Deutsche Christen im Dritten Reich

Evangelische Christen auf der schiefen Ebene: über die „Deutschen Christen“ im „Dritten Reich“.

Vortrag zum 9. November 2014 (Gedenkveranstaltung zur „Reichspogromnacht“ in Heidesheim am Rhein in Zusammenarbeit mit den beiden christlichen Kirchen und dem Forum „Kultur und Politik“)                                                                                  Helmut Pillau

 

1.

 

Um so größer der zeitliche Abstand zum Dritten Reich wird, um so offener können wir uns auf die Verirrungen in jener Zeit einlassen. In der Nachkriegszeit begnügte man sich noch mit einer pauschalen moralischen Verurteilung des nationalsozialistischen Regimes. Dass seine Macht wesentlich auf der Bereitwilligkeit vieler, deren Korrumpierbarkeit und auch auf einer Hohlheit religiöser Überzeugungen beruhte, konnte oder wollte man noch nicht wahrhaben. Erst Jahrzehnte später wagte man es, solchen Wahrheiten ins Auge zu sehen. Schöne Selbsttäuschungen wie etwa der Mythos von der „sauberen Wehrmacht“ wurden demontiert. Dem Glauben an die Rechtschaffenheit staatlicher Institutionen wie des Auswärtigen Amtes wurde durch historische Recherchen die Grundlage entzogen. Dass der Holocaust nicht durch eine zumindest stillschweigende Duldung vieler möglich gewesen wäre, begann man einzusehen. Auch in der evangelischen Kirche registrierte man mit Schrecken, wie gering damals die eigene Standfestigkeit gegenüber der vorherrschenden, zutiefst unchristlichen Weltanschauung war.

Ich möchte im Folgenden eine Fraktion innerhalb dieser Kirche wie die „Deutschen Christen“ ins Visier nehmen, die uns heutzutage sehr peinlich ist. Es geht mir dabei aber nicht nur um einen Blick in die Geschichte. Durch die „Deutschen Christen“ kommt nämlich auch eine charakteristische Eigenart des deutschen Protestantismus auf eine sehr drastische Weise zum Vorschein. Als seine Stärke mag gelten, im Unterschied zum Katholizismus sensibel auf dominierende Tendenzen der Zeit zu reagieren. Diese Stärke kann sich aber dann als Schwäche erweisen, wenn der Protestantismus in den Sog jener Tendenzen gerät.

Zunächst wird es mir darum gehen, die Entwicklung der „Deutschen Christen“ zu skizzieren. Dabei muss auch ihr Verhältnis zu den „Deutschgläubigen“ geklärt werden. Zur Veranschaulichung möchte ich schließlich einen Blick darauf werfen, wie sich ein prominenter Vertreter der „Bekennenden Kirche“: Martin Niemöller in seinen „Dahlemer Predigten“ mit den „Deutschen Christen“ auseinandersetzt.

2.

Die „Deutschen Christen“ könnte man für einen organisatorischen Ableger der NSDAP halten wie die SA, SS oder Hitler-Jugend. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass sie ganz unabhängig von der Partei Hitlers entstanden sind. Ihre Wurzeln reichen bis ins Ende der Kaiserzeit und der zwanziger Jahre zurück. Sie entspringen einer übergreifenden „völkischen“ Strömung mit langer Tradition in Deutschland wie auch die NSDAP selbst.

