Schwarzer Kahn am Alten Rhein
Schwarzer Kahn am Alten Rhein
Poetologische Reflexionen zu einem Motiv bei Claude Vigée.*
La barque noire dans le Vieux-Rhin
Depuis longtemps, longtemps,
la barque noire attend
amarrée immobile
au coeur du Ried brumeux.
Entre les joncs elle somnole
au bout de sa chaîne rouillée.
Mais qui donc attend-elle, sur la rive déserte?
Va-t-elle bientôt fuser, faucon, vers le soleil,
ou sombrer dans la boue
jusqu’au fond du marais?
Qui le saura jamais?
qui le saura jamais?[1]
1.
Die Rede von einer elsässischen Literatur wird leicht zu einer Frage danach. Wenn heutzutage trotzdem von einer solchen Literatur, gar mit eigenständigem Profil, gesprochen werden kann, so ist dies vor allem auf Autoren wie André Weckmann, Adrien Finck und Claude Vigée zurückzuführen. Wie André Weckmann mit einem großen Teil seines lyrischen Werks so hat auch Claude Vigée insbesondere mit seinen großen lyrischen Dichtungen wie Schwárzi sengessle flàckere em wènd/Les orties noires und Wénderôwefîr/Le feu d’une nuit d’hiver dafür gesorgt, dass die Mundart-Dichtung im Elsass einen hohen literarischen Rang gewonnen hat.
Als mindestens ebenso wichtig kann aber seine Haltung innerhalb der literarischen Öffentlichkeit dieser Region gelten. Pointiert könnte hier von einem kritischen Engagement für das Werden des Nichtvorgesehenen gesprochen werden. Gerade durch einen solchen zukunftsbewussten Trotz ist er für seine Kollegen wie auch viele seiner Landsleute zu einer singulären Autorität geworden.
Auf den ersten Blick mag überraschen, dass ein Autor mit dieser regionalen Funktion gar nicht im Lande lebt. Im Jahre 1940 musste er ja seine elsässische Heimat verlassen; von 1943 bis 1960 lebte er in den USA, für ihn das Land des Exils. Als bewusster Jude verbrachte er, seit seiner Emeritierung 1983, die eine Hälfte des Jahres in Jerusalem, die andere Hälfte in Paris – nunmehr lebt er ganz in Paris. Dieser räumliche Abstand zu seiner Heimat soll sich aber bei ihm – diesem mittlerweile neunzigjährigen, vorwiegend französisch schreibenden Dichter – gerade als Voraussetzung ihres geistigen Wiedergewinns erweisen.
Vigées kleines Gedicht La barque noire dans le Vieux-Rhin, das auf eine kürzere Version im elsässischen Dialekt innerhalb des lyrischen Epos Wénderôwefîr zurückgeht[2], wirkt zunächst wenig spektakulär. Pauschal gesagt, lebt es aus der Spannung zwischen offensichtlichem Verfall und einer tastenden Gegenbewegung dazu. Damit scheint es aber zugleich auf die Seinsweise der Literatur, der es angehört, zu verweisen. (Diese Literatur umfasst, insgesamt gesehen, also nicht nur die bereits erwähnte Mundart-Dichtung, sondern auch eine Dichtung in französischer und hochdeutscher Sprache.)
Durch die folgende Lektüre des Gedichts, genauer: seines dominanten Motivs, soll nun versucht werden, sein allegorisches Potential in zwei unterschiedlichen Anläufen – einmal beim Motiv verharrend, zum anderen sich von ihm abstoßend – auszuloten.
2.
Das Gedicht beschwört einen Anblick herauf, der insbesondere einem Rheinländer wohl vertraut sein dürfte. Ein Kahn wird vor Augen geführt, der sich schon seit langem in einem ruhigen, abseits gelegenen Bereich des Stromes, dem Altrhein, befindet. Dass dieser Kahn in Vergessenheit geraten ist, zeigt sich auf mehrfache Weise. Vor allem deutet der rostige Zustand der Kette, an welcher der Kahn befestigt ist, darauf hin. Anthropomorphisierend wird zudem vom Warten und dem Schlaf des Kahns gesprochen. Obwohl er noch einsatzbereit ist, ist er schon lange nicht mehr genutzt worden. Dieser Eindruck, einem fortwährenden Dämmerzustand überantwortet worden zu sein, wird noch durch die meteorologische Qualifizierung der Gegend, d.h. des Ried, „ brumeux“ (neblig) verstärkt.
