Philosophie bei Buber kritisierte.[8] Wie er Adorno berichtet, hatte er sich sogar dazu bereit erklärt, eine Trauerrede  bei der Beerdigung von Buber zu halten, wobei er allerdings elegant die von ihm abgelehnten Seiten Bubers zu umschiffen suchte.[9]

Adorno auf der anderen Seite sieht aber in Buber einen philosophischen Kontrahenten. Indem er Bubers Philosophie „in den Zusammenhang der finstersten deutschen Ideologie“[10] einordnet, scheint er ihn in die Nähe von Martin Heidegger, seinem aktuellen philosophischen Widersacher, zu rücken. Dass diese Gegnerschaft auch persönlich gefärbt ist, zeigt sich an seiner Bezugnahme auf die Kontroverse zwischen Walter Benjamin, seinem Freund, und Martin Buber. Dieser Zusammenhang enthüllt sich blitzartig, als Adorno gegenüber Scholem  den prägnanten Ausdruck „existentieller Bonze“ dechiffriert, der Scholem so gefallen hatte: „Der existentielle Bonze ist kein anderer als Martin Buber.“[11] Im Kommentar zu diesem Brief zitiert der Herausgeber ausführlich aus Adornos Aufsatz: „Charakteristik Walter Benjamins“, in dem sich Adorno über die Reaktion Bubers auf die Persönlichkeit Benjamins, eines nach Buber „Übergescheiten“, ereifert. Als „existentieller Bonze“ erweise sich Buber nach Adorno  deswegen, weil er dem „Leiden dessen, den der Geist beherrscht und entfremdet“ aufgrund eines ontologischen Biedersinns verständnislos gegenüberstehe. Dabei werde er von seiner eigenen Philosophie geleitet, auf die Adorno mit seiner Formulierung: „quicklebendige Ich-Du-Beziehung“ anspielt. Dass Benjamin eine solche Beziehung durch seine Eigenart, „verstöre“, veranlasse Buber zu seinem „metaphysischen Vernichtungsurteil“ über Benjamin.[12]

Auch in die Ablehnung Hannah Arendts, der gleichfalls Scholem sehr kritisch gegenübersteht, spielt Adornos Freundschaft mit Walter Benjamin hinein. Ihn empört, dass Arendt Benjamin nicht als Philosophen gelten lasse und ihn auf die Rolle eines Kritikers reduzieren möchte.[13] Arendt komme deswegen zu dieser Einschätzung, weil ihr Begriff von Philosophie durch Jaspers und Heidegger geprägt sei. [14] Adorno lässt sich später sogar dazu hinreißen, Hannah Arendt mit dem Ausdruck: „dieses abscheuliche Weib“[15] zu bedenken.

 

Dass Adorno im Nachkriegsdeutschland auf unterschiedlichen Gebieten eine enorme öffentliche Wirksamkeit entfaltet, ohne sich dabei publikumsorientiert zu verhalten, kann paradox anmuten. Diese Paradoxie hat offensichtlich mit der Ausnahmesituation Deutschlands nach dem Krieg und insbesondere dem Holocaust zu tun. In dem Maße, wie dieses Geschehen damals von den meisten – verstockten – Deutschen noch ignoriert wird, lastet es umgekehrt schwer auf der Seele von jüdischen Remigranten wie Adorno. Ein Austausch zwischen Deutschen und Juden schien in jener Zeit aussichtslos zu sein. Um so leichter dürfte es aber deutschen Juden wie Scholem und Adorno fallen, sich miteinander auszutauschen. Allerdings handelt es sich bei beiden um Juden, die ein unterschiedliches Verhältnis zu ihrem Judentum haben. Während eben Scholem schon in seiner Jugend aufgrund seines prononciert jüdischen Selbstverständnisses mit Deutschland brach und nach Palästina auswanderte, verblieb Adorno in Deutschland. Außerdem war ja nur sein Vater jüdischer Abstammung. Dieser sorgte überdies dafür, dass sein Sohn konfirmiert wurde. Offensichtlich strebte Adorno in Deutschland eine akademische Karriere an. Eher notgedrungen, schweren Herzens verließ er Deutschland angesichts des aggressiven Antisemitismus der neuen Machthaber.

Vor allem Adorno scheint sich bewusst gewesen zu sein, wie gut doch das Aufspüren gemeinsamer Kontrahenten eine Gemeinsamkeit, konkret also diejenige mit Scholem, zu stärken vermag. Der Beginn ihres Briefwechsels im Jahre 1939 zeigt aber auch, dass die Sorge um den gemeinsamen Freund Walter Benjamin und später die Aktivitäten zur Publizierung seines Werkes wohl die stärkste Triebfeder für die Entwicklung ihrer Beziehung bildet. Der Herausgeber des Briefwechsels spricht in seinem Nachwort zu Recht davon, dass es sich bei Benjamin um „einen abwesende(n) und stets anwesende(n) Dritten“ in der Beziehung zwischen Adorno und Scholem handele.[16]

Auffällig ist, dass Adorno und Scholem in ihrem Briefwechsel bis zuletzt beim „Sie“ bleiben. Nie können sie sich zur Vertrautheit des „Du“ durchringen, wie sie etwa in der Beziehung zwischen Scholem und Benjamin vorherrscht. Ein Brief Scholems an Benjamin vom 6. 5. 1938 zeugt aber auch davon, dass er Adorno im Unterschied zu Horkheimer durchaus sympathisch findet.[17] Wenn beide in ihrem Briefwechsel beim „Sie“ bleiben, so zeigen sich doch unter dem formalen Blickwinkel der Anrede und der Unterschrift auch interessante Nuancen.

Bis 1957/58 reden sie sich sehr formell mit „Herr“ an, erst danach soll es zu einem zwangloseren „lieber Scholem“ bzw. „lieber Adorno“ kommen. Zu Beginn ihres Briefwechsels – erster Brief Adornos Scholem vom 19. 4. 1939 – taucht übrigens zunächst anstelle von „Adorno“ der Vatername Adornos: „Wiesengrund“ auf.[18] Erst ab 1951, also nach der Rückkehr Adornos nach Deutschland, soll dieser Name endgültig durch „Adorno“ abgelöst werden. Eine familiärere Note bekommen die Briefe dadurch, dass Adorno mit „Teddie Adorno“ unterzeichnet. Indem beide das Attribut „alt“ oder manchmal auch „getreu“ verwenden – also „Ihr alter Adorno“ bzw. „Ihr alter Scholem“ – , soll wohl die Solidität ihrer Beziehung unterstrichen werden. Einmal kehrt Adorno kokett den eigentlichen Sinn von „alt“ hervor: „[…] von Ihrem nachgerade wirklich alten Adorno“.[19] Scholem lässt bei seinen Anreden manchmal seinen Witz aufblitzen, indem er etwa schreibt: „lieber Herr Weisheitslehrer und Kollege“[20]. Auf eine abgründige Weise witzig wird er, wenn er einmal mit „Ihr alter G…olem, sozusagen!“[21] unterzeichnet.

Es fällt auf, dass Scholem ab 1956 bei seiner Unterschrift auch die hebräische Variante seines Vornamens „Gershom“ verwendet. In einer Nachbemerkung zu seinem Brief vom 21. 5. 1956 pocht er darauf, diese nunmehr amtliche Version seines Vornamens bei offiziellen Gelegenheiten zu gebrauchen.[22] Adorno zeigt sich ein wenig befremdet darüber.[23] Allerdings kommt es nicht so selten vor, dass Scholem in seiner Korrespondenz mit Adorno „Gershom“ gegenüber „Gerhard“ bevorzugt.[24]

In den letzten Jahren ihres Briefwechsels beginnt Adorno die Förmlichkeit ihres Umgangs zu unterwandern. Der Begriff: „Freundschaft“ taucht zuerst auf: „In treuer Freundschaft Ihr Teddie Adorno“.[25] Später, als sich Adorno durch die Solidarität Scholems  bei der Auseinandersetzung um das Oeuvre Benjamins in den späten sechziger Jahren moralisch gestärkt fühlt, wird er sogar beinahe überschwänglich: „…ein Maß von Liebe, das mir wahrhaft wohl getan hat.“[26] Sowie: „Unter Männern unseres Alters pflegt man ja so etwas selten auszusprechen, aber ein solches Zeugnis spontaner Solidarität hat mich bis ins Innerste betroffen – […]“ [27].

Wie auch Adornos Reaktionen auf die Attacken der revoltierenden Studenten auf sein Institut[28] und die Kritik von Ernst Bloch an ihm zeigen [29], ist er von beiden offensichtlich der empfindlichere und verletzlichere. Der robustere Berliner Scholem zeigt nur einmal so etwas wie Rührung, als Adorno in seiner Würdigung Scholems zu dessen 70.Geburtstag die „Unfeierlichkeit“[30] Scholems hervorhebt. Wenn dieser davon entzückt ist, so fühlt er sich hier wahrscheinlich in seinem Berlinertum gut erkannt. Das praktizierte er ja auch nach seinem Weggang aus Deutschland hartnäckig, indem er an seinem Berliner Dialekt festhielt. Obwohl die beiden nie zum „Du“ finden, entwickelt sich doch unter der Förmlichkeit ihrer Beziehung eine produktive Freundschaft. Sie bewährt sich als effektive Kooperation. Erwähnenswert ist vielleicht, dass Scholem nach dem Tod Adornos dessen Witwe Gretel darum bittet, fernerhin bei der brieflichen Anrede auf „Herr“ zu verzichten.[31]

Wahrscheinlich ist es auch auf die mehr kollegiale als freundschaftliche Umgangsweise der beiden zurückzuführen, dass in dem Briefwechsel so wenig Privates zur Sprache kommt und sie sich stattdessen manchmal sehr eingehend über gemeinsame Projekte und gerade fertig gewordene Arbeiten austauschen. Man lernt also bei der Lektüre dieses Briefwechsels nicht nur die subjektiven, manchmal erstaunlich emotionellen Hintergründe ihres öffentlichen Wirkens kennen, sondern wird auch unmittelbar in ihre intellektuellen Arbeitsprozesse mit hineingezogen. Den roten Faden ihres Austauschs bildet sicherlich, wie schon hervorgehoben, ihr Engagement für das Oeuvre ihres Freundes Walter Benjamin. Anfangs scheint es sich noch um einen recht zähen Kampf um die Durchsetzung dieses Werks zu handeln.[32] Als dann plötzlich, auch befördert durch die „Studentenbewegung“, die Schriften Benjamins in aller Munde sind, werden die beiden in heftige Auseinandersetzungen um die Exegese dieses Werks hineingezogen. Adorno, später arg mitgenommen davon, staunt über das Missverhältnis zwischen dem wachsenden Ruhm Benjamins und das, seiner Meinung nach, geringe Verständnis seines Denkens: „Merkwürdig ist nur, in welchem Mißverhältnis der Nimbus Benjamins zu dem mangelnden Verständnis seines Werks steht.“[33]

Obwohl im Unterschied zu dem „verzweifelten Nichtmarxist(en)“[34] Scholem durchaus von Marx inspiriert, hat Adorno doch, hierin mit Scholem einig, seine Vorbehalte gegenüber der sogenannten materialistischen Wende des späten Benjamin. Seiner Meinung nach sind die theologischen Motive des frühen Benjamin auch nach dieser Wende noch im Schaffen Benjamins lebendig, wenn auch nur versteckt. Als Scholem davon spricht, dass die Theologie beim späten Benjamin nicht „liquidiert“, sondern bloß „verschwiegen“ wird[35], so stimmt ihm Adorno hierin nachdrücklich zu.[36] Auch später, ein halbes Jahr vor seinem Tod, bekräftigt er Scholem gegenüber dieses Verständnis von Benjamins Oeuvre:

„Nach wie vor möchte ich zu meiner These stehen, daß auch in der materialistischen Phase die zentralen Motive Benjamins, säkularisiert, erhalten geblieben sind. Mein Gott,warum hätte er uns so fasziniert.“ [37]

 

Nun käme es nach Adorno darauf an – gerade angesichts der gerade modischen „vulgärmarxistischen“ Deutungen Benjamins –, diese Seite Benjamins ins Licht zu rücken. Bemerkenswert ist, wie oft er Scholem um eine Untersuchung über die Rolle der jüdischen Mystik für das Denken Benjamins bittet und wie reserviert Scholem auf diese Bitte reagiert.[38]

Vielleicht fürchtet Scholem als streng philologisch orientierter Wissenschaftler, hier auf das Glatteis der Spekulation gelockt zu werden.

Durch den Kontakt mit Scholem tritt eine Seite Adornos hervor, die sonst kaum wahrgenommen wird: sein Interesse an der jüdischen Mystik. So wird der Briefwechsel durch einen langen Brief vom 19. 4. 1939 eröffnet, in dem Adorno intensiv auf die Übersendung von Scholems Übersetzung eines Abschnitts des Sohar- Buches, dem Herausgeber zufolge „eines der wichtigsten Bücher der jüdischen Mystik“[39], reagiert. Ihn fasziniert dieser Text, weil hier anscheinend zentrale Motive seines eigenen Denkens und desjenigen Walter Benjamins einen unverhofften Rückhalt finden: „Die Frage nach dem Verblendungszusammenhang des Mythos“[40], seine Überzeugung von der geschichtlichen Vermitteltheit der Wahrheit und „Benjamins altes Theorem vom intentionslosen Charakter der Wahrheit“ [41] hat er dabei im Auge. Andererseits gibt er das Subjektive seiner Lektüre zu: Er habe dort „nichts anderes herausgelesen, als was ich hineingelesen habe.“ Dies sei aber „wohl bei einem Text gleich diesem nicht anders möglich.“[42] Scholem reagiert mit einem „ehrliche(n) Vergnügen“[43] auf diesen Brief, um aber zugleich sein nur begrenztes Verständnis von Adornos Buch über Kierkegaard, dessen Habilitationsschrift, einzugestehen.[44] Auf „Positionen“[45] dieses Buches hatte Adorno in seinem Brief verwiesen.

Obwohl Adorno die ihm zugesandten Schriften Scholems rezipiert, erklärt er doch seine Inkompetenz für das Fach Scholems, die Judaistik. Das wird deutlich, als er um einen Beitrag zur Festschrift für Scholem anlässlich dessen 70. Geburtstages gebeten wird. Außerstande fühle er sich, dazu „etwas Judaistisches abzuliefern“[46]. Stattdessen schlägt er einen Beitrag über seine Erfahrungen mit Scholem vor. Dieser Text soll ja, wie schon erwähnt, bei diesem Entzücken hervorrufen.

Auch Scholem setzt sich intensiv mit den Schriften Adornos, die ihm zugesandt werden, auseinander. Oft scheint er mit seinen Interpretationen genau das zu treffen, was Adorno im Sinn gehabt haben mag. Wenn er etwa Adornos „Minima Moralia“ als „eines der bemerkenswerten Dokumente der negativen Theologie“[47] wahrnimmt, so hat der Autor nichts dagegen einzuwenden – zumindest prinzipiell.[48]

Dass Scholem mit seinen Vorbehalten nicht hinter dem Berg hält, zeigt seine Reaktion auf Adornos Text über den „Jargon der Eigentlichkeit“, also Adornos Polemik gegen Heidegger. Nicht nachvollziehen kann er hier wie bei Benjamin den marxistischen Deutungsansatz Ansatz Adornos, d. h. dessen Versuch, die „gesellschaftliche Basis des Scheins von Unmittelbarem im Jargon“[49] aufzudecken. Auch bleibe ihm „unbegreiflich“, warum Adorno so allergisch auf den Begriff der Würde reagiere.[50]

Erstaunlich ist, wie gründlich sich Scholem mit Adornos „Negativer Dialektik“ auseinandersetzt (S. 407- 411). Er hebt hier gerade das an diesem Buch hervor, was  wohl Marxisten besonders befremden würde. Bekennen möchte er, „daß ich noch nie eine keuschere und in sich verhaltenere Verteidigung der Metaphysik gelesen habe.“[51] Adorno stimmt dem emphatisch zu: „Die Intention einer Rettung der Metaphysik ist tatsächlich in der ‚Negativen Dialektik’ die zentrale. Sehr glücklich bin ich, daß das herauskommt, und daß Sie damit sympathisieren.“[52] Die Harmonie zwischen beiden verflüchtigt sich aber deswegen nicht ins Überirdische, weil Adorno anschließend sofort auf ihre Meinungsverschiedenheit zu sprechen kommt: „Die Differenz liegt natürlich beim Verhältnis zum Materialismus.“[53] So versteht er sein Buch auch als Ansporn dazu, weiter mit Scholem zu diskutieren.

Dieser hatte allerdings in seinem Brief eine prinzipielle Gemeinsamkeit mit Adorno anhand eines prägnanten Zitates aus der „Negativen Dialektik“ hervorgekehrt: „ Als Motto künftiger mystischer Vorträge von mir habe ich mir den schönen Satz auf Seite 368 notiert: Das Totum ist das Totem. In dieser Losung dürften wir uns finden!“[54] Adorno wiederum ist damit einverstanden, sich zumindest vorläufig an diese prinzipielle Gemeinsamkeit zu halten: „Bis dahin vermag ich nichts anderes als mich unserer unio in haeresia zu freuen.“[55] Das „totum“ wird für Adorno deswegen zum „negativen Ganzen“, weil die systematische Aufmerksamkeit für alles Verwirklichte Ignoranz für alles Abgedrängte, zur Regression Verurteilte legitimiert.[56]

Indem sie sich auf diese Gemeinsamkeit verständigen, tritt vielleicht auch ein Motiv für ihre gemeinsame hohe Wertschätzung des Literaturwissenschaftlers Peter Szondi zutage. Von ihm ist in ihrem Briefwechsel viel die Rede. Bei Szondi scheint es sich nämlich um jemanden zu handeln, der dem gerade zitierten Grundgedanken aus der „Negativen Dialektik“ besonders nahe steht. Ihre Wertschätzung für und dann auch zunehmende Sorge um ihn gemahnt an ihre, zuletzt auch sorgenvolle Freundschaft zu Walter Benjamin. Wenn Scholem den sehr groß gewachsenen Szondi einmal ironisch den „kleinen Szondi“[57] nennt, so hat er dabei vielleicht nicht nur den Vater Szondis, den berühmten Psychologen Leopold Szondi, im Auge, sondern auch die Rolle Peter Szondis innerhalb ihrer gemeinsamen geistigen Welt: mehr als nur vielversprechend, aber doch weniger als voll eingelöstes Versprechen.

Als Adorno 1950 nach Deutschland zurückkehrte, kam er in ein Land, dem er zutiefst misstraute. Die objektive Unmöglichkeit, hier wieder zu existieren und zu arbeiten, wurde für ihn paradoxerweise zur Stimulans seiner Existenz und Arbeit. Statt sich innerlich an die neue Umwelt anzupassen, immunisierte er sich ihr gegenüber. Als jemand, der nicht dazu gehören wollte, vermochte er die zähen Rückstände einer Ideologie der Zusammengehörigkeit zu zersetzen. Eine Rücksichtnahme auf sogenannte fundamentale Gewissheiten war aus seiner Sicht deswegen nicht geboten, weil sich solche Gewissheiten als Selbsttäuschung erwiesen hatten. In dem Maße, wie Adorno im Deutschland der Nachkriegszeit ein Bedürfnis nach kritischer Reinigung verspürte, begann sich sein intellektuelles und publizistisches Schaffen expansiv zu entfalten. Der Außenseiter, der gebraucht wurde, rückte unverhofft ins Zentrum, ohne doch sein Außenseitertum einzubüßen. Wenn Gershom Scholem, Adornos Briefpartner, tastend, von seiner neuen israelischen Heimat herkommend, über die Schweiz wieder Kontakt mit Deutschland, seiner alten Heimat, aufnimmt, so vollzieht sich bei ihm eine ähnliche Entwicklung wie bei Adorno. Dass auch er innerhalb der deutschen Geisteswelt eine Rolle zu spielen beginnt – allerdings später als Adorno – , kann überraschen. Als Katalysator dafür fungiert die Durchsetzung des Oeuvres von Walter Benjamin. Das Werk Adornos wird durch seinen Briefwechsel mit Scholem, dem entschiedenen Juden, in ein neues Licht gerückt. Deutlicher als vorher tritt nun zutage, wie sehr doch das Denken Adornos von spezifisch jüdischen Intuitionen bestimmt wird.

[1] Theodor W. Adorno, Gershom Scholem: Briefwechsel 1939-1969. Hg. von Asaf Angermann. Berlin: Suhrkamp 2015, S. 358. (Adorno an Scholem, Frankfurt a. M., 22. 6. 1965)

[2] Theodor W. Adorno: „Ästhetische Theorie“. Gesammelte Schriften Bd. 7, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, S. 115.

[3] Ebd. (Nr. 1), S. 357/58.

[4] Vgl.: Gershom Scholem: „Judaica“ 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, S. 7-11. (Brief an Manfred Schlösser vom 18. 12. 1962) Siehe dazu auch den späteren Text Scholems von 1966: „Juden und Deutsche“, ebd., S. 20-46.

[5] Ebd (Nr. 1), S. 357/58. (Adorno an Scholem , Frankfurt a. M., 22. 6.1965)

[6] Ebd. (Nr. 1), S. 344. (Scholem an Adorno, Jerusalem, 28. 5. 1965)

[7] Ebd. (Nr. 1), S. 351 (Adorno an Scholem, Frankfurt a. M., 10. 6. 1965)

[8] Siehe hierzu Scholems – durchaus eher wohlwollende – Abhandlung „Martin Bubers Auffassung des Judentums.“ In: a.a. O. (Nr. 4), S. 133- 192. Dort kritisiert er etwa die biblische Exegese Bubers: „Seine Exegesen sind freilich, wo es hart auf hart geht […] pneumatische Exegesen. Aber es ist eine pneumatische Exegese mit Anmerkungen, die ihren pneumatischen Charakter ein wenig zurücktreten lassen oder geradezu verwischen.“ S. 184. Zu Scholems persönlicher Einstellung gegenüber Buber siehe auch Scholems Autobiographie: Gershom Scholem: „Von Berlin nach Jerusalem“. Frankfurt a. M. : Suhrkamp 1997, S. 62/63 und 65.

[9] Ebd. (Nr. 1), S. 354/55 (Scholem an Adorno , Jerusalem, 20. 6. 1965)

[10] Ebd. (Nr. 1), S. 80. (Adorno an Scholem, Frankfurt a. M., 22. 6. 1965)

[11] Ebd. (Nr. 1), S. 80 (Adorno an Scholem, Frankfurt a. M., 4. 3. 1951)

[12] Ebd. (Nr. 1), S. 78

[13] Ebd. (Nr. 1), S. 476 (Adorno an Scholem , Frankfurt a. M., 14. 3. 1968). Vgl. auch Scholem: „(Benjamin kein Philosoph!!!)“ Ebd. (Nr. 1), S. 466 (Scholem an Adorno, Jerusalem, 29. 2. 1968)

[14] Ebd. (Nr.1), S. 476.

[15] Ebd. S. 484 (Adorno an Scholem, Frankfurt a. M., 5. 4. 1968)

[16] Ebd. (Nr. 1), S. 541.

[17] Ebd.(Nr. 1), S. 12/13.

[18] Ebd. (Nr. 1), S. 12. Vgl. auch die Anrede im Brief von Scholem am 4.6. 1939, S. 15.

[19] Ebd. (Nr. 1),S. 391 (Adorno an Scholem, Frankfurt a. M., 1. 12. 1966)

[20] Ebd.(Nr. 1), S. 65 (Scholem an Adorno, Jerusalem, 5. 1. 1951)

[21] Ebd. (Nr. 1), S. 430 (Scholem an Adorno, Jerusalem, 21. 9. 1967)

[22] Ebd. (Nr. 1), S. 159.

[23] Ebd. (Nr.1), S. 160 (Hier Adorno gegenüber Horkheimer)

[24] Z. B. am 6. 12. 1959; 9. 6. 1960; 28. 11. 1960; 9. 5. 1961; 10. 4. 1962; 28. 7. 1963; 26. 12. 1965; 7. 3. 1969; 20. 4. 1969. Als Zwischenlösung verwendet Scholem öfter „G. Scholem“ oder seltener bloß „Scholem“.

[25] Ebd. (Nr. 1), S. 424 (Adorno an Scholem, Frankfurt a. M., 6. 6. 1967)

[26] Ebd. (Nr.1), S. 459 (Adorno an Scholem, Frankfurt a. M., 20. 2. 1968)

[27] Ebd.(Nr. 1), S. 473 (Adorno an Scholem, Frankfurt a. M., 14. 3. 1968)

[28] Ebd. (Nr. 1), S. 504 (Adorno an Scholem, Frankfurt a. M., 14. 3. 1968)

[29] Ebd. (Nr. 1), S. 489 (Adorno an Scholem, Frankfurt a. M., 7. 11. 1968)

[30] Ebd. (Nr. 1),S. 441 (Scholem an Adorno, Jerusalem, 8. 12. 1967)

[31] Ebd. (Nr. 1), S. 527 (Scholem an Gretel Adorno, Jerusalem, 27. 10. 1969)

[32] Ebd.,(Nr. 1), S. 85. (Adorno an Scholem, Frankfurt a. M., 13. 4. 1952)

[33] Ebd. , (Nr. 1), S. 403 (Adorno an Scholem, Frankfurt a. M., 10. 1. 1968)

[34] Ebd, (Nr. 1), S. 58 (Scholem an Adorno, Jerusalem, 4. 7. 1945); vgl. auch S. 448. Hier, in einem Brief an Adorno vom 8. 2. 1968, bezeichnet sich Scholem als einen „dezidierten Nicht-Marxisten“.

[35] Ebd., (Nr. 1), S. 75 (Scholem an Adorno, Jerusalem, 20. 2. 1951)

[36] Ebd., (Nr. 1), S. 79 (Adorno an Scholem, Jerusalem, 4. 3. 1951)

[37] Ebd. , (Nr. 1), S. 507 (Adorno an Scholem, Frankfurt a. M. , 26. 2. 1969)

[38] Ebd. sowie S. 462 (Adorno an Scholem, Frankfurt a. M., 20. 1. 1968). Demgegenüber Scholem: S. 467 (Scholem an Adorno, Jerusalem, 29. 2. 1967)

[39] Ebd., (Nr. 1), S. 12.

[40] Ebd., (Nr. 1), S. 11 (Adorno an Scholem, New York City, 19. 4. 1939)

[41] Ebenda

[42] Ebenda.

[43] Ebd. (Nr. 1), S. 15 (Scholem an Adorno, Jerusalem, 4. 6. 1939)

[44] Ebd. S. 16 sowie 16/17.

[45] Ebd. (Nr. 1), S. 11 (Adorno an Scholem, New York City, 19. 4. 1939)

[46] Ebd.(Nr. 1), S. 427 (Adorno an Scholem, Frankfurt a. M., 18. 9. 1967)

[47] Ebd. (Nr. 1), S. 83 (Scholem an Adorno, Jerusalem, 22. 2. 1952)

[48] Ebd. (Nr. 1), S. 85 (Adorno an Scholem, Frankfurt a. M., 13. 4.1952)

[49] Ebd. (Nr. 1), S. 316 (Scholem an Adorno, Jerusalem, 5. 1. 1965)

[50] Ebenda.

[51] Ebd. (Nr. 1), S. 407 (Scholem an Adorno, Jerusalem , 1. 3. 1967)

[52] Ebd. (Nr. 1), S. 413 (Adorno an Scholem, 14. 3. 1967)

[53] Ebenda.

[54] Ebd. (Nr. 1), S. 410 (Scholem an Adorno Jerusalem, 1. 3. 1967)

[55] Ebd. (Nr.1), S. 415 (Adorno an Scholem, Frankfurt a. M., 14. 3. 1967)

[56] Theodor W.  Adorno: „Negative Dialektik“, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1966, S. 368. ( „Das totum ist das Totem. Bewußtsein könnte gar nicht über das Grau verzweifeln, hegte es nicht den Begriff von einer verschiedenen Farbe, deren versprengte Spur im negativen Ganzen nicht fehlt. Stets stammt sie aus dem Vergangenen, Hoffnung aus ihrem Widerspiel, dem, was hinab mußte oder verurteilt ist;[…]“.)

[57] Ebd., (Nr. 1), S. 482. (Scholem an Adorno Jerusalem, 29. 3. 1968) („Der kleine Szondi ist heute morgen abgeflogen. Die Wirkung des Besuches auf ihn wird sich noch zeigen, denke ich mir.  Er ist nicht mit sich selbst im Reinen, sonst wäre es für ihn viel einfacher sich zu entscheiden, wohin er gehört.“)