Die Forderungen, die der „Bund für deutsche Kirche“, ein Vorläufer der „Deutschen Christen“, in den zwanziger Jahren stellt, sind von einer verführerischen Popularität. Damit das Christentum in Deutschland besser gedeihe, müsse es noch besser verwurzelt werden. Anzustreben sei, wie es in der Satzung des „Bundes“ heißt, endlich ein „’deutschheimatliches Christentum’“[1] zu schaffen. Das habe Luther durch seine Reformation vorbereitet, nun müsse man dieses Werk vollenden. (1938 werden sich übrigens die „Deutschen Christen“ in „Luther -Deutsche“ umbenennen.) Die Kehrseite der angestrebten besseren Verwurzelung tritt aber sofort zutage. Sie bedeutet nämlich, dem Christentum seine eigenen Wurzeln auszureißen. Es solle aus seiner „jüdischen Umklammerung“[2] gelöst werden. Praktisch bedeutet dies, sich vom Alten Testament loszusagen. Schon 1917 hatte es in einer Schrift zum Reformationsfest mit dem Titel „Deutschchristentum auf evangelischer Grundlage“ geheißen, dass das Alte Testament „nicht zur Erklärung der christlichen Religion und zum Verständnis der Person Jesu erforderlich und verwendbar“[3] sei.

Der Ausdruck „Deutschchristentum“ war von dem nationalistischen Germanisten Adolf Bartels geprägt worden. Von ihm stammt auch die Parole, die als Leitidee der späteren Bewegung der „Deutschen Christen“ gelten kann: „Immer mehr Deutschchristentum, immer weniger Judenchristentum!“[4] (Es mag sein, dass man auf so etwas wie eine „christianisierte Ethnoreligion“ hinaus wollte. Diesen Ausdruck verwendet der protestantische Theologe Friedrich Wilhelm Graf für die Russisch Orthodoxe Kirche.[5])

Da ein Christentum ohne Jesus Christus unmöglich war, gab man sich große Mühe, Jesus von seiner jüdischen Herkunft rein zu waschen. In Wirklichkeit sei er gar kein richtiger Jude gewesen, spekulierte man.[6]

Ich habe durch einen Blick auf die Vorgeschichte der „Deutschen Christen“ schon die wichtigsten Motive ihres Denkens genannt, die ab 1932 kirchenpolitisch relevant werden sollen. Nun kommen diese Christen aus dem provinziellen Winkel Ostthüringens heraus, wo sie sich Ende der zwanziger Jahre befanden.[7] Sie formieren sich als Partei bei den Kirchenwahlen in Altpreußen. Als Organisator tut sich dabei der protestantische Theologe Joachim Hossenfelder hervor, der zuvor bereits als „Kirchenfachberater der NSDAP“ fungierte.[8] Die „Deutschen Christen“, deren „Reichsleiter“ er wird, bezeichnet er 1933 knallig als „SA Jesu Christi“[9]. Damals erst Anfang Dreißig soll er übrigens nach dem Kriege als respektierter Pfarrer von 1947 – 1969, bis kurz vor seinem Tode wirken dürfen.

Als Menetekel kann gelten, dass die „Deutschen Christen“ bei den Kirchenwahlen in Altpreußen 1932 ein Drittel der Sitze gewinnen.[10] Ihr wichtigstes Ziel ist es, die verschiedenen Landeskirchen zu einer einheitlichen „Reichskirche“ zu vereinen. Im September 1933 wird auch der Wehrkreispfarrer Ludwig Müller zum „Reichsbischof“ gewählt.

Es überrascht wenig, dass die „Deutschen Christen“ nach der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 kirchenpolitisch triumphieren. Sie erringen bei den Kirchenwahlen am 23. Juli 1933 im Reich etwa 70% aller Sitze. Seitdem wird aus der Sicht ihrer Widersacher, der sich formierenden „Bekennenden Kirche“, zwischen „zerstörten“ und „intakten“ Landeskirchen unterschieden. In den ersteren geben die „Deutschen Christen“ den Ton an, in den letzteren die Anhänger der „Bekennenden Kirche“. Außer den Landeskirchen von Bayern, Württemberg und Hannover muss man alle anderen zu den „zerstörten“ Landeskirchen zählen.[11] Dazu gehörte übrigens auch unsere eigene Landeskirche in Hessen und Nassau, die erst 1933 auf Druck des Regimes aus den bis dahin selbstständigen Landeskirchen von Nassau, Hessen-Darmstadt und Frankfurt gebildet worden war.

Am 13. November versuchen die „Deutschen Christen“ mit einer großen Kundgebung im Berliner Sportpalast zum entscheidenden Schlag auszuholen. Vor 20 000 Teilnehmern hält der „Gauobmann“ der „Deutschen Christen“ von Groß-Berlin Reinhold Krause eine Rede, in der er eine Reinigung der Bibel von allem „Undeutschen“ fordert, gegen die „Viehhändler- und Zuhältergeschichten“ im Alten Testament polemisiert und die „Sündenbock- und Minderwertigkeitstheologie des Rabbiner Paulus“[12] verdammt. Konkret wird gefordert, im Sinne des sogenannten Arierparagrafen Pfarrer jüdischer Herkunft aus dem Kirchendienst zu entfernen.

Nach dieser Veranstaltung kommt es aber zu heftigen kritischen Reaktionen innerhalb der evangelischen Kirche. Als wichtigstes Ergebnis davon kann die berühmt gewordene „Barmer Theologische Erklärung“ gelten, die übrigens auch im Anhang unseres Kirchengesangbuches zu finden ist. Hier wird unter Inspiration von Karl Barth, bis Ende 1934 noch Professor für Theologie in Bonn, eine scharfe Abgrenzung vom Wollen der „Deutschen Christen“ vorgenommen. Diesen kam es darauf an, als Quellen für die Offenbarung auch eine „natürliche Gottesoffenbarung“ anzuerkennen, wobei sie vor allem an das deutsche Volk und seine Geschichte dachten. Demgegenüber wird in der „Barmer Theologischen Erklärung“ darauf gepocht, dass als Quelle der Offenbarung allein „Gottes Wort“ in Frage komme.[13]

Heutzutage trösten sich die Protestanten gern damit, dass es mit der „Bekennenden Kirche“ im Dritten Reich eine Alternative zur Charakterlosigkeit der „Deutschen Christen“ gegeben habe. Von den nationalsozialistischen Machthabern in die Illegalität gedrängt, der finanziellen Autonomie beraubt[14], und existenziell bedroht, schienen die Anhänger der „Bekennenden Kirche“ vor der herrschenden Ideologie gefeit zu sein. Obwohl dieses Urteil im Großen und Ganzen zutrifft, verdeckt es doch auch leicht innere Risse innerhalb der kirchlichen Opposition. Bereits die internen Diskussionen über die „Barmer Theologische Erklärung“ zeigten, wie schwer eine eindeutige Haltung zu den „völkischen“ Prinzipien des Regimes herzustellen war. Das Streben nach Aktualität, das die Protestanten beseelte, offenbarte seine Zweischneidigkeit. So wurde die „Barmer Erklärung“ in dem „Ansbacher Ratschlag“ deswegen kritisiert, weil man sich hier theologisch hochfahrend über einen inzwischen angeblich bestehenden Konsens in der Bevölkerung hinwegsetze. Wenn die Kirche den Offenbarungsrang „natürlicher Ordnungen wie Familie, Volk, Rasse (d.h. Blutszusammenhang)“[15] bestreite, manövriere sie sich ins gesellschaftliche Abseits. Wenn Anhänger der „Bekennenden Kirche“ durch diese Argumentation beeinflusst wurden, so zeigte sich daran die Suggestivkraft des damals vorherrschenden Zeitgeistes. Die prinzipielle Differenz zu den „Deutschen Christen“ begann zu verschwimmen.

Besonders deutlich kommt diese innere Entzweiung innerhalb der „Bekennenden Kirche“ zum Vorschein, als ein hoher kirchlicher Repräsentant 1938 die Ablegung eines Treueides auf Hitler durch alle evangelischen Pfarrer fordert.[16]