Während in der ersten Strophe des Gedichts die traurige Situation des Kahns wiedergegeben wird, lebt die zweite Strophe von Fragen. Der Zustand des Kahns wird also nicht einfach hingenommen, sondern hinterfragt. Durch diese Diskussion wird angedeutet, dass der Zustand des Kahns auf anderes verweist – etwa auf den Zustand einer Lebensform ohne rechte Einbettung in gerade herrschende Zeitumstände. Die erste Frage korrespondiert durch das Verb „attend“ mit dem zweiten Vers der ersten Strophe, gleichfalls „attend“: „Mais qui donc attend-elle, sur la rive déserte?“[3] Während in der ersten Strophe noch von einem Zusammenhang zwischen dem Kahn und potentiellen Nutzern ausgegangen wird, wird nun die Existenz solcher Menschen angezweifelt. Vielleicht korrespondiert das Angebot des Kahns, genutzt zu werden, nicht mehr mit möglichen Interessenten. In diesem Falle würde sich der Kahn endgültig aus allen Zusammenhängen menschlichen Tuns, allgemeiner: der Kultur und Geschichte, herauslösen und im Nichts, hier dem Sumpf („du marais“), versinken. Diese Möglichkeit mag zwar recht wahrscheinlich sein, sie ist aber noch nicht zur Gewissheit geworden. Deswegen wird von einer Alternative gesprochen, die allerdings eskapistisch anmutet: „Va-t-elle bientôt fuser, faucon, vers le soleil […]“[4]. Abgeschlossen wird das Gedicht mit der Bekundung einer prinzipiellen Ungewissheit, durch eine sich wiederholende Frage zum Ausdruck gebracht: „Qui le saura jamais?“[5]
3.
Beim Durchgang durch das Gedicht ist bereits angedeutet worden, wie es verstanden werden könnte. Hier wird womöglich auf eine Problematik angespielt, mit der sich Vigée sehr oft auseinandergesetzt hat und die überhaupt zu einem zentralen Thema für die elsässische Literatur, insbesondere seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, geworden ist. Wenn nun das Spannungsverhältnis zwischen der französischen Nationalkultur und einer elsässischen Identität wieder stärker zum Ausdruck kommt, so können hierbei auch Erfahrungen der Generation Vigées eingebracht werden: Die konsequente Reintegration der Elsässer in die französische Nationalkultur nach dem ersten Weltkrieg ist ja für den 1921 als Claude Strauss geborenen Vigée zur Schlüsselerfahrung seiner Jugend geworden. Eine Einordnung des Gedichts in solche Zusammenhänge wird auch durch seine Platzierung innerhalb Vigées Autobiographie Un Panier de houblon nahe gelegt. Die Problematik eines geschichtlichen und kulturellen Umbruchs kommt hier ja ausführlich zur Sprache.[6] Zunächst scheint die innere Verbindung zwischen der Autobiographie und dem kleinen Gedicht, ganz allgemein gesehen, darin zu liegen, dass beide Male die normative Kraft einer deprimierenden Stringenz der Geschichte von unten her, angesichts eines gegenstrebigen individuellen Erlebens, in Frage gestellt wird. Im besonderen kann aber das Gedicht auf jenen Umbruch bezogen werden: Die Elsässer machen die Erfahrung, dass die Sprache und Kultur, die ihre Jugend – wie auch ihre Geschichte – weitgehend geprägt haben, plötzlich, unter den veränderten politischen Vorzeichen, nur noch wenig gelten. Sofern sich die Elsässer nicht um der Karriere willen selbst verleugnen, beginnen sie, sich auf sich selbst zu versteifen. Ihre Identität, welche sie trotz allem nicht aufgeben wollen, ist damit geschichtlich perspektivlos geworden. Das Gedicht würde, von hieraus gesehen, das Verrotten einer kollektiven Identität widerspiegeln, die politisch-geschichtlich nicht mehr gefragt ist. Da aber die Situation, von der die erste Strophe des Gedichts handelt, keineswegs unter einem pragmatischen Aspekt geschildert wird, entsteht eine melancholische Stimmung. Der Wert der Dinge ist weniger von ihnen selbst als vielmehr von wechselnden Konstellationen, in denen sie sich jeweils befinden, abhängig. Einer solchen Einsicht scheint die Melancholie des Gedichts, zumindest seiner ersten Strophe, zu entspringen. Dass die Dinge, hier eben der schwarze Kahn, aufgrund veränderter Kriterien plötzlich ins Abseits geraten, muss ja für das Interesse, das ihnen gilt, irrelevant bleiben.
Auffällig ist übrigens, wie oft bei Vigée eine solche Motivik vorkommt. Zu denken wäre hier an jene Passagen seiner Autobiographie, die von dem Herumstöbern auf dem Speicher handeln. Die nutzlos gewordenen Dinge aus anderen Tagen, mit denen sich der Junge hier so intensiv beschäftigt, faszinieren ihn ja gerade wegen ihrer Nutzlosigkeit.[7] Herausgelöst aus dem Korsett einer teleologischen Stringenz, ist hier Geschichte ganz dem Spieltrieb und der Neugierde des Menschen preisgegeben. In diesen Zusammenhang gehören auch der Begleitband zur Autobiographie: Le grenier magique (D´r Gaischderdànz uff de Rumpelkàscht) mit dem Gedicht desselben Titels sowie das zweite Gedicht aus dem Gedichtzyklus Wenderôwefîr.[8] Wie aber die zweite Strophe des Gedichts zeigt, hat es mit Melancholie oder gar Depression nicht sein Bewenden. Obwohl das Schicksal des Kahns besiegelt zu sein scheint, wird es doch nicht anerkannt. Seine Logik besticht zwar durch Evidenz, ist aber im Grunde auch nur diejenige einer bestimmten geschichtlichen Konstellation. Vielleicht erweist sich ein stilles Fortbestehen von Dingen außerhalb ihrer Nutzzeit als Voraussetzung eines ungeahnten, blitzhaften Aufschwungs: “Va-t-elle bientôt fuser, faucon, vers le soleil,[…]“. Solange das Ausrangieren von Dingen nicht zur eilfertigen Erfüllung eines gerade aktuellen Sachzwangs wird, haben sie vielleicht noch eine Perspektive.
4.
Auch in einem Stück lyrischer Prosa aus dem zweisprachigen Lyrikband Soufflenheim kommt das Motiv des schwarzen Kahns vor.[9] Während in dem Gedicht ein Dasein außerhalb der Zeit vergegenwärtigt wird, wird hier über die angemessene Einstellung gegenüber einem solchen Zustand reflektiert. Alternativen werden, an den berühmtesten Monolog in Shakespeares „Hamlet“ gemahnend, erwogen. Jede Alternative erscheint aber angesichts ihrer Konsequenzen in einem negativen Licht: „La tentation est double.“[10] Zu Beginn ist wieder von dem schwarzen Kahn die Rede, der seinen endgültigen Platz in einem toten Arm des Altrheins gefunden zu haben scheint.[11] Nun geht es allerdings nicht mehr um diesen Gegenstand, sondern um ein menschliches Verhalten. Das dumpfe Verharren außerhalb der Zeit, das den Kahn im Gedicht zu kennzeichnen scheint, wird nun zu einer Möglichkeit menschlichen Verhaltens. Hierbei handelt es sich durchaus um eine ernsthafte, gar respektable Alternative: Sich nicht durch den Wandel der Zeitumstände von sich selbst, seiner Herkunft, entfremden zu lassen, kann ja als Kriterium eines gelingenden Lebens gelten. Nun wird aber demonstriert, wie eine solche Orientierung in Widerspruch zur Praxis des Lebens treten kann. Vigée bietet drastische Vokabeln auf, um diese Gefahr vor Augen zu führen: reflexive Verben wie „se pétrifier“/„sich versteinern“, „s’engluer“/„sich verkleben“ und Substantive wie „marécage boueux“/„schlammiger Sumpf“, „la nuit“/„die Nacht“, „le froid“/„die Kälte“, „le brouillard silencieux“/„der stumme Nebel“.[12] Die im Grunde richtige Einsicht, über allem Wandel nicht die eigene Herkunft zu vergessen, kann also durchaus lebensfeindlich wirken. Indem sie auf Dauerhaftes orientiert, immunisiert sie gegenüber dem belebenden Potential der Zeitbewegung. Vigée scheint also mit dieser kritischen Reflexion Argumente aufzugreifen, wie sie von wohlmeinenden Pragmatikern gegenüber einem trotzigen Verhalten der Elsässer nach den geschichtlichen Umbrüchen im Lande vorgebracht zu werden pflegen. Im Rahmen seiner Bildlichkeit fasst er die Möglichkeit ins Auge, nunmehr aus dem stagnierenden Gewässer des Altrheins in die Hauptströmung des Flusses überzuwechseln: „Ou bien être entraîné par le courant […]“.[13] Die Konsequenzen einer solchen Umorientierung muten aber mindestens so verheerend an wie die Konsequenzen einer trotzigen Fixierung auf die eigene Herkunft: “[…]d’ériver au fil de l’eau jusqu’à l’engloutissement dernier dans les tourbillons du grande fleuve[…]“.[14]
Durch das Motiv des Rheins ist offensichtlich der Zusammenhang zwischen der elsässischen Problematik, wie sie im Gedicht “La barque noire[…]“ durchschimmert, gewahrt. Andererseits behandelt Vigée nun aufgrund dieser, eben auch autobiographischen Voraussetzungen eine allgemeinere Frage, nämlich die Frage nach einem angemessenen Verhalten zur modernen Zeit mit ihrer produktiven Missachtung der Traditionen. So könnte etwa seine Auseinandersetzung mit der Alternative einer entschieden traditionslosen Lebensweise auf den Typus des „flexiblen Menschen“ verweisen, wie er durch den amerikanischen Soziologen Richard Sennett definiert worden ist.[15] Dieser Typus wäre dazu bereit, seine Lebensgestaltung primär von den jeweiligen Imperativen einer sich ständig verändernden (Arbeits-)Gesellschaft abhängig zu machen. Ihm bliebe damit jene Borniertheit erspart, die, wie Vigée zu Beginn des Stückes demonstriert, dem anderen, konservativen Typus zum Verhängnis werden kann.
Vigée zeigt nun aber, wie der ‚flexible Mensch’ einer anderen, komplementären Borniertheit zum Opfer fällt. Die Annahme dieses Menschen, durch die Öffnung gegenüber dem schnellen Wandel der Prioritäten wirklich frei zu werden, entpuppt sich als illusionär. Auf diese Weise überantwortet er sich nämlich nur dem endlichen Getriebe der eigenen Zeit und des eigenen Lebens. Aus einem Gefangenen der eigenen Herkunft ist ein Spielball dieser zeit- und lebensgeschichtlichen Kontingenzen geworden:„[…]happé dans le tournoiement fatal d’un temps et d’une vie finis.“[16] Vigées Schlussfolgerung besteht darin, die Logik solcher Alternativen für sich selbst außer Kraft zu setzen. Maßgeblich für ihn soll nicht eine bestimmte vorgefasste Lebensstrategie sein, sondern die ursprüngliche Ambivalenz seiner Haltung zur jeweiligen Gegenwart.[17] Weder eine Fixierung auf die Gegenwart noch eine Abschließung von ihr kommen für ihn in Frage.
Dass es sich bei dem Motiv des schwarzen Kahns um ein für die elsässische Literatur charakteristisches Motiv handelt, bezeugt übrigens das Gedicht La mort de la femme du pharmacien von Jean-Paul de Dadelsen (1913 – 1957). Nach Baptiste-Marey soll die elsässische Literatur durch diesen, von Claude Vigée hoch geschätzten Autor einen zwar späten, aber triumphalen Eingang in die französische Literatur gefunden haben.[18] In dem Gedicht von de Dadelsen wird der schwarze Kahn – wie auch in dem Gedicht von Claude Vigée – mit dem Zustand des Wartens in Verbindung gebracht: „Barque plate et noire comme les / heures de l’attente.“[19] Oswalt von Nostiz übersetzt: „Boot, flach und schwarz wie die Stunden des Wartens.“[20]
5.
In dem Gedicht bleibt der elegische Ton, der durch das Motiv des schwarzen Kahns angeschlagen wird, ohne die erwartete Fülle. Statt voll zum Erklingen zu kommen, wird er vielmehr durch eine diffuse innere Opposition, wie sie in der zweiten Strophe bemerkbar wird, gehemmt. Während dieses Motiv im Prosagedicht mit einer – ihrerseits problematischen – Alternative konfrontiert wird, wird es im Gedicht von innen her aufgebrochen. Es hat den Anschein, als ob durch die suggestive Entfaltung der elegischen Stimmung zugleich ein kritisches Bewusstsein über diese Suggestivität entstehen würde.
Vorgeschlagen wurde, diese Thematik des Gedichts als Reflexion des kulturellen Umbruchs im Elsass zu lesen. So gesehen würde hier der Prozess der kulturellen Entwertung, der sich mit diesem Umbruch vollzieht, auf eine bestimmte, nämlich implizit kritische Weise, zur Sprache kommen. Dieser Prozess, der auf den ersten Blick ganz zwangsläufig wirkt, würde demnach seine volle innere Verbindlichkeit verlieren. Prinzipiell formuliert: Der Anspruch, den schwindenden Stellenwert vertrauter Dinge unter veränderten Rahmenbedingungen zu registrieren, muss von dem Ansinnen unterschieden werden, diese Devaluierung auch anzuerkennen. Gegen eine gleichsam hegelianische Gleichsetzung von historischem Resultat und normativer Geltung wird Einspruch erhoben.
In dieser theoretischen Perspektive zeichnen sich die extremen Bedingungen ab, unter denen eine so fragile Literatur wie die elsässische entsteht. Im Folgenden soll nun der Versuch gemacht werden, anhand des bislang untersuchten Motivs Aufschlüsse über die Seinsweise dieser subnationalen Literatur zu gewinnen. Statt das Motiv also weiter immanent zu analysieren, soll es jetzt einmal als Fluchtpunkt für solche Reflexionen dienen. Gedanken sollen nun formuliert werden, die erst durch die Lektüre des Gedichts möglich werden, die aber der Autor nicht unbedingt im Sinn gehabt haben muss.
Wichtig für die elsässische Literatur wäre zunächst, den Bescheid ihrer Überflüssigkeit, den sie von offizieller Seite empfängt, als gezielte Entmutigung zu werten. Es trifft zwar zu, dass sie im Unterschied zur offiziell anerkannten Literatur kaum von Erwartungen eines Publikums oder offenen Fragen der Literaturgeschichte getragen wird. Statt aber diese deprimierende Situation einfach hinzunehmen, hätte sie diese durch ihre eigene Initiative allererst zu testen. Vielleicht würde sich dabei herausstellen, dass es entgegen der allgemeinen Annahme durchaus Interessenten gibt. Da mit solchen im Vertrauen auf eine entsprechende literarische Sozialisation eben nicht zu rechnen wäre, müssten sie erst geschaffen, genauer: erweckt werden. Lebenswichtig wird es für die elsässischen Dichter, die offizielle Disqualifikation ihrer Literatur als unfreiwilligen Hinweis auf verborgene Möglichkeiten lesen zu lernen. Wenn der schwarze Kahn im Sumpf zu versinken droht, so könnte dieser Sumpf auch als ein Gelände von eigentümlicher Fruchtbarkeit erscheinen. Aus dem Blickpunkt der etablierten Literaturen muss etwa die Dialektsprache wegen ihrer regionalen Zersplitterung, ihrer Bindung an die Oralität und ihrer sprachlichen Nichtnormiertheit als literaturuntauglich gelten. Gerade der elsässischen Literatur gelingt es aber, aus dieser Abseitsstellung des Dialekts eine Literatur mit spezifischen Möglichkeiten zu entwickeln.
Der Dialekt suspendiert die Literatur von den Kriterien der Repräsentativität und Intellektualität. Die Fühlungnahme mit den Dingen selbst dominiert noch gegenüber deren semantischer Fixierung. So verhilft der Dialekt dazu, sich über gewisse Grenzen kognitiver, geschmacklicher und formal ästhetischer Art hinwegzusetzen, die den Hochsprachen wie selbstverständlich eingeschrieben sind. Literatur kann hier ihre zweischneidige Berufung verlieren, vor den „lourdeurs fatales de l’existence“ (Vigée)[21] abzuschirmen. Die Sprache bleibt ohne den Anspruch einer ideellen Kompensation existentieller Traumata. Dies kann insbesondere Vigées Gedicht: Schwàrzi sengessle flàckere em wènd/ Les orties noires demonstrieren, das nach A. Finck aus einem „vieil underground alsacien“[22] hervorgeht.
Durch diesen Hinweis auf untergründige Traditionen der elsässischen Kultur kommt auch eine weitere Technik der Selbstbehauptung in den Blick, die für die Elsässer seit langem, gerade auch in literarischer Hinsicht, typisch ist. Dem Elsässer wird angesichts der neuen Ordnung klar, offiziell eigentlich nicht zu existieren. Diese Einsicht führt bei ihm aber nicht zu der gewünschten ‚Einsicht in die Notwendigkeit’, sondern gerade umgekehrt zu einer Verfremdung dieser Notwendigkeit. Statt sich selbst in der Perspektive dieser Ordnung zu annullieren, rückt er dieselbe vielmehr in die Perspektive seiner eigenen konkreten Existenz. Im Lachen über die totalitäre Anmaßung dieser Ordnung vermag er sich selbst einen Spielraum innerhalb von Verhältnissen zu verschaffen, die ihn zu ersticken drohen. Die Plötzlichkeit des Lachens oder der satirischen Attacke verhindert, dass die Trostlosigkeit der äußeren Umstände auch auf die Seele übergreift. Wenn in der zweiten Strophe des Gedichts unvermittelt von einem Emporschnellen des Kahns zur Sonne die Rede ist, so scheint es dabei um eine solche Möglichkeit innerer Befreiung zu gehen. Man vergewissert sich auf diese Weise seiner konkreten, sinnlich erfahrenen Existenz, obwohl man im Lichte der geltenden symbolischen Ordnung gar nicht vorhanden ist. Wenn auch das Emporschellen an der Übermacht des Bestehenden scheitern sollte, so gewinnt es doch seinen Glanz aus dem Widerspruch gegen die falsche und fade Ewigkeit des Bestehenden.
Die elsässische Literatur würde sich demnach dadurch kennzeichnen, die objektive Demonstration ihrer Überflüssigkeit jeweils durch die Besinnung auf ihre verborgenen Möglichkeiten zu entkräften. Sie erwächst aus der Durchdringung ihrer eigenen Negation. Im Unterschied zu den anderen, etablierten Literaturen fehlt ihr damit eine vorgegebene Bahn für ihre Entwicklung. Deswegen geht es auch in vielen ihrer Werke darum, ihr eigenes Werden und die Überwindung einer ursprünglichen Aphasie zu thematisieren.[23] Sie bleibt in Kontakt mit einem Zustand vor ihrer Manifestation, den die anderen, etablierten Literaturen im Vollgefühl ihrer intertextuellen Vernetzung längst verloren haben.
Vigée bringt in seinem, ja auch poetologisch bedeutsamen Gedicht Soufflenheim zum Ausdruck, inwiefern es für den elsässischen Dichter im Unterschied zu anderen Dichtern mit der bloßen poetischen Produktion nicht sein Bewenden haben kann. Von dem „double travail du potier et du poète“[24] ist hier die Rede. Statt sich von vornherein in der Sphäre einer ideell transformierten Materialität, also der Sprache, zu bewegen, bewegt sich der elsässische Dichter zugleich innerhalb einer anderen Sphäre, eben derjenigen einer sinnlichen Auseinandersetzung mit der Materie. So bleibt es ihm verwehrt, sich in einer gewissen Abgehobenheit einzurichten. Andererseits bleiben ihm damit auch Erfahrungen vor aller ideellen Transformierbarkeit gegenwärtig, die einem selbstgewissen Dichter abhanden gekommen sind.
Die eigentümliche Kraft des elsässischen Dichters läge also nicht darin, sich aus dem Nichts zu erheben, sondern eher darin, dieses Nichts als Eskamotierung verborgener, derzeitig inopportuner Möglichkeiten zu durchschauen. Aus dem Blickwinkel einer eingespielten literarischen Kultur existiert er unter Umständen, die ein Zustandekommen literarischer Werke von vornherein vereiteln. Ihm fehlt vor allem das Urvertrauen in die literarische Äußerung, das einem Dichter innerhalb jener Kultur trotz aller Krisen eigen ist. Das prinzipielle Ineinandergreifen von Erfahrungsinhalten und Sprache, von dem sein glücklicherer Kollege stillschweigend ausgeht, ist ihm gerade zum Problem geworden. Den Zeichencharakter der Sprache, die Indifferenz des Ausdrucksmittels für das Auszudrückende, empfindet er auf eine dramatisierte Weise. Wie Vigée in seiner Autobiographie schildert, eskaliert diese Irritation angesichts der Konkurrenz zwischen seiner Muttersprache und der französischen Nationalsprache zu einem Zweifel an der Sprache überhaupt.[25] Die Verzweiflung darüber, das Erfahrene gültig zum Ausdruck zu bringen und die sich intensivierende Lust an einem vorsprachlichen, sinnlichen Kontakt zu den Dingen mischen sich auf eigentümliche Weise. Vigée betont jedenfalls häufig, wie die Sprachnot der Elsässer zu einem Unterkriechen bei den Dingen selbst führt.[26] So kann dann das Verstummen dieser Leute, auch in literarischer Hinsicht, von den sprachlichen Virtuosen insgeheim als Bedrohung empfunden werden.
Aus der Perspektive einer konsolidierten Literatur mag es so erscheinen, als ob der elsässische Dichter durch den Dualismus der Sprachen und das ständige Ringen um die Möglichkeiten seiner Literatur blockiert sei. Der Typus des selbstbewussten Schöpfers, der sich innerhalb der Öffentlichkeit einer nationalen Literatur effektvoll in Szene setzt, kommt in seiner Welt kaum vor. Statt die vorgefundenen Materialien zu neuen künstlerischen Einheiten umzuschmieden, verharrt er eher bei ihnen. Das Sammeln, grüblerische Begutachten oder spielerische Arrangieren von vorgefundenen Elementen scheint ihm eher zu liegen als deren schöpferische Transformation. Ein Sinn für nutzlose, versprengte, übriggebliebene und verrottende Dinge entwickelt sich demnach unter den besonderen Umständen der elsässischen Kultur.[27] Dieses eigentümliche Verhalten, das Verhältnissen der Stagnation entspringt – und damit auch auf das Motiv des Altrheins verweist – ist aber genau so wenig ein sicheres Indiz für den Untergang wie die Blockade der sprachlichen Kompetenz. Diese Haltung, die Distanz zu den jeweils tonangebenden ästhetischen Richtungen wie auch das chronische Ringen um den sprachlichen Ausdruck müssen nur aus dem Blickpunkt einer literarischen Leistungskultur als Defizite erscheinen. Durch eine Lösung von dieser Sicht kann das eigentümliche Potential dieses Zustandes entdeckt werden. Ein Punkt wird hier womöglich erreicht, an dem die Dinge Oberhand über die Sprache gewinnen, ohne dabei aber die Sprache auszuschalten. Schweigen im Sinne eines Zurücktretens der Sprache hinter die Dinge beginnt sprachlich produktiv zu werden. Dies äußert sich so, dass eine scheinbare Lähmung schlagartig zu einem Aufschwung wird. Ein Ausharren an der Peripherie soll sich dann plötzlich als Akkumulation spezifischer Möglichkeiten entpuppen.
Mit der Figur des Umschwungs kommt eine Figur zum Vorschein, die höchst charakteristisch für die elsässische Literatur insgesamt, also nicht nur für Vigée, zu sein scheint.[28]
Zur Illustration sollen zwei Motive aus dem Schlussteil von Vigées lyrischem Epos: Les orties noires dienen.
Ein Zustand der Erstarrung und Unwirtlichkeit spiegelt sich hier meteorologisch durch die Herrschaft des Winters und botanisch durch die schwarzen Brennnesseln wider. Als voreilig soll sich jedoch die Orientierung an diesem Eindruck erweisen. Wenn nämlich dieser vermeintliche Endzustand nur geduldig genug beobachtet wird, so kann das Wirken verborgener Quellen unter der deprimierenden Oberfläche ausgemacht werden. Tatsächlich beginnt dann auch im morgendlichen Licht des Frühlings ein Quellwasser hervorzusprudeln, das in Vergessenheit geraten war. Sein Hervorbrechen aus der Dunkelheit der Erde: „[…]ém heilische ràche vun dr ärd.“[29], korrespondiert mit dem plötzlichen und euphorischen Wiedergewinn der eigenen Sprache bei den Elsässern. Dieses Motiv des Aufbruchs wird dann noch durch das Bild vom Kirschbaum verstärkt, der plötzlich im April auszuschlagen beginnt.[30] Indem der Kirschbaum im Elsass auf den Mandelbaum in Jerusalem, d.h. das abschließende Gedicht aus dem Zyklus Wénderôwefîr bezogen wird, tritt der Zusammenhang der behandelten Figur des Umschwungs mit der jüdischen Thematik bei Vigée und damit auch seiner, seit längerer Zeit entwickelten „poétique juive“ ins Blickfeld.[31]
In seinem Aufsatz „Tout le peuple voit les voix: Écoute et vision dans l’esthétique de la Bible“ charakterisiert Vigée die jüdische Literatur pauschal – insbesondere im Hinblick auf die hebräische Bibel und sein eigenes Schaffen – als „une littérature de résurrection“.[32] Deren Werden kann gerade nicht aus dem jeweiligen Erwartungshorizont erschlossen werden. Vigée leitet den Charakter der jüdischen Literatur vor allem aus der Unstetigkeit der jüdischen Geschichte, dem ständigen Wechsel zwischen Exil und Heimkehr, her. Kennzeichnend für sie ist, im Bewusstsein ihrer Dezentriertheit zu existieren. Da ihr ihre Herkunft aus dem Abgrund eines sprachlosen Leids: „la terre obscure et souffrante“[33] gegenwärtig bleibt, kann ihr ihre Genesis auch nicht zum definitiven Triumph werden. Das Emporsteigen aus jenem Abgrund gilt ihr nicht als triumphale Überwindung des Irdischen. Statt sich selbst in ihrer Abgehobenheit zu genießen („la sphère du sublime“[34]), kehrt sie sich wieder umstandslos der irdischen Sphäre zu („l’aventure du temps successif et mortel“[35]). Das künstlerische Gelingen wird hier nicht zum Asyl gegenüber der Zeit, sondern zur Voraussetzung dafür, sich noch gründlicher auf sie einzulassen. Vigée definiert die jüdische Literatur damit implizit als Alternative zu einer Literatur – und Kunst allgemein – , der es – wie insbesondere der „klassischen“ des Abendlandes – auf eine Verstetigung ihrer selbst, ihrer immateriellen Autonomie, ankommt.[36]
Auffällig ist nun, wie sehr diese Kriterien einer „poétique juive“ den Gedanken ähneln, die Vigée etwa vierzig Jahre zuvor im Hinblick auf die elsässische Literatur entwickelt hat. Auch diese Literatur stellt sich aus seiner Sicht als eine dar, die sich wie die jüdische ohne einen sichtbaren Rückhalt konstituiert. Die elsässischen Dichter müssten erkennen, dass ihre objektive Aussichtslosigkeit gerade Voraussetzung ihrer Konstituierung ist. Am Schluss seines wohl wichtigsten poetologischen Essays mit dem programmatischen Titel: Les avantages du pire (Erstfassung 1960) gelangt er zu einer Formulierung, die mittlerweile berühmt geworden ist: „Nous avons la vitalité inattendue de ceux qu’on a voulu condamner un peu trop vite à l’inexistence.“[37] Diese Worte sind zunächst Zuspruch für diese Dichter, zugleich aber auch Charakterisierung ihrer Existenzform. Durch eine Synopse dieser, allein auf die elsässische Situation bezogenen Aussage mit Vigées späteren Überlegungen zu einer „poétique juive“ wird deutlich, wie eng das jüdische und das elsässische Selbstverständnis bei ihm ineinander greifen. (Die gerade zitierte Feststellung Vigées über die elsässischen Dichter könnte ja genau so gut als Ausdruck eines jüdischen Selbstbehauptungswillens verstanden werden.) Nur einem bewussten Juden wie Vigée war es wohl möglich, den eigenartigen, fragilen Status der elsässischen Literatur so prägnant zu formulieren.[38]
6.
Die Trauer über den verrottenden Kahn im Altrhein kann deswegen nicht ganz die Oberhand gewinnen, weil sie sich als Erstickung alternativer Möglichkeiten erweist. Diese Möglichkeiten, die auf eine geheime Substanz des Untergehenden hindeuten, existieren aber nur am Rande des melancholischen Bildes, gleichsam als dessen implizite Relativierung. Deswegen ist auch die Trauer durch eine plötzliche Elevation nicht gegenstandslos geworden. Dieser – potentielle – Umschwung impliziert ja eine Entmachtung des Augenscheins, die nicht von Dauer sein kann. Die Plötzlichkeit der Elevation weist auf den Vorrang dieser visuellen Evidenz zurück. Deswegen bleibt auch der Gestus des Emporschnellens, der für die elsässische Literatur überhaupt signifikant ist, ohne Auftrumpfen.
Die Autoren einer ’großen’, nationalen Literatur besitzen bei ihrem Schaffen den Rückhalt dieser Literatur. Die elsässischen Autoren demgegenüber arbeiten ohne einen solchen Rückhalt. Oftmals stellt sich ihnen beim Schaffen eines Werks zugleich die Existenzfrage ihrer Literatur. Diese nichtkonsolidierte Situation kann aber den Autor einer konsolidierten Literatur darauf aufmerksam machen, wie sehr er vom bloßen Betrieb seiner Literatur lebt. Angesichts seines elsässischen Kollegen werden ihm die Mühen eines radikalen, literatur-stiftenden Anfangens wieder bewusst, die ihm selbst erspart bleiben.
Als Kriterium der elsässischen Literatur hat sich erwiesen, ohne passenden Beistand, wie aus dem Nichts, zu entstehen. Ihr gelingt es jedoch tendenziell, dieses Nichts als voreilige Projektion oder verborgene Fruchtbarkeit zu entschleiern. Nur derjenige vermag hier nichts zu finden, der von vornherein sicher ist, nichts finden zu können.
* Dieser Text, zuerst in der Zeitschrift Literatur für Leser 1/ 2002 veröffentlicht, bildet einen Bestandteil des Buches: Helmut Pillau: Unverhoffte Poesie-Poetik des Unverhofften. Studien zur Dichtung von Claude Vigée. Hamburg: LIT-Verlag 2007. Er erscheint hier in einer leicht revidierten Version.
[1] Claude Vigée: Mon heure sur la terre. Poésies complètes 1936-2008. Paris: Galaade Éditions 2008, S. 712.
Das Gedicht wurde auch in Vigées Autobiographie aufgenommen: Claude Vigée: Un Panier de houblon. Vol. I: La verte enfance du monde Paris: J-.C. Lattès 1995, S. 26 (Wird im Folgenden abgekürzt mit: “Un Panier…“ I bzw. II). Eine deutsche Version des Gedichts findet sich in der Übersetzung der Autobiographie:
„Schwarzer Kahn am Alten Rhein
Lange schon wartet der schwarze Kahn / reglos vertäut im nebligen Ried,/ schläft an der rostigen Kette im Schilf./Für wen denn?/Für wen denn?/ Schwirrt er endlich zur Sonne hinauf,/ oder sinkt er bald auf den schlammigen Grund?/ Wer weiß es denn? Wer weiß es denn?“
In: Claude Vigée: Bischweiler oder Der große Lebold. Jüdische Komödie .Das erste Buch: Die grünen Kinderjahre der Welt. Aus dem Französischen übersetzt von Lieselotte Kittenberger. Berlin: Das Arsenal 1998, S. 15. (Wird im Folgenden abgekürzt mit: Bischweiler I bzw. II.)
[2] „Es wààrd schulàng e schwàrzes schèffel ém Rièd:/ ès schlooft ém schélf àn de roschdiche kett./ Fér wenne denn? Fér wenne denn?/ Fàhrts endli helluf sunnewäärts,/ odder rutscht’s bàll runder bis én de sumf?/ Wer weiss ès denn? Wer weiss ès denn?“ In: Claude Vigée: Wénderôwefîr. Le feu d’une nuit d’hiver. Strasbourg: L’Association Jean-Baptiste Weckerlin 1988, S. 24.
[3] „Für wen denn? Für wen denn?“ Bischweiler I., S. 15. (Wörtliche Übersetzung: Aber wer wartet denn auf ihn, am verlassenen Ufer? H.P.)
[4] „Schwirrt er endlich zur Sonne hinauf…“ Bischweiler I, S. 15 (Wörtlich: Wird er endlich, Falke, zur Sonne emporschnellen …H.P.)
[5] „wer weiß es denn?“ ebd.
[6] Siehe hierzu insbesondere das Kapitel: „L’école des mutiques“ in: „Un Panier…“ II, S. 165-193. (Deutsch: „Bischweiler“ II, S. 141-154.)
[7] Un Panier…II, S. 216-218/ Bischweiler I, S. 177-180. Un Panier… II, S. 320 und S. 348-351. /Bischweiler II, S. 260-265.
[8] Claude Vigée/Alfred Dott: Le Grenier magique (D’r Gaischderdànz uff de Rumpelkáscht). Bischwiller: Éditions Graph 1998. (Das Gedicht „D’r gaischderdànz uff de rumpelkáscht ( E hundsdääg-fàntàsie))“, S. 100-101. Siehe jetzt auch mit der französischen Übersetzung des Gedichts: „La danse des esprits dans le grenier aux fripes“. In: Claude Vigée: Le passage du vivant . Paris: Parole et Silence 2001, S. 92-95.
[9] Claude Vigée: Soufflenheim. Poèmes/ Gedichte. Édition bilingue/ zweisprachigeAusgabe. Deutsche Über-
setzung: M. Staiber, A. Finck, L. Stehl. Hrsg. von Adrien Finck. Heidelberg: Das Wunderhorn 1996, S. 84-85. (Wird im Folgenden abgekürzt mit Soufflenheim.)
[10] ebd./ „Die Versuchung ist doppelter Art.” (H. P.)
[11] Vigée verwendet das Motiv des Altrheins auch in seiner Ansprache zur Eröffnung des „Centre culturel Claude Vigée“ in Bischwiller am 18. März 2000, hier allerdings unter einem eindeutig negativen Vorzeichen. Claude Vigée: „L’Alsace, École future”. In: Revue Alsacienne de Littérature No. 71, 2000, S. 5. Siehe auch: Claude Vigée: Le passage du vivant . Paris: Parole et Silence 2001, S. 73.
[12] Soufflenheim (Nr. 9), S. 84-85.
[13] Ebd./ „Oder aber sich von der Strömung mitreißen zu lassen,[…]”.(H. P.)
[14] Ebd. / „auf dem Wasser abtreiben bis zum endgültigen Verschlungenwerden in den Strudeln des gewaltigen Stromes[…]”.(H.P.)
[15] Siehe: Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Berlin-Verlag 1998 (Der – treffendere – Originaltitