“Jettchen Gebert” – Auschwitz
„Jettchen Gebert“– Auschwitz.
Über den berlinisch-jüdischen Schriftsteller Georg Hermann
Helmut Pillau
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Offen zutage liegen die unermesslichen Schäden, die den Juden in Deutschland durch die Nazis zugefügt wurden. Weniger deutlich sind die Verluste, welche die deutsche Kultur hierbei erlitten hat. Da nämlich die Juden im Laufe von Jahrhunderten allmählich zu einem integralen Bestandteil der deutschen Kultur geworden waren, führte ihre gewaltsame Entfernung auch zu größeren Versehrungen dieser Kultur. Daran muss ich immer wieder denken, wenn ich auf einen deutschen Juden stoße, der durch die Nazis aus dem öffentlichen Bewusstsein in Deutschland gedrängt wurde.
Das gilt etwa für den jüdischen Schriftsteller Georg Hermann aus Berlin. Die Pflege seines Werks in der DDR und der – letztlich gescheiterte – Versuch einer repräsentativen Gesamtausgabe seines Werks um 2000[1] können nicht darüber hinwegtäuschen, dass er uns mittlerweile fast ganz entglitten ist. An ihn, vor allem aber an seinen Roman „Jettchen Gebert“, möchte ich heute erinnern.
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Geboren wurde er 1871 in Friedenau, einem Teil von Schöneberg, das später zu einem Bezirk von Groß-Berlin werden sollte. Sein Vater Hermann Borchardt betätigte sich ziemlich erfolglos als Kaufmann. Nach dem Tode des Vaters bekannte sich der Sohn zu ihm, indem er den Vornamen des Vaters zu seinem Nachnamen machte.[2] Seinem Bruder Ludwig Borchardt gelang es früher als ihm selbst, den Familiennamen wieder zu Ehren zu bringen. Er wurde zu einem bedeutenden Archäologen, zum Gründer und langjährigen Leiter des „Deutschen Instituts für ägyptische Altertumskunde“ in Kairo und vor allem Entdecker der berühmten Büste der Nofretete. Georg Hermann dagegen tat sich schwer, seinen Weg zu finden. Seiner Tochter Hilde schrieb er einmal trotzig, dass er niemals ein Examen bestanden habe.[3] Durch das Schreiben, zunächst als Journalist, kam er in die richtige Bahn. Sein Herz schlug jedoch weniger für die Sprache selbst als vielmehr für die Dinge, die er sah. Als ‚Augenmensch’ faszinierten ihn Werke der bildenden Kunst, die Architektur und Landschaften. So betätigte er sich zunächst als Kunstkritiker. Die Berliner Maler Max Liebermann und Heinrich Zille wurden später zu seinen Freunden. Seine Karriere als Romancier begann 1896 mit der Veröffentlichung des ersten Romans „ Spielkinder“.
Oft kokettierte er damit, „zur Literatur keine Beziehung“[4] zu haben. Bei dieser demonstrativen Anspruchslosigkeit mag es sich aber auch um eine literarische List handeln. Alltägliches, das sonst dem literarischen Anspruch allzu schnell zum Opfer fiel, konnte nun leichter zur Sprache gebracht werden.[5] Überhaupt stand Hermann in einem gespannten Verhältnis zur Künstlichkeit der Schriftsprache. Er betrachtete sie als eine Fessel, die auch beim Schreiben möglichst zugunsten der mündlichen Rede gelockert werden sollte.[6] Indem er die Sprache lässig, gar nachlässig handhabt, möchte er den Dingen einen Vorsprung gegenüber der hegemonialen Tendenz der Sprache verschaffen.
Es liegt auf der Hand, dass sich Hermann durch dieses literarische Understatement von der Avantgarde seiner Zeit, aber auch von Autoren mit einem hoch entwickelten Stilbewusstsein wie Thomas Mann absetzte. Er bewegte sich weiter in den traditionellen Bahnen der Berliner Realisten Theodor Fontane und Wilhelm Raabe. Als „jüdischen Fontane“ bezeichnete man ihn auch.[7] Die strengen Literaturkritiker rümpften die Nase über die Popularität, die er durch eine solche Schreibweise gewann. Das gilt insbesondere für seinen Roman „Jettchen Gebert“, der 1906 erscheint und in Millionen von Exemplaren verbreitet wurde.
Attraktiv war dieser Roman für das Publikum sicherlich durch sein Sujet. Es handelte sich hier nämlich um die „bittersüße“[8] Liebesgeschichte zwischen einer schönen und gebildeten Jüdin: Jettchen Gebert und einem nichtjüdischen jungen Literaten: Dr. Fritz Kößling. Während Jettchen, bereits 27jährig, wohl behütet als Waise im Hause ihres Onkels Salomon, eines wohlhabenden Kaufmanns, lebte, versuchte sich ihr künftiger Freund mithilfe kleinerer Publikationen notdürftig über Wasser zu halten.
Diese Geschichte gefiel insbesondere deswegen, weil Hermann mit ihr zugleich die Zeit des Berliner Biedermeier um 1839/40 plastisch vor Augen führte. Sein großes kunstgeschichtliches Wissen befähigte ihn dazu, diese Zeit mit ihrer Mode, der Architektur sowie der einschmeichelnden Inneneinrichtung der Wohnungen anschaulich darzustellen. Hermann war sich bewusst, dass er damit eine nostalgische Vorliebe seiner Zeitgenossen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts für die Lebenswelt ihrer Eltern traf.[9] Es ging ihm jedoch hierbei nicht nur um das Heraufbeschwören einer versunkenen, vermeintlich noch ‚heilen Welt’. Dies wird insbesondere an einer weiteren Figur des Romans: Jason Gebert, dem Bruder Salomons, ablesbar. Dieser unverheiratete Onkel fungiert als Mentor Jettchens. Ihm vor allem ist es zu verdanken, dass sie einen inneren Abstand zur traditionellen Welt ihrer jüdischen Familie und zur Welt des Geschäftlichen gewinnt. Er öffnet ihr den Blick für die zeitgenössische Literatur – etwa für Börne, Heine und Jean Paul – , an der er leidenschaftlich interessiert ist. Jason humpelt ein wenig, weil er bei seiner Teilnahme an den „Befreiungskriegen“ von 1813 leicht verwundet wurde. Als „im Herzen roter Republikaner“[10] lebt er sehr bewusst in seiner Zeit. Hierbei handelt es sich in Preußen um die Phase des Übergangs von Friedrich Wilhelm III. zu Friedrich Wilhelm IV. Hoffnungen auf eine Verfassung, die durch Friedrich Wilhelm III. nach dem Sieg Napoleons über Preußen geweckt wurden, sind im Schwange, werden aber durch reaktionäre Tendenzen konterkariert. Dieses Zwielicht spiegelt sich auch im Denken Jasons wider, das zwischen Optimismus und einem pessimistischen Realismus pendelt. Angesichts der repressiven politischen Umstände zieht er sich auch gern in das Refugium seiner Wohnung mit dem exquisiten Mobiliar und der riesigen Bibliothek zurück. Insofern handelt es sich bei ihm um ein typisches Kind seiner Zeit, schwankend zwischen den auf 1848 vorausweisenden „revolutionären“ Erwartungen, also dem „Vormärz“, und der Rückzugswelt des „Biedermeier“.
Jettchen ist vor allem durch die Nähe zu ihrem Onkel zur wachen Zeitgenossin und insofern bewussten Berlinerin geworden. Dass sie sich im Sinne ihres Mentors emanzipiert, zeigt sich durch ihren Kontakt zu Kößling. Sie hat ihn durch ihren Onkel kennengelernt, der ihn wegen seiner geistigen Unabhängigkeit und persönlichen Integrität schätzt. Der Onkel fördert diese Beziehung.
Kößling kommt aus der „Provinz“, d. h. Braunschweig, bekennt sich aber zu Berlin: „Lieber soll es mir in Berlin schlecht gehen als in Braunschweig gut.“[11] Dies korrespondiert mit dem Credo Jettchens: „Leben möchte ich nirgend anders als in Berlin, nur nicht in einer kleinen Stadt.“[12]
Berlin, die Hauptstadt Preußens, kam den Juden besonders entgegen. Signifikant hierfür ist etwa das preußische „Emanzipationsedikt“ von 1812, das neben der in dieser Hinsicht noch progressiveren französischen Verfassung von 1791 als „eines der modernsten Europas“ gilt.[13]
Gert Mattenklott, der Herausgeber von „Jettchen Gebert“, schreibt in seinem Nachwort über die Schlüsselrolle der Juden für Berlin, wobei er allerdings über die von Hermann geschilderte Epoche des Biedermeier hinaus greift:
„Von Moses Mendelssohn, dem Seidenhändler und Philosophen für die Welt, über Rahel von Varnhagen, die Itzigs, Gans, Börne und Heine; von den staatstragenden Bankiers des späten 19. Jahrhunderts, denen – wie den Rathenaus – die Brandenburger so nahe waren wie einer der Stämme Israels, schlingt sich durch die Geschichte der preußischen Metropole ein Faden jüdischer Geschichte, den man nicht ziehen kann, ohne dass das Gewebe zerfällt.“[14]
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Im Folgenden soll der Roman vor allem unter einem strukturellen Aspekt, nämlich dem Verhältnis zwischen den Protagonisten und der Handlung, betrachtet werden. So möchte ich den Qualitäten des Romans auf die Spur kommen, durch die er überdauern mag.
Auffällig an dem Roman ist in dieser Hinsicht eine Inkongruenz zwischen den Protagonisten und der Handlung. Statt dass sich die Individuen in der Handlung wiederfinden würden, werden sie von ihr eher überrollt. Sie hoffen zaghaft, den Gang der Dinge selbst bestimmen zu können: Jettchens Liebe zu Kößling weckt die Hoffnung auf ein eigenständiges Leben, Jason schwärmt von der persönlichen und politischen Emanzipation, Kößling träumt von seiner Selbstverwirklichung als Liebender und Schriftsteller. Obwohl diese Erwartungen allesamt enttäuscht werden, flackern sie doch immer wieder auf. Jason etwa verfügt durchaus über eine realistische Einsicht in die familiären und politischen Machtverhältnisse, versinkt aber trotzdem nicht in Resignation. Die drei Widersacher des Establishments müssen aber regelmäßig ihre Ohnmacht erfahren. Der Zukunft verschworen, arbeitet doch die Zeit nicht für sie. Der Erzähler kommentiert dieses gewisse Ausgeliefertsein mit einem Satz, der wegen seines häufigen Vorkommens wie ein Refrain wirkt: „Und es kam, wie es kommen mußte.“[15]
Der Gang der Dinge wird in dem Roman durch Personen bestimmt, die weniger profiliert sind als die drei Hauptpersonen. Sie fungieren als Drahtzieher mächtiger kollektiver Traditionen oder der ökonomischen Vernunft. Das Judentum der Familie Gebert sticht dabei besonders hervor. Dass es in der Großstadt Berlin aber in religiöser und lebensweltlicher Hinsicht eher verblasst, zeigt sich im Kontrast zum ostjüdischen Zweig der Familie, den Jacobys. Der Erzähler schildert diese Leute mit einem geradezu satirischen Ingrimm als provinziell, borniert und grob materialistisch. [16]
Aber auch Jason weiß genau, welch konstitutive Rolle das Judentum für die Familie spielt. Er spricht vom „Stolz“ der jüdischen Gemeinschaft, sich über Jahrhunderte hinweg gegenüber einer eher feindseligen Umwelt behauptet zu haben. Dieser Faktor ist für ihn entscheidend, nicht aber die Religion, die er im Hinblick auf Jettchen und ihren christlichen Freund als eine „äußerliche Zufälligkeit“ bezeichnet.[17] Auch sein Bruder Salomon argumentiert eher sozial als religiös, wenn er eine Ehe zwischen Jettchen und Kößling ablehnt.[18]
Als sich Kößling noch zu Beginn seiner Bekanntschaft mit Jettchen angesichts der duckmäuserischen Mentalität der Deutschen zu einer Hymne auf den extremen Individualismus aufschwingt, meint Jettchen:
„Ich verstehe das wohl, lieber Herr Doktor, aber es ist doch wieder fremd für mich und so seltsam. Sehen Sie, -bei uns ist das anders. Bei uns kommt keiner los von der Familie, bei uns nicht.“[19]
Sie gesteht also, wie wenig ihr intellektueller Sinn für die individuelle Autonomie doch Resonanz in ihrem Inneren findet. Ihr Gefühl widerstrebt diesem modernen Prinzip. In diesem Sinne betont sie nachdrücklich ihr Aufgehobensein innerhalb der eigenen, der jüdischen Familie. Hier gebührt dem Kollektiv selbstverständlich Vorrang gegenüber dem Einzelnen. Allerdings scheinen sich in dieser Äußerung ein Stolz auf die jüdische Exklusivität und ein Bedauern darüber zu mischen. Auch wenn der Einzelne es wollte, so scheint er sich doch nicht der Vormacht der Familie entziehen zu können.
Insbesondere Tante Riekchen, die Frau Salomons, engagiert sich für die familiären Belange. Sie hat Julius Jacoby, einen unattraktiven, aber tüchtigen Vetter Jettchens, als geeigneten Ehepartner für ihre Nichte ausgeguckt. Mit aller Kraft versucht sie zu verhindern, dass sich Jettchen auf Kößling einlässt. Diese Beziehung würde ihr zufolge nicht nur einen gesellschaftlichen und ökonomischen Abstieg, sondern auch ein Ende der familiären Kontrolle über Jettchen bedeuten. Sie appelliert an das familiäre Pflichtbewusstsein ihrer Nichte. Zwanzig Jahre lang habe sie als Waise die Fürsorge der Familie genießen können, nun müsse sie sich auch dankbar dafür zeigen. Jettchen kapituliert schließlich gegenüber dieser Argumentation: „Wenn ihr es für gut haltet,[…]“[20]
Als sie jedoch in den Stress der Heiratsvorbereitungen hineingerät, beginnt sie deutlich ihre Selbstpreisgabe zu empfinden. Sie erfährt sich nur noch als Rädchen innerhalb eines Getriebes, das durch ihre Tante in Gang gehalten wird: „Wie eine Marionette kam sich Jettchen vor […]“[21] Tante Riekchen tritt in diesem Zusammenhang nicht mehr als Individuum, sondern nur noch als anonyme Vollstreckerin konventioneller Automatismen in Erscheinung. Als das „weiße, breite Etwas“ wird sie mehrfach apostrophiert.[22]
Auch Jason kommt nicht recht über den Widerstreit zwischen der Einsicht in die existenzsichernde Macht der Familie und der Hoffnung auf eine individuelle Selbstverwirklichung hinaus. Einmal beginnt er halb verzweifelt über die Möglichkeit einer radikal verinnerlichten Liebe zu sinnieren. So würde die Liebe vor den Irritationen der Außenwelt bewahrt und „unzerstörbar“[23] werden können. Kößling verwirft als Betroffener solche exaltierten Reflexionen als „seelische Feigheit“[24]. Sie schärfen aber zumindest den Blick dafür, dass der Roman seine beglückenden Momente nicht durch den Fortgang der Handlung, sondern gleichsam nur exterritorial, durch ein Innehalten, gewinnt. Von einer „Entwicklung“ wie beim klassischen „Bildungsroman“ kann hier keine Rede mehr sein. Im Verweilen, nicht im Fortschreiten, wird so etwas wie Glück möglich:[25] Jason zieht sich von den politischen Frustrationen in das erquickende Intérieur seiner Wohnung zurück; die Versenkung in die Natur, etwa in die Schönheiten des Schlossparks von Charlottenburg, erlöst zeitweilig von den zwischenmenschlichen Problemen; Jettchen genießt mit ihrem Freund die „stille Freudigkeit der Gegenwart“[26] und befreit sich damit von quälenden Gedanken an die Zukunft.[27]
Es kommt mir so vor, als ob der Erzähler die Romanfiguren durch diese Ruhemomente vor der unerbittlichen Konsequenz der Handlung in Schutz nehmen und wieder zu sich selbst finden lassen wollte. Ein menschliches Maß wird zumindest für Momente zurück gewonnen..
Klar ist, dass ein ungetrübtes Happy End unter den geschilderten Umständen ausgeschlossen bleibt. Als sich Jettchen durch die energische Heiratspolitik ihrer Familie vollends in die Enge getrieben fühlt, bricht sie aus: Sie verlässt nach der Trauungszeremonie die Hochzeitsgesellschaft und verweigert sich damit einem Vollzug der Ehe. Ein starker emanzipatorischer Akzent wird so gesetzt, der aber folgenlos bleiben soll. Am Ende des Romans verharrt Jettchen auf der Schwelle zwischen einem Leben innerhalb der Familie und einem Leben mit ihrem Geliebten.
Hermann entschloss sich, auch auf Drängen seiner Leser, zu einer Fortsetzung des Romans. Dieser Folgeroman trägt den Titel: „Henriette Jacoby“. Häufiger noch als im vorherigen Roman erklingt nun der fatalistische Refrain: „Und alles kam, wie es kommen mußte […]“.[28]
Nunmehr im Hause ihres Onkels Jason lebend, bleibt Jettchens Existenz zunächst im Schwebezustand. Letztlich muss sie aber erkennen, dass sie durch ihre Liebe zu Kößling nicht über die Welt ihrer Familie hinausgetragen, sondern sogar noch tiefer darin verstrickt wurde. Nach ihrer ersten und einzigen Nacht mit Kößling wird ihr nämlich klar, in Wahrheit nicht ihn, sondern ihren Onkel zu lieben. Angesichts ihrer aussichtslosen Lage beschließt sie, sich umzubringen. In ihrem Abschiedsbrief an Kößling heißt es: „Ich wollte immer andere Wege gehen als die anderen, und nun habe ich mich verirrt.“[29]
Merkwürdig ist, dass nach der Lektüre von „Jettchen Gebert“ und „Henriette Jacoby“ weniger die Trostlosigkeit der Handlung als vielmehr die Lebendigkeit mancher Figuren in Erinnerung bleibt. Hermann scheint demnach beim Schreiben Wert darauf zu legen, die Unerbittlichkeit der Handlung möglichst zu unterlaufen. Im Vorwort zu „Jettchen Gebert“ deutet er diese Intention an. Er wehrt sich hier dagegen, das geschichtliche Vergehen von Menschen wie Jettchen mit ihrer Auslöschung gleichzusetzen. Da diese Menschen doch einmal gewesen seien, müsse dieses Sein auch gegen die Furie des Verschwindens in Schutz genommen werden.[30] Dass es ihm dabei vor allem um eine Rettung des intensiv gelebten Lebens vor den nivellierenden Tendenzen sogenannter sozialer und geschichtlicher Notwendigkeiten geht, bringt er neunzehn Jahre später in seinem Essay „Weltabschied“ von 1935 zum Ausdruck:
„Also, die letzte Triebfeder meines Schreibens war, die tiefe Angst, nicht vor dem Nichtsein, nicht vor dem Nichtmehrsein, sondern dem Nichtmehrsein des einmal gelebten Seins.“[31]
Was bedeuten diese allgemeinen Gedanken Hermanns für das rechte Verständnis der Romane? Sie bewahren zunächst davor, beide nur anhand der nackten Handlungsresultate verstehen zu wollen. Dass in dem Konflikt zwischen familiären und individuellen Ansprüchen letztlich die Familie obsiegt, kann nicht als das letzte Wort der Romane gelten. So muss Hans Kohn widersprochen werden, der aus dem Roman „Henriette Jacoby“ 1922 anhand einer gelegentlichen Äußerung Jasons über die Lebenswärme der jüdische Familie einen Lobpreis dieser Familie herauslesen möchte.[32] Hermanns Romane haben jedoch eine doppelte Zielrichtung: Sie zeigen nicht nur die mangelnde soziale Fundierung individueller Lebensentwürfe, sondern auch die Vereitelung individueller Hoffnungen durch die übermächtige Familie. Statt die eine Seite über die andere richten zu lassen, spiegelt Hermann vielmehr den Clinch beider Seiten wider.
Jettchen verkörpert den Aufschwung einer großen Liebe, der sich zwar an den vorherrschenden Umständen bricht, aber auch das Beengende dieser Umstände fühlbar werden lässt. Sie blüht durch diese Liebe auf. An Hermanns Formulierung vom „einmal gelebten Sein“ kann man hier denken.
Zumindest mit dieser Figur ist es Hermann gelungen, eine Figur von ikonischer Qualität zu schaffen. Sie vermag sogar unabhängig von den Romanen weiter zu leben. Davon zeugt die Ausstellung „Jettchen Geberts Kinder“, die vom 1. November 1985 bis zum 13. Januar 1986 in der „Berlinischen Galerie“ anhand von Beständen des Leo-Baeck-Instituts gezeigt wurde. Der Untertitel dieser Ausstellung lautete: „Der Beitrag des deutschen Judentums zur deutschen Kultur am Beispiel einer Kunstsammlung.“[33]
Der Erfolg des Romans führte dazu, dass „Jettchen Gebert“ auch in unterschiedlichen medialen Versionen weiter lebte. Zweimal wurde er dramatisiert: zuerst 1913 und dann 1978, in einer Fassung von Reinhard Baumgart. 1918 entstand eine filmische Version. Der Stoff des Romans reizte dazu, ihn in eine Operette zu verwandeln. Ein Happy End schien da unverzichtbar zu sein. Diese Operette wurde 1928 in Berlin mit der Musik von Walter Kollo, einem in Berlin recht populären Komponisten, uraufgeführt.
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Am Schluss möchte ich noch einen Blick auf das weitere Schaffen, die Überzeugungen und den Lebensweg Hermanns werfen. Vom Ende der Kaiserzeit bis kurz nach dem Ende der „Weimarer Republik“ arbeitet er unter anderem an Romanzyklen, d. h. insgesamt fünf Romanen, unter dem Obertitel „Kette I und II“. Hauptfigur hierin ist der jüdische Schriftsteller Fritz Eisner, den man als alter ego Hermanns verstehen kann. Diese Figur erlebt die Novemberrevolution von 1918, die krisenhaften, tendenziell auch antisemitischen Verhältnisse der „Weimarer Republik“ und den Zusammenbruch dieser Republik, ohne daran allzusehr Anteil zu nehmen. So sucht sich Eisner vor einer Politik abzuschirmen, die anscheinend auf eine Vereinnahmung des ganzen Menschen abzielt. In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein, mir signifikant erscheinendes Detail aus dem Roman „Ruths schwere Stunde“, einem Teil des Zyklus, aufmerksam machen. Ich denke an einen Wutausbruch Eisners über den Begriff der Geschichte. Die autoritäre Aufladung dieses Begriffs stört ihn. Dieser Begriff soll die Menschen an ihre Kleinheit erinnern, um sie für die sogenannten großen Dinge gefügig zu machen: „Geschichte… was ihr so Geschichte nennt, ist Quatsch, Nonsens, Wahnsinn und Weltverblödung.“[34] Den Menschen die Ehrfurcht vor diesem Begriff zu nehmen, bedeutet für Eisner, sie frei zu machen. Der Begriff der Geschichte erinnert insofern an die „Handlung“ im Roman „Jettchen Gebert“; die „Geschichte“ steht genau so wenig auf der Seite der Menschen wie die „Handlung“. Formal gesehen: Wenn auch die Romane Hermanns von der Handlung zusammengehalten werden, so leben sie doch eher von einzelnen Eindrücken und „Impressionen“.
Dass Figuren in Hermanns Romanen ihr Glück nicht in den offiziellen Bahnen, sondern nur abseits davon – mit den Worten Jettchens „als kleines, übersehenes Unkraut“[35] – zu finden vermögen, schwächt sie nicht, sondern lässt sie erst richtig lebendig werden.[36]
Dies kommt übrigens auch den eigenen Überzeugungen Hermanns nahe. Von den Sphären der politischen Macht und des „Geschichtsträchtigen“ sucht er möglichst Abstand zu halten. Dabei versinkt er aber nicht in politische Abstinenz. Er wirkt mit seinem Humanismus unpolitisch und verhält sich trotzdem politisch – ähnlich wie seine Romanfigur Jason Gebert. Gesellschaftlich engagiert war Hermann als Mitbegründer und zeitweiliger erster Vorsitzender des „Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller“. Sein Herz schlägt nicht für die Mächtigen, sondern, auch aufgrund eigener Erfahrungen, für die Beiseitegeschobenen und Erfolglosen. Er gehörte zu den deutschen Schriftstellern, die sich eindeutig zur „Weimarer Republik“ bekannten. Bereits vor 1933 wertete er den Nationalismus als die gefährlichste politische Tendenz seiner Zeit. Da er den Zionismus, also das politische Streben der Juden nach einem eigenen Staat, als Variante des Nationalismus kritisierte, schuf er sich manche Feinde unter den Juden. Der Versuch der Zionisten, sich, manchmal auch unter religiösen Vorzeichen, eine eigene jüdische Identität wieder zu erarbeiten, beurteilte er – sicherlich vorschnell – als Irrweg.[37] Stattdessen sollten sich die deutschen Juden seiner Meinung nach darauf konzentrieren, Deutschland für Europa zu öffnen.[38] Nach 1933 grenzt er sein Werk energisch von der deutschen Literatur ab und rechnet es einer übernationalen „modernen Zeitliteratur“[39] zu. Andererseits meint er, dass „meine Romane so etwas wie berlinisch-märkische Heimatkunst waren und eine Geschichte der Berliner Juden in hundert Jahren umfassen.“[40]
Auf die Berliner und Berlin lässt er bis zuletzt nichts kommen.[41] Das Berlinische und das Kosmopolitische scheinen aus seiner Sicht miteinander vereinbar zu sein.
Es liegt auf der Hand, dass Hermann den Nazis wegen seiner politischen Ansichten und seiner jüdischen Herkunft ein Dorn im Auge sein musste. Da dies Hermann wohl bewusst war, kehrte er nach der Machtergreifung Hitlers 1933 Deutschland sofort den Rücken. Holland wählte er sich auch deswegen zum Exil, weil er dort relativ bekannt war. Holländische Verlage veröffentlichten noch einige seiner Romane.[42]
Wenn ich nun von seinem weiteren Ergehen nach der Okkupation der Niederlande durch die deutsche Wehrmacht im Jahre 1940 erzähle, gerate ich ins Stocken. Durch das Erzählen wird nämlich eine Kontinuität vorgespiegelt, die in diesem Falle gerade fälscht. Sein Schicksal: Internierung im Lager Westerbrok im Jahre 1943, anschließende Deportation des 72jährigen, schwer kranken Mannes nach Auschwitz und seine dortige sofortige Ermordung, steht in keinem organischen Zusammenhang mehr mit seinem bisherigen Leben, seinem Werk und seinen Gesinnungen. Nur von einem absoluten Bruch kann hier die Rede sein, der zugleich auf einen unheilbaren Bruch in der deutschen Geschichte und Kultur verweist.
Statt wie behauptet unsere Identität als Deutsche zu stärken, haben uns die Nationalsozialisten vielmehr an uns selbst irre werden lassen. Unser historisches und kulturelles Selbstverständnis ist durch sie aus den Fugen geraten. Lernen müssen wir erst wieder, dass uns ohne jüdische Schriftsteller wie Georg Hermann etwas fehlt. Diesem war es mit seinen Romanen zumindest zeitweise gelungen, die Berliner von ihrer chronischen Fixierung auf das jeweils Aktuelle zu lösen und ihre Sinne für ihre eigene nähere Vergangenheit zu öffnen. [43]
(Vortrag zum 9. November 2013 – „Reichspogromnacht“ – im Rahmen einer Gedenkveranstaltung der beiden christlichen Kirchen und dem „Forum Kultur und Politik“ in Heidesheim am Rhein)
[1] Georg Hermann: Werke und Briefe. Hg. von Gert und Gundel Mattenklott. Berlin: Das Neue Berlin 1998 ff. Im Auftrag des Fachbereichs Germanistik der FU Berlin und des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam.
[2] Georg Hermann: „Die Reise nach Massow“. Erzählungen und Skizzen. Hg. von Bernhard Kaufhold. Berlin: Das Neue Berlin 1981 (2. Aufl.), S. 259-260.
[3] Georg Hermann: „Unvorhanden und stumm, doch zu Menschen noch reden.“ Briefe aus dem Exil 1933-1941 an seine Tochter Hilde. Hg. von Laureen Nussbaum. Mannheim: Persona-Verlag 1991, S. 28. (Brief vom 15. 6. 1934)
[4] „Massow“ (Nr. 2) , S. 275. Vgl. auch „Unvorhanden“ (Nr. 3), S. 202 -203 (Brief vom 24. 11. 1940)
[5] Gundel Mattenklott: „Hermann löst den Alltag aus seiner gewohnheitsbedingten Unsichtbarkeit.“ Nachwort zu: Georg Hermann: „Henriette Jacoby“. Berlin: Das Neue Berlin 1998, S. 396.
[6] Hermann zu seiner Tochter Hilde: „Ja es gibt keine Schriftsprache. […] Also schreib wie du sprichst.“ „Unvorhanden“ (Nr. 3) , S. 208.
[7] Ebd., S. 39-40. (Brief vom 22. 8. 1934)
[8] Fred Grubel: Vorwort zu „Jettchen Geberts Kinder“. Berlinische Galerie / Leo Baeck Institut New York, Jerusalem, London 1985, S. 7.
[9] Vgl. Hermanns Essay: „Das Biedermeier“, mit dem er 1913 einen Sammelband über diese Epoche einleitete. Massow (Nr. 2), S. 323-361, insbesondere S. 325.
[10] Georg Hermann: „Jettchen Gebert“. Hg. von Gert Mattenklott. Berlin: Das Neue Berlin 1998, S. 375.
[11] Ebd., S. 97.
[12] Ebd., S. 134.
[13] Margret Heitmann: Anbruch „einer neuen glücklichen Ära“? 200 Jahre Emanzipationsedikt in Preußen. In: „Kalonymos“. 15. Jahrg. 2012, Heft 1, S. 5. Allerdings wurde das Edikt 1814/15 teilweise wieder aufgehoben. Ebd., S. 3.Vgl. hierzu auch: Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang. München: Deutsche Verlagsanstalt 2007, S. 391 – 393. Der wichtigste Punkt des „Emanzipationsediktes“ liegt hiernach darin, „dass alle jüdischen Einwohner in Preußen, die im Besitz von Generalprivilegien, Einbürgerungsurkunden, Schutzbriefen oder besonderen Konzessionn waren, künftig als ‚Einländer’und ‚Statsbürger’ des Staates Preußen betrachtet werden sollten.“ S. 392.
[14] „Jettchen Gebert“ (Nr. 10), S. 501-502.
[15] Ebd. Z. B.: S. 372 und 428.
[16] Gert Mattenklott kritisiert Hermann deswegen. Ebd., S. 504-505.
[17] Ebd., S. 277.
[18] Ebd., S. 323.
[19] Ebd., S. 145.
[20] Ebd., S. 426
[21] Ebd., S. 482.
[22] Ebd., S. 400, 425, 479.
[23] Ebd., S. 334.
[24] Ebd., S. 356.
[25] Hermanns Tochter Hilde Borchardt formuliert diese Doppelbödigkeit 1933 prägnant in einer Rede über ihren Vater: „Das liebevolle Verweilen beim Detail klingt wie die freundliche Begleitung zu einem traurigen Text.“ „Unvorhanden“ (Nr. 3), S. 16.
[26] „Jettchen Gebert“ (Nr. 10), S. 251.
[27] Vgl. hierzu die emphatische Äußerung von Fritz Eisner in Hermanns Roman „Einen Sommer lang“: „Und ich trinke auf das Heute, das mir keine Zukunft der Welt je ersetzen kann.“ Georg Hermann: „Einen Sommer lang“. Berlin: Das Neue Berlin 1999, S. 256.
[28] „Henriette Jacoby“ (Nr. 5), S. 329.
[29] Ebd., S. 385.
[30] „Jettchen Gebert“ (Nr. 10), S. 7-8.
Gershom Scholem schätzt Hermann – wie übrigens auch Sigmund Freud. Indem er jedoch seinen strengen Maßstab des bewussten, auch zionistischen Judentums an ihn anlegt, kritisiert er ihn wegen seiner angeblich kurzatmigen Nostalgie: „Er [Hermann] weint um Güter, um die kein Sohn eines so alten Volkes weinen sollte.“ Gershom Scholem: Tagebücher 1917 – 1923. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 2000, S. 513. (13. 8. 1919)
[31] „Unvorhanden“ (Nr. 3), S. 252.
[32] Hans Kohn: Der Roman des Entwurzelten (Georg Hermann). Die Nacht des Dr. Herzfeld. In: Gustav Krojanker: Juden in der deutschen Literatur. www.lexikus.de/bibliothek/Juden-in-der-deutschen-Literaur. (In dem Beitrag von Hans Kohn siehe S. 7) Hans Kohn betrachtet das Werk Hermanns aus einer streng zionistischen Perspektive.
[33] Vgl. Anmerkung Nr. 8. Eberhard Roters in seiner Einleitung zu dem Katalogbuch: „Jettchen Gebert, eine Berlinerin, eine Jüdin ebensogut wie Deutsche, ist die geistige Mutter all der Personen und Persönlichkeiten an der Schwelle zu unserem Jahrhundert und darüber hinaus, die in dieser Ausstellung beispielhaft auftreten, als Handelnde und als Leidende, als Helden und als Opfer.“ Ebd., S. 22.
[34] Georg Hermann: „Ruths schwere Stunde“, Berlin: Das Neue Berlin 2001, S. 151.
[35] „Jettchen Gebert“ (Nr. 10), S. 228.
[36] In dieser Hinsicht, was den peripheren Modus von Glück betrifft, ergeben sich Berührungspunkte zu Franz Hessel, Zeitgenosse Hermanns, wie dieser Berliner und Jude sowie enger Freund Walter Benjamins. Vgl. z. B. seinen Roman „Der Kramladen des Glücks“ von 1913.
[37] „Und die Juden werden, staatlich gebunden, genauso beschränkt werden wie die anderen Esel auch.“ „Unvorhanden“ (Nr. 3), S. 176 ( 25. 5. 1939)
[38] Ebd. S. 176-177. Laureen Nußbaum schreibt in ihrem Nachwort: „Georg Hermann bleibt trotz aller mißlichen Erfahrungen ein Sohn der Aufklärung, Pazifist, links-bürgerlich und Anti-Zionist. Für ihn trägt der Jude die besten Hoffnungen des guten Europäers in sich.“ Ebd., S. 268.
[39] Ebd., S. 358.
[40] Ebd.
[41] „…[der] Berliner, der immer noch der tatkräftigste, phrasenloseste und unbestechlichste – wenn auch unmusischste –Teil der Deutschen ist […].Ebd., S. 135 (27. 5. 1937). Vgl. auch Hermanns Liebeserklärung an Berlin: „Pro Berlin“, in „Massow“ (Nr. 2), S. 319 – 322. (Text von 1931)
[42] Vgl.: Klaus Hermsdorf, Hugo Fetting, Silvia Schlenstedt: Exil in den Niederlanden und Spanien. Leipzig: Reclam 1981; zu Georg Hermann: S. 53-55.
[43] Seit 1962 existiert in Berlin- Friedenau ein „Georg-Hermann- Garten“ mit einem Gedenkstein.
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