Die „Deutschen Christen“ erstrebten im Dritten Reich eine Synthese von Christentum und Nationalsozialismus, die aber in Wahrheit eine Liquidation des Christentums bedeutete. Die „Deutschgläubigen“ demgegenüber kämpften mit offenem Visier. Sie plädierten für eine Abschaffung des Christentums, weil es das deutsche Volk angeblich an sich selbst irre gemacht habe. Mathilde Ludendorff, die Frau des berühmten Generals aus dem Ersten Weltkrieg, hatte bereits in den zwanziger Jahren in diesem Sinne agitiert.[17] Unter den prominenten Nationalsozialisten ist Alfred Rosenberg derjenige, der aufgrund seines Buches „Der Mythus im zwanzigsten Jahrhundert“ im Dritten Reich am entschiedensten eine solche Position vertritt. Wie Goebbels berichtete, sah auch Hitler selbst die Dinge nicht anders. Das Christentum wertete er als „Verfallssymptom“ und eine „Ablagerung der jüdischen Rasse.“[18] Obwohl viele der radikalen Nationalsozialisten, also insbesondere die Angehörigen der SS, einer „neuheidnischen Religion“ anhingen, verzichtete Hitler auf eine öffentliche Propagierung dieser Weltanschauung. Eine „strategische Klugheit“[19] gebot es ihm, auf die noch mächtigen christlichen Traditionen im Lande vorerst Rücksicht zu nehmen.

3.

Von Charakter zeugt es, sich nicht vom Augenschein, dem Erfolg und allgemein vorherrschenden Stimmungen beeindrucken zu lassen. In diesem Sinne hat Martin Niemöller im Dritten Reich Charakter bewiesen – wie übrigens auch Dietrich Bonhoeffer. Da Niemöller von Hause aus ein glühender Patriot war und er anfangs sogar die „nationale Erhebung“ von 1933 begrüßte[20], war seine Opposition gegenüber dem Regime Hitlers keineswegs selbstverständlich. Wie die Gründung des „Pfarrernotbundes“ am 11. September 1933, der Keimzelle der „Bekennenden Kirche“, zeigte, vermochte er durchaus anscheinend unwiderstehlichen Zeittrends zu widerstehen.

Im Folgenden möchte ich anhand einiger Zitate aus den „Dahlemer Predigten“ demonstrieren, wie sich Niemöller mit den „Deutschen Christen“ auseinandersetzt. Die Originalmanuskripte dieser Predigten sind übrigens deswegen nicht erhalten, weil sie von der Gestapo beschlagnahmt wurden. Ihre Überlieferung fußt teilweise auf stenografischen Mitschriften, die von Barbara Loewenberg, einer sogenannten Halbjüdin und ehemaligen Konfirmandin Niemöllers, stammen.[21]

Schon 1932 lässt sich Niemöller nicht von der äußereren Intaktheit der evangelischen Kirche in Deutschland blenden. Er durchschaut, dass diese Institution zunehmend nicht auf dem Glauben ihrer Mitglieder fußt, sondern nur noch auf Trägheit und Konventionen. Wiederholt spricht er in seinen Predigten vom „Morschen“ dieser Institution.[22] So wundert ihn nicht, wie leicht die Mehrheitskirche vor der völkischen Ideologie und damit den „Deutschen Christen“ einknickt. Die Nazis können aber die Kirche nach Niemöllers Einsicht nur deswegen so erfolgreich untergraben, weil sie dabei auf ihre Weise den allgemeinen Prozess einer totalen Verweltlichung vorantreiben. Da aber für ihn das Leben der Kirche und die Institution der Kirche durchaus zweierlei sind, entmutigt ihn diese Diagnose nicht.

Aus seiner Sicht sind die „Deutschen Christen“ für die Kirche weit gefährlicher als die „Deutschgläubigen“. So stellt er in seiner Predigt vom 18. 3. 1934 fest:

„Die einen sagen das ganz offen und ehrlich: ’wir wollen einen deutschen Glauben, wie er unserer völkischen Eigenart entspricht; deshalb sagen wir uns vom Christenglauben als einer volksfremden Religion los; die anderen aber – und das ist das Gefährliche – vermeiden den offenen Bruch, sie behalten den Christusnamen, sie nennen sich weiter ‚Evangelische Kirche’ und gehen doch ihren eigenen Weg, ohne zu fragen, was Jesus Christus als der eigentliche Herr der Kirche dazu sagt.“ [23]

 

Von heute aus gesehen, finde ich etwas anderes erschreckend an den „Deutschen Christen“. Sie zeugen nämlich davon, wie wenig viele Deutsche, die sich damals für Christen hielten, im Grunde das Christentum verinnerlicht hatten.

Am 12. 8. 1934 zitiert Niemöller in seiner Predigt ausführlich den Antrag einer westfälischen Gemeindegruppe, um seinen eigenen Gemeindemitgliedern in Berlin- Dahlem auf abschreckende Weise das Wirken der „Deutschen Christen“ innerhalb der Kirche vor Augen zu führen:

„’Durchdrungen von der göttlichen Sendung des deutschen Volkes und der Überzeugung von der rassischen Minderwertigkeit des Judentums, dessen Ursprung schon Jesus Christus als wahrhaft teuflisch bezeichnete, fühlt sich die hiesige Gemeindegruppe getrieben, im heiligen Kampf gegen die unselige Zwiespältigkeit unseres Glaubenslebens und dem erbitterten Ringen gegen die verhängnisvolle Verjudung des Christentums die erste Vorstellung zu stürmen. Die hiesige Gemeindegruppe stellt darum an das Presbyterium folgenden Antrag: Alle Lieder und liturgischen Stellen mit den Namen und Ausdrücken ‚Heil’, ‚Zion’ usw. werden im Gottesdienst nicht mehr gesungen. Das nächste Ziel ist wenigstens die Entjudung und Reinigung unseres Kirchengesanges. Unsere treibende Kraft ist der Glaube an Christus, der kein Jude war.’“[24]

 

Niemöller war durchaus vom traditionellen religiösen Antijudaismus des Protestantismus geprägt, ohne aber Antisemit im rassistischen Sinne zu sein.[25] Trotzdem widerspricht er energisch der soeben gehörten Meinung der „Deutschen Christen“, Jesus vom Judentum zu trennen. Er weist in seiner Predigt vom 24. 4. 1937 darauf hin, „[…]daß es diesem lebendigen Gott gefallen hat, seinen Sohn ausgerechnet im jüdischen Volk Mensch werden zu lassen; wir wissen ja, wie groß der Anstoß und das Ärgernis ist.“[26]

Jesus provoziert aber nach Niemöller vor allem deswegen, weil er radikal mit eingefleischten menschlichen Verhaltensweisen bricht. Ganz im Sinne der „Barmer Theologischen Erklärung“ wendet sich Niemöller dagegen, das Christentum durch seine Bindung an „natürliche Ordnungen des Volkes und der Rasse“ retten zu wollen oder gar diese Ordnungen religiös zu überhöhen wie im „Neuheidentum“. Um diese Immunität des Christentums gegen die Suggestivität des sogenannten Natürlichen herauszustellen, greift er zu einem zentralen Begriff der jüdischen Theologie, nämlich demjenigen des „Gesetzes“. Das Sollen, das im Gesetz Gestalt annimmt, bricht die hemmungslose Kumpanei des Menschen mit sich selbst. Durch den Verzicht darauf, sich Gott nach eigenem Belieben zurecht zu biegen, kann die „menschliche Selbstherrlichkeit“ überwunden werden. In seiner Predigt vom 20. 12. 1936 geht es Niemöller darum, diese läuternde Fremdheit Gottes gegenüber den Menschen einzuschärfen. Er streift hier die Paradoxie, dass einem Gott zugleich fremd und nahe sein kann. Obwohl nicht assimilierbar, kommt Gott doch den Menschen nahe: „[…] daß eine fremde Stimme spricht: ’Ich bin der Herr! Ich bin dein Gott!’“[27]

Niemöller kämpft nicht nur theologisch gegen die Verirrungen der „Deutschen Christen“, sondern er führt auch diese Verirrungen auf das für den deutschen Protestantismus charakteristische Streben nach einer Beglaubigung durch den „Zeitgeist“ zurück. So gibt er in seiner Predigt vom 8. 9. 1935 ganz im Sinne von Karl Barth[28] zu bedenken:

„Seit hundert und mehr Jahren rennt die Kirche hinter dem Zeitgeist her mit der Bitte um ein Empfehlungsschreiben; sie hat es auch wohl bekommen, aber jedesmal mußte sie es mit einem Stück des Evangeliums bezahlen und jedesmal hat sie ein neues Ideal dafür eingetauscht. Immer weniger war die Rede von dem, was Gott durch Christus an uns Menschen tut; immer lauter aber sprach man stattdessen von dem, was wir selber tun müßten oder wollten.“[29]

 

4.

Auch heutzutage ist die evangelische Kirche ziemlich scharf darauf , „Empfehlungsschreiben“ vom Zeitgeist zu bekommen. Vielleicht liebt sie die schöne Rede von der „Bewahrung der Schöpfung“ auch deswegen so sehr, weil sie damit unverhofft vom Rande in die Mitte der Gesellschaft rückt. Plötzlich sieht sie sich an der Spitze der ökologischen Bewegung. Einer Akzeptanz erfreut sie sich nun, bei der nicht mehr ganz klar ist, ob sie auf der eigenen Botschaft oder aktuellen Zeitströmungen beruht. Sie liebäugelt auch damit, Anschluss an eine – inzwischen fast totalitär gewordene – Wellnessindustrie zu gewinnen. Wenn diese sogar das Bedürfnis nach einer spirituellen Animation bedienen möchte, so heben manche Gewitzte in der Kirche allzu schnell den Finger.

Solche möglichen Anbiederungen zeigen, wie wenig die Kirche noch ihrer eigenen Botschaft zutraut. Durch ihre Genugtuung darüber, sich auf der Höhe der Zeit zu befinden, erlahmt ihr Vermögen, gegebenenfalls gegen den Strom zu schwimmen. Sie vergisst dann, dass die Plausibilität ihrer Botschaft von ganz anderer Art ist als die gängige Plausibilität. Mit den Worten von Jesus: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ (Joh. 18, 36)

Als normal gilt etwa, nur dann etwas für andere zu tun, wenn man auch selbst irgendwie davon profitiert. Christlich zu handeln, heißt dagegen, sich über diese Normalität hinwegzusetzen.

Der katholische Journalist Matthias Dobrinski warnt die Kirche davor, als Prüfstein für die Erfüllung ihres Auftrags die allgemeine Zustimmung zu betrachten: „Was müssen wir tun, um besser anzukommen. Diese Haltung macht die Kirche krank […].“[30] Viel Zuspruch durch die anderen zu erhalten, müsste demnach die Christen – die katholischen wie die evangelischen – an sich zweifeln lassen. Umgekehrt könnte ihnen das Kopfschütteln der anderen anzeigen, sich auf dem richtigen Weg zu befinden.[31] Ihre Aufgabe wäre nicht, aus der eigenen Zeit auszusteigen, sondern, den Nerv der Zeit zu treffen, den der tonangebende Zeitgeist verschleiert.

[1] Zitiert nach: Kurt Meier: Kreuz und Hakenkreuz. Die evangelische Kirche im Dritten Reich. München: dtv 2008 (2. Aufl.), S. 24.

[2] Ebenda

[3] Ebenda, S. 23.

[4] Zitiert nach: Uwe Puschner: Deutschchristentum. Eine völkisch-christliche Weltanschauungsreligion. In: Richard Faber und Gesine Palmer (Hg.): Der Protestantismus – Ideologie, Konfession oder Kultur? Würzburg: Königshausen und Neumann 2003, S. 106.

[5] Friedrich Wilhelm Graf: Mord als Gottesdienst. In: FAZ, Feuilleton, 7. 8. 2014.

[6] Puschner (Nr. 4), S. 109-110.

[7] Vgl. Meier (Nr. 1), S. 22.

[8] Meier (Nr. 1), S.29.

[9] Zitiert nach: Ernst Klee: Personen im Dritten Reich. Frankfurt a. M.: Fischer 2005, S.271.

[10] Meier (Nr. 1), S. 30

[11] Meier (Nr. 1), S. S. 46. Vgl. auch Christoph Strohm: Die Kirchen im Dritten Reich. München: Beck 2011,S. 35. (In der großen altpreußischen Landeskirche machte nur Westfalen eine Ausnahme.)

[12] Zitiert nach Strohm (Nr. 11), S. 37; vgl. auch Meier (Nr. 1), S. 51.

[13] Strohm (Nr.11), S. 49; vgl. auch Meier (Nr. 1), 63.

[14] Strohm (Nr. 11), S. 69.

[15] Ebenda, S.51.

[16] Ebenda, S. 78.

[17] Vgl. Meier (Nr. 1), S. 103-106.

[18] Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. München: Beck 2007, S.397.

[19] Michael Weinrich: Karl Barths Kampf gegen die religiöse Versuchung des Nationalsozialismus. In: Faber/Palmer (Nr. 4), S. 133.

[20] Vgl. Martin Niemöller: Dahlemer Predigten. Kritische Ausgabe, hg. von Michael Heymel. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2011, S. 124 und 132/133. Siehe auch: Strohm (Nr. 11), S.114

[21] Dazu sowie über Niemöllers Verhältnis zu Barbara Loewenberg siehe: Niemöller, „Dahlemer Predigten“ (Nr. 20), S. 21-24.

[22] Z. B. am 2. 9. 1934: „Gewiß: es ist seit langem schon nicht mehr zu leugnen, daß vieles, allzu vieles in unserer evangelischen Kirche morsch und tot war.“ Ebd., S. 227.  Siehe auch am 30. 5. 1932, S. 84.

[23] Ebenda, S. 189.

[24] Ebenda, S. 217-218.

[25] Vgl. den Abschnitt „Antijudaismus bei Niemöller“ in dem „Editorischen Vorbericht“ zu Niemöllers „Dahlemer Predigten“ von Michael Heymel: ebenda, S. 54-69. Hier stellt Heymel fest: „Ein Antisemit konnte nach seiner [d.h. Niemöllers ] Meinung kein Christ sein.“ Ebd., S. 67. Siehe dazu auch die entschiedene Position von Dietrich Bonhoeffer: „Eine Verstoßung der Juden aus dem Abendland muß die Verstoßung Christi nach sich ziehen;denn Christus war Jude.“ Zitiert nach Friedländer (Nr. 18), S. 959.

[26] Ebenda, S. 613.

[27] Ebd., S. 537. Vgl. dazu Karl Barth: „Er [d. h. Gott] bekennt sich zu uns, indem er die Distanzen zwischen uns und ihm schafft und wahrt.“ Karl Barth: Der Römerbrief (Zweite Fassung 1922), Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2012 (19. Auflage) , S. 17.

[28] Vgl. Weinrich (Nr. 19), S. 126.

[29] Niemöller (Nr. 20), S. 363.

[30] Matthias Dobrinski: „Anatomie eines Misstrauensvotums“. In: Süddeutsche Zeitung vom 19. 7. 2014.

[31] Niemöller formuliert dies in seiner Predigt vom 29. 4. 1935 folgendermaßen: „Luther hat einmal gesagt, die allerschlimmste Anfechtung für die Gemeinde wäre die, wenn sie keine Anfechtung hätte.“ Niemöller (Nr. 20) S. 320. Vgl. auch Martin Luther: „Es ist auch meine allergrößte Sorge und Furcht, daß meine Sache könnte unverdammt bleiben, daran ich gewißlich erkennen würde, daß sie Gott nicht gefalle.“Am Schluss von: Martin Luther: „An den christlichen Adel deutscher Nation“ In: derselbe: „An den christlichen Adel deutscher Nation. Von der Freiheit eines Christenmenschen. Sendbrief vom Dolmetschen.“ Stuttgart: Reclam 1995, S. 109.