Als Westberliner Bücherwurm in Ostberlin unterwegs

Als Westberliner Bücherwurm in Ostberlin unterwegs

Helmut Pillau

Fremd war mir der Osten Berlins nicht deswegen, weil er mir fern gelegen hätte, sondern deswegen, weil er mir nur allzu nahe war. Hier trat mir die Endzeit, in die Berlin unmittelbar nach dem Kriege versunken war, noch mit einer physischen Wucht entgegen. Das Urteil, dass eine solche Zerstörung wegen ihres riesigen Ausmaßes kaum wieder zu beheben wäre, schien sich hier zu bestätigen. Angesichts überdimensionaler Ruinen hatte man in diesem Teil Berlins anscheinend davor kapituliert, ihren Wiederaufbau überhaupt in Betracht zu ziehen. Die Ruinen großer Kaufhäuser wie diejenige des „Wertheim“ – Kaufhauses in der Leipziger Straße oder in der Oranienburger Straße (nach der Wende „Tacheles“) wurden auf unabsehbare Zeit einfach so stehen gelassen. Auch die klaffenden Lücken in Gebäuden der Museumsinsel („Neues Museum“) schienen definitiv zu sein. Als exemplarisch dafür galt mir aber der Gendarmenmarkt, den ich so oft bei meinen Besuchen in der Jägerstraße streifte. Die brach liegenden Flächen, die sich im Osten Berlins nach der Zerstörung der Häuser auftaten, schienen unermesslich zu sein. Wie Bunker aus dem „Dritten Reich“ bezeugten, ragten Monumente aus dieser Zeit mit einer hämischen Penetranz in die Gegenwart hinein. Das historisch Erledigte war jedenfalls in physischer Hinsicht noch präsent. Dies bewiesen etwa auch die erhalten gebliebenen Gebäude des „Reichsluftfahrtministeriums“ in der Leipziger Straße (heute Finanzministerium). Manchmal, angesichts solcher wieder genutzter monumentaler Regierungsbauten aus der Nazi-Zeit schienen die Macht des Nazi-Staates und diejenige des „sozialistischen“ Staates für mich ineinander zu verschwimmen. Dann hatte ich den Eindruck, als ob die Härte des sozialistischen Staates noch irgendwie von der Brutalität des untergegangenen Staates zehren würde – vielleicht insgeheim abgesegnet durch den „Stalinismus“? Während im Westen Berlins diese permanenten Endzeit durch das auch hier langsam wirkende „Wirtschaftswunder“ allmählich verblasste, wurde man im Osten Berlins noch massiv mit ihr konfrontiert. Der Ernst des verdienten Untergangs traf einen hier mehr als im Westen. Auf der anderen Seite stemmte sich aber der sozialistische Staat nicht nur durch singuläre Projekte wie die Stalinallee, sondern vor allem durch einen überwältigenden Aufwand von Propaganda, also aufpeitschende Parolen und Transparente, gegen die Zähigkeit des Endzustandes. Durch diese irritierende Mischung von nicht tilgbarer Misere und den schrillen Beschwörungen einer herrlichen Zukunft schien sich der Osten Berlins zu kennzeichnen.

Wenn ich aber als Teenager dort unterwegs war, reflektierte ich wohl kaum über solche Dissonanzen.

Sowieso durch meine Mutter in dauerndem Kontakt mit dieser Hälfte von Berlin – sie arbeitete ja bis 1953 als Sekretärin in der Zentrale der Ost- CDU, Jägerstraße – , wurde ich bei meinen östlichen Unternehmungen wesentlich vom günstigen Umrechnungskurs beflügelt. Überall im Westen Berlins gab es die sogenannten „Wechselstuben“, in denen man je nach Tageskurs West- in Ostgeld umtauschen konnte: z. B. für 1 DM 4, 5 oder gar 6 Mark der DDR. Im Osten giftete man lange dagegen. Erst relativ spät begann man aber auf die Einkaufstouren der Westberliner zu reagieren. Die aus dem Westen sollten vor allem daran gehindert werden, Nahrungsmittel wie Fleisch, Butter und Brot billig im Osten einzukaufen. So stieß man bald überall auf das Schild: „Bitte unaufgefordert den Personalausweis vorzeigen.“, das uns Westberliner abschrecken sollte.

Dies betraf aber nicht die Ware, auf die ich es von Anfang an vor allem abgesehen hatte, nämlich die Bücher. Vielleicht verstand man diese als eine Fortsetzung der Propaganda mit anderen, subtileren Mitteln. Vielleicht sollte auf diese Weise, durch die sowieso sehr niedrigen Buchpreise, die Überlegenheit einer sozialistischen Kultur gegenüber derjenigen des kapitalistischen Westens demonstriert werden. Der offiziell postulierte Materialismus regredierte womöglich aufgrund materieller Defizite zum Idealismus…Ich jedenfalls, der Bücherwurm, befand mich in dieser Hinsicht im Osten Berlins wie im Paradies. Meistens kam ich mit der S-Bahn: Zielstation: „Bahnhof Friedrichstraße“ oder bis zum Mauerbau 1961 mit meinem Fahrrad. Nach der Ankunft in diesem Bahnhof bewegte ich mich automatisch auf meinen Trampelpfaden. Ehrensache war es, zunächst einen Blick auf das Nächstliegende, nämlich die Buchhandlung unter den Torbögen des Bahnhofs zu werfen. Was die gleichfalls sehr begehrten Schallplatten betraf – Einheitspreis: 12. 10 Mark – war der „Tschechische Pavillon“ direkt neben dem Bahnhof die erste Adresse. Das Angebot berauschte mich geradezu. Die Musikkultur Böhmens mit der Tschechischen Philharmonie – etwa unter dem genialen Vávlac Talich – oder den feinen Kammermusikern (z. B. Josef Suk) triumphierte hier.

Was die Bücher betraf, gab es einen Hauptmagneten. In einer der Nebenstraßen der Friedrichstraße machte sich auf einer geräumten Trümmerfläche der ungeschlachte, gegen die Außenwelt gut abgeschirmte Überrest eines Hauses breit. Dies war die Residenz meiner Lieblingsbuchhandlung: ein bizarres Häuschen, gleichsam herausgesprengt aus den rationalen Weltzusammenhängen. Hier konnte man sich inmitten all der Bücher geborgen fühlen. Zugleich wusste man aber auch, dass es sich nur um eine vorübergehende und insofern illusionäre Geborgenheit handelte. Denn es lag ja auf der Hand, dass dieser groteske Klops eines Hauses nicht von Dauer sein konnte. Irgendwann, in den besseren Zeiten, würde es einem ganzen Haus weichen müssen. Dieses Fragment eines Hauses gehörte also nicht zu der edlen Klasse von Hausüberresten wie etwa der Rest des „Esplanade“-Hotels mit dem sogenannten „Kaisersaal“, einem Saal voller Spiegel. Diesem Fragment unweit des „Potsdamer Platzes“ sollte ja viele Jahrzehnte später, nach der „Wende,“ die Ehre widerfahren, in einer viel bewunderten technischen Aktion umgesetzt und in eines der neuen Hochhäuser („Sony“-Hochhaus) am Potsdamer Platz integriert zu werden.

Die Buchhandlung war so geräumig, dass man sich dort lange unbeobachtet in einem der Winkel verkriechen konnte. Suspendiert fühlte man sich von den Gesetzen der Zeit und der der rationalen Planung. Nun ließ ich mich von den jeweiligen Entdeckungen treiben, atmete das strenge säuerliche Aroma der Bücher ein, blätterte in ihnen herum oder begann sie anzulesen. Wenn sich zu viel Interessantes angesammelt hatte, fing ich insgeheim an, mein Budget zu kalkulieren. In den fünfziger Jahren stand ich noch in den Bann der Klassiker: Schiller und Kleist. In Schiller vor allem begann ich mich anhand kommentierter Werkausgaben und Biografien hineinzuwühlen. Die Schule motivierte mich dazu, nach naturwissenschaftlichen Nachschlagewerken Ausschau zu halten. Ich stieß auch auf einen Autor wie Lion Feuchtwanger, dessen historische Romane gut zu lesen waren, und auf den im Westen fast vergessenen Autor Hans Fallada. Nicht genug konnte ich von den schönen und so billigen Inselbändchen bekommen (1.25 Mark). Unerschöpflich schien mir das Reservoir der noch billigeren, auf holzhaltigem Papier gedruckten Reclambändchen zu sein (ein Sternchen: 40 Pfennig). Sie erschlossen mir die sogenannte Weltliteratur. Ich ließ mich aber auch von schwergewichtigen Werken gefangen nehmen, die ich im Augenblick nur bestaunen konnte, von denen ich mir aber für die Zukunft – zu recht, wie sich zeigen sollte – viel versprach. So legte ich mir von die Hans Mayer herausgegebenen und kommentierten „Meisterwerke der deutschen Literaturkritik“ (1956) zu. Erst in den sechziger Jahren, paradoxerweise also nach dem Mauerbau, begann ich mich für Marx und Engels (Marx-Engels Werke: „MEW“) und die marxistische Literatur überhaupt zu interessieren. Damals entdeckte ich auch Autoren wie Volker Braun, Peter Hacks und Günter de Bruyn.

Wie gesagt, die Obrigkeit der DDR schien mein Wühlen in ihren Bücherbergen mit Wohlwollen zu betrachten. Dass dies von westlicher Seite aus anders aussah, sollte ich zweimal erleben. Das erste Erlebnis:

Ich radelte mit meinem Bücherpaket auf dem Gepäckständer Richtung Brandenburger Tor. Unmittelbar vor dem Grenzübergang musste man auch deswegen langsamer werden, weil die  Straße mit Kopfsteinpflaster versehen war. Da passierte mir das Missgeschick: Aufgrund der Erschütterungen fiel das Bücherpaket herunter und die Bücher verstreuten sich auf dem Boden. Die Grenzkontrolleure hatten natürlich alles im Visier. Einer von ihnen kam zu mir, sammelte die Bücher wieder auf und überreichte sie mir mit freundlichen Worten. Beschwingt passierte ich daraufhin das Brandenburger Tor. Von der anderen, der westlichen Seite her hatten die Zollbeamten wahrscheinlich voll Misstrauen die idyllische Szene beäugt. Ich wurde angehalten und dazu aufgefordert, den Beamten in eine der Buden am Rande des Tiergartens zu folgen. Dort begutachteten sie die Bücher, vermerkten Verfasser und Titel in einem Protokoll, beschlagnahmten sie offiziell und belehrten mich über das begangene Vergehen.

Das zweite Erlebnis: Mit der U-Bahn von Bahnhof Friedrichstraße kommend, musste ich auf der Station Hallesches Tor zur heimatlichen Linie umsteigen. Bevor ich jedoch in den anderen Zug einsteigen konnte, wurde ich von zwei muffig wirkenden Männern angesprochen. Sie nötigten mich dazu, ihnen in eines der winzigen, auf dem Bahnsteig befindlichen Häuschen zu folgen. Dort wieder die gleiche Prozedur: Registrierung der Bücher, Anfertigung des Protokolls und die rechtliche Belehrung. Unvergesslich sind mir die Worte eines der Männer bei der Registrierung eines Buches: „Ein Buch über Schoopien.“ Sehr erschrocken war ich jedoch, dass diese Sache noch ein Nachspiel haben sollte. Da ich bereits ein zweites Mal ertappt worden war, galt ich wohl als notorischer Schmuggler. So wurde ich ins Landeszollamt bestellt. Dort erwartete mich ein höherer Zollbeamter zu einem Gespräch. Statt mir aber, wie erwartet, verschärfte Vorhaltungen zu machen, klärte er mich über Finessen der Zollfahnder auf. Diese konnten die geschmuggelte Ware dann bereits von weiten erkennen, wenn sie in dem typischen östlichen Verpackungspapier eingewickelt war. Sobald sie dies sähen, würden sie aktiv werden. Es käme also nur darauf an… Offensichtlich gab es Zollbeamte, die ein großes Verständnis für den kulturellen Appetit armer Schüler hatten. […]

Der Osten Berlins sollte für mich und alle anderen Westberliner für einige Jahre, von 1961 (Mauerbau) bis 1964, versperrt sein. Anders wurde es erst durch das „Passierscheinabkommen“ von 1963-1964. Danach ärgerte ich mich immer wieder, wenn ich auf dem Passierschein in der Rubrik: „Grund der Reise“: „Tourist“ eintragen musste. Sich in der eigenen Stadt nur mithilfe eines Touristenvisums bewegen zu dürfen…

 

(Auszug aus meinem autobiographischen Text „Wildwuchs“)