Claude Vigée
Claude Vigée
Dass sich von hier aus, also dem Elsass, auch heutzutage noch weite geistige Horizonte eröffnen konnten, wurde mir schließlich aber erst durch meine Bekanntschaft und dann auch Freundschaft mit Claude Vigée bewusst. Adrien Finck ist es zu verdanken, dass dieser Kontakt 1997 bei einer Lesung Vigées im Künstlerhaus Edenkoben (Rheinland-Pfalz) zustande kam.
Beklommen begegnete ich ihm anfangs, weil er ja als elsässischer Jude Deutschland von seiner schlimmsten Seite unmittelbar kennengelernt hatte. Er überraschte jedoch durch sein Vermögen, ohne eine Verdrängung dieser potenziell entzweienden Vergangenheit Brücken zu bauen. Er ähnelte darin seinem Freund Finck, übertraf ihn aber in dieser Hinsicht an Reflektiertheit.
Überhaupt war Claude Vigée für Adrien Finck und andere elsässische Dichter deswegen wichtig, weil er sie mit seiner spirituellen Dynamik aus ihrer oft verzagten Winkelexistenz herauszuholen vermochte.
Als ich ihn kennenlernte, lebte er noch als emeritierter Professor für Romanistik und Komparatistik in Jerusalem. Meine ersten Briefe gingen also dorthin. Später sollte ich ihn in Straßburg, Paris, Bischwiller, Seebach, bei Lesungen auch in Mainz, Alzey, Stuttgart und Berlin treffen.
Da begegnete ich einem Mann, der sich souverän innerhalb der Welt der Literatur und der Universität zu bewegen vermochte und der doch kein typischer Repräsentant dieser Welt war. Ich hatte das Gefühl, als ob er ganz woanders her käme. Er trat dann höchst lebendig in Erscheinung, wenn man schon nicht mehr mit ihm rechnete. Deswegen schienen seine Erfolge die üblichen Vorstellungen vom Erfolg insgeheim in Frage zu stellen. Ihn zu feiern bedeutete dann immer auch, ihn in die Hand bekommen zu wollen. So fiel er in dem Maße wieder aus diesem Rahmen, wie er in ihm brillierte. Die zahlreichen Preise für sein literarisches Schaffen – zuletzt: „Grand prix national de la Poésie“(2013) – kamen mir wie rührende und letztlich vergebliche Versuche vor, ihn zu domestizieren. Da ich ja schon oft an dem Strebertum im intellektuellen Betrieb Anstoß genommen hatte, faszinierte mich diese subversive Haltung Vigées. Ohne intellektuellen Niveauverlust gelang es ihm anscheinend, das eherne Gesetz der déformation professionelle zu unterlaufen. Durch seine Auftritte in der literarischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit versuchte er sich nicht aufzuplustern. Auch auf dieser Bühne blieb er das Alltagswesen mit seinen sozialen und regionalen Eigenheiten, als das man ihn sonst erlebte. Während sich andere in der Öffentlichkeit hinter Masken einer undurchdringlichen Objektivität verbargen, durchkreuzte er solche Maskierungen von vornherein durch seine Bescheidenheit. Überraschend war sein Bekenntnis, sich innerhalb der Gesellschaft von Literaten, Künstlern und Kunstbeflissenen eher unbehaglich zu fühlen. Dieses Unbehagen stieg dann in ihm auf, wenn sich Leute in sogenannte höhere Sphären, auch der sozialen Distinktion, zu erheben suchten.
Seine gewisse Abseitsstellung innerhalb der literarischen und wissenschaftlichen Welt hatte aber nicht nur individuelle, sondern auch prinzipielle Gründe. Durch das Studium seiner Essays erfuhr ich, dass dahinter auch die Abgrenzung eines bewussten Juden von der „abendländischen“ Kultur steckte. Diese Abgrenzung stand unter einem spirituellen Vorzeichen. Ihn störte an dieser Kultur, dass hier alles dem Prinzip der Selbstverwirklichung untergeordnet wurde. Das galt auch für die Kunst. Unter diesen Voraussetzungen diente sie dem Menschen primär dazu, von sich selbst eine optimale Vorstellung zu gewinnen. Fern lag hier der Gedanke, dass die Kunst den Menschen gerade aus seiner Selbstbefangenheit befreien könnte. Maßgeblich dafür wäre nicht das menschliche Streben, sondern eine rezeptive Offenheit gewesen. Vigée betont eben diese verkannte Seite der Kunst, indem er auf die Rolle des Hörens hinweist. Im Rahmen der abendländischen Denktradition seit der griechischen Antike war das Hören von vornherein dem Sehen untergeordnet. Der Mensch verfügt ja beim Hören viel weniger über das Wahrgenommene als beim Sehen. Wenn Vigée demnach das Hören unter Inspiration durch die hebräische Bibel aufwertet, so setzt er sich bewusst in Gegensatz zur abendländischen Tradition.
Bemerkenswert und für Vigée höchst charakteristisch ist nun, wie er diese Opposition mit Hilfe seines heimischen, des elsässischen Dialekts ins Werk setzt. Er verstand seine Dialektdichtung – z. B. das lyrische Epos „Schwàrzi sengessle flàckere ém wénd“/ „Les orties noires flambent dans le vent“ (Schwarze Brennnesseln flackern im Wind) – als eine Frucht geduldigen Hinhörens. Indem er auf das lauschte, was ihn sprachlich anrührte: den Klang des heimischen Dialekts, entstand die Dichtung. Nicht die Semantik, sondern die Musikalität der Sprache war hier die Triebfeder. Ein solches Projekt konnte aber auch Anstoß erregen. Vigée setzte sich damit nicht nur in Gegensatz zu Prämissen einer abendländischen Ästhetik, sondern auch zur frankofonen Umwelt der Elsässer. Er gewann hier eine Lebendigkeit zurück, die offiziell, von Seiten des französischen Staates, verpönt war. Was da zutage trat, widersprach den geltenden kulturellen Normen.
Vigée hat diese Zwangslage der Elsässer in einem prägnanten, inzwischen berühmt gewordenen Satz erfasst. Er appelliert hier aber auch an seine verzagten elsässischen Dichterkollegen: Sich allein an das objektiv Erwartbare zu halten, hieße, sich selbst aufzugeben: „Nous avons la vitalité inattendu de ceux, qu’on a voulu comdamner un peu trop vite à l’inexistence.“[1] (Wir haben die unerwartete Vitalität derjenigen, die man ein wenig zu schnell zur Nichtexistenz hat verurteilen wollen.) Gerade anhand dieses Satzes wird auch ablesbar, wie sich bei Vigée jüdische und elsässische Intuitionen miteinander verschränken.
Der unverhoffte Aufschwung der Elsässer gemahnt an den Lebenstrotz der Juden insbesondere nach der Schoah. Verschweigen möchte ich nicht, dass auch ich mich durch diesen Satz ganz persönlich angesprochen fühlte.
Missverstehen würde man aber die Dialektdichtung Vigées meiner Meinung nach, wenn man sie bloß als Zeugnis eines Kampfes der Elsässer um ihre kulturelle Selbstbestimmung interpretierte. Dagegen spricht, dass diese Dichtung gerade einem Rückzugsverhalten entspringt. Der Elsässer muss eben zu einem geduldigen Hineinhören in sich selbst bereit sein, um sich die verschütteten Quellen seiner Lebendigkeit wieder zu erschließen. Auf eine Weise lebendig wurde er nun aber, wie er es sich vorher anhand seiner politischen oder psychologischen Kategorien noch gar nicht vorstellen konnte. Die Zukunft liegt für Vigée hier paradoxerweise nicht in Projekten, sondern in der Rückwendung auf ein längst noch nicht ausgeschöpftes, vielleicht sogar unausschöpfbares Altes.
Diese ungewöhnliche Sichtweise Vigées ist mir jüngst durch die Beschäftigung mit einem recht sperrigen Gedicht besonders deutlich geworden: „L’acte du bélier“ (Die Tat des Widders). Das geschah im Rahmen eines Workshops über die Lyrik Vigées, das 2013 vom judaistischen Institut der Universität Tübingen veranstaltet wurde. Auch Andrée Lerousseau, die einige meiner Texte, insbesondere zum Werk Claude Vigées, ins Französische übersetzt hatte, nahm daran teil.
Vigée greift in dem Gedicht auf die biblische Geschichte von der Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham zurück. Verschiedene Kommentare Vigées zu seinem Gedicht zeugen davon, welch hohen Stellenwert er dieser Geschichte beimisst. Ihre Deutung entscheidet aus seiner Sicht darüber, wie Gott und Mensch zueinander stehen. Damit berührt sie Vigée zufolge auch Grundfragen des Verhältnisses von Judentum und Christentum. Wie ich kürzlich entdeckte, besitzt diese biblische Geschichte auch für den israelischen Philosophen Omri Boehm eine Schlüsselrolle. Damit soll sie sogar für die aktuelle Politik in Israel relevant werden.[2]
Dass Abraham sich dazu bereit findet, seinen eigenen Sohn auf Geheiß Gottes zu opfern, wirkt zunächst unausweichlich. Sofern der Mensch die Allmacht Gottes anerkennt, kommt für ihn nur ein solcher Gehorsam in Frage. Die innere Gespanntheit des Gedichts ergibt sich nun daraus, dass Vigée wie alle Juden im Banne dieser unerbittlichen Konsequenz steht und er sich zugleich aus diesem Banne lösen möchte. Zu Beginn des Gedichts ereignet sich das Unerhörte, dass Gott auf seine Allmacht verzichtet. Das geschieht, indem er sich selbst in Gestalt des Widders aufopfert. Der Widder redet Abraham in der ersten Strophe direkt an, um ihm das zu verkünden. In dieser Gestalt tritt Gott aus seiner Unsichtbarkeit heraus und gibt sich zugleich preis. Nicht wie gewohnt als unerbittliche Autorität, sondern als Liebhaber des Lebens zeigt er sich nun. Isaak ist ja damit gerettet.
In seinem Kommentar kommt Vigée auf den Gedanken, dass es sich bei der Prüfung Abrahams durch Gott auch um eine Überprüfung des menschlichen Verständnisses von Gott handelt.[3] Wer Gott bloß als unerbittliche Autorität verstünde, ließe sich gar nicht recht auf ihn ein. Er fasste ihn so korrekt auf, dass er ihn damit verkürzte. Korrektheit zeugte hier von einer Unempfänglichkeit für die schöpferische Generosität Gottes. Kann überhaupt eine Wahrheit, die bloß zerstört, noch als Wahrheit gelten? Vigée entdeckt, dass die Wahrheit, die den Menschen trägt, auch vom Menschen getragen werden muss. Sonst erstarrte sie in furchtbarer Reinheit.
In einem anderen Kommentar gebraucht Vigée den Begriff der Beschneidung, um die Nichtfixierbarkeit Gottes deutlich zu machen. Indem Gott auf die konsequente Durchsetzung seiner Autorität verzichtet, beschneidet er sich selbst. So wird er dem Menschen komplementär, der sich ja seinerseits durch seine Beschneidung Gott geweiht hat.[4]
Vigée versteht dieses Entgegenkommen Gottes auch als Chance für den Menschen, Gott zur Sprache zu bringen. Der Mensch muss nicht mehr angesichts der Unermesslichkeit Gottes verstummen. Auf Gott zu hören, heißt nicht mehr, sich selbst aufzugeben. Hören, das über zwanghaftes Gehorchen hinauskommt, befreit sich zur Sprache.
Vigée betont in seinem Gedicht nachdrücklich die Paradoxie, dass die Zukunft des Menschen in dieser (hörenden) Rückwendung liegt. Wenn demnach Gott wegen seines Entgegenkommens zur Sprache gebracht werden kann, so passt er sich damit nicht dem Menschen an, sondern wendet sich ihm nur zu. Der Mensch vermag zwar nun mit ihm umzugehen, nicht aber über ihn zu verfügen. Hier deutet sich Vigées (dichterischer) Anspruch an, das Möglichwerden der Mitteilung nicht mit einer Verbilligung des Mitzuteilenden zu erkaufen. Ein antinomisches Verhältnis zwischen Mitteilung und Mitzuteilendem gibt es für ihn nicht. Die (dichterische) Sprache vermag ihm zufolge Zeitloses in die Zeit zu überführen, ohne es damit zu entkräften. „Zeitloses“ entpuppt sich bei Vigée als Quell einer unwiderstehlichen Zukunftsenergie.
Das Erscheinen des Opfertiers, des Widders, fällt mit dem „retour au ancien feu“ (Rückkehr zum alten Feuer) zusammen. Diese Rückwendung zum Alten lähmt deswegen nicht, weil es sich bei diesem Alten eben um Feuer, also pure Energie, handelt. Das Alte erweist sich als das ewig Neue, das wegen seiner unauslöschlichen Glut zurückgedrängt wurde. Das Feuer – zugleich die dominierende Metapher in dem Gedicht – gilt als die Zukunft der Welt: „le feu vivant du monde“ (das lebendige Feuer der Welt). Aufgabe des Menschen wäre es, diese Zukunft zu entbinden. Verspielen würde er sie, wenn er sich allein auf sich und seine Projekte verließe. Er müsste sein Handeln vielmehr so anlegen, dass das Gelingen nicht nur von seinem eigenen Vermögen abhinge.
Das Gedicht „l’acte du bélier“ zeigt, wie Vigée darum ringt, strikte Konsequenz durch die Erschließung ihres Sinns zu überwinden. Ohne in ihrem Kern angetastet zu werden, verwandelt sie sich in schöpferische Inkonsequenz. Er gibt sich damit als jemand zu erkennen, der sich dem Weltlauf zugunsten des Lebens der Welt widersetzt. Das scheint überhaupt charakteristisch für ihn zu sein. Durch seine Suspendierung der eingespielten Logik von Aktion und Reaktion entzieht er sich anscheinend allem Streit, bezieht damit aber gerade die denkbar radikalste Stellung gegenüber diesem Eingespielten, dem Weltlauf. Er sucht das Leben wieder ins Spiel zu bringen, das von den üblichen Frontbildungen, Oppositionen und Selbstbehauptungen überlagert wurde. Könnte es nicht sein, dass über der notwendigen Organisierung des Lebens durch den Menschen der Sinn für das Leben selbst verkümmert?
Recht viel habe ich bislang über Vigée geschrieben. Sogar ein Buch ist mit Hilfe von Írisz Sipos daraus geworden. Seine Bedeutung erschöpft sich aber für mich nicht darin, Forschungsgegenstand zu sein. Seit seiner Lesung an der Mainzer Universität am 21. April 1998 und seinem Besuch bei uns zu Hause gehört er zum familiären Umkreis. Auch Katherine ist mit ihm befreundet; unsere Kinder lieben ihn. Bei unseren Besuchen in seiner Pariser Wohnung – anfangs noch in Gegenwart seiner Frau Évy – meinten wir etwas wie Zärtlichkeit zu verspüren.
Wenn ich das Gedicht, das er mir gewidmet hat: „Quand vient sur nous le soir“ direkt auf mich beziehen würde, so erschiene ich da als jemand, der sich unbewusst aus dem Kerker seines Ichs herauswände. Jedenfalls hat er mich darin bestärkt, Lebensimpulse, die unter dem Schutt meiner selbst begraben waren, wieder frei zu legen.
Auszug aus dem Schlusskapitel des autobiografischen Buches von Helmut Pillau: „Wildwuchs. Eine Jugend inmitten des zerrissenen Berlin“ Berlin : 2015.
[1] Claude Vigée: „Les avantages du pire“.In: Claude Vigée: „La lune d’hiver“. Récit-Journal –Essai. Paris: Honoré Champion 2002, S. 255.
[2] Vgl. Omri Boehm: „Theologie des Ungehorsams. Israels Konservative berufen sich gern auf das Alte Testament und die Opferung Isaaks. Doch welchen Gott meinen sie eigentlich?“ In: „Die Zeit“, 21. 11. 2013, S. 66.
[3] Vgl. Claude Vigée: „L’objet du sacrifice. Essai sur l’autodestruction”. In: Claude Vigée: “Pentecôte à Bethléem.” Choix d’essais, 1960-1987. Paris: Parole et Silence 2006, S. 49-67.
[4] „Le sacrifice du bélier est la circoncision de YHWH.“ In: Claude Vigée: “La lune d’hiver”. Récit-Journal-Essai. Paris: Honoré Champion 2002, S.355.
- AZ Zusatz Artikel 9. November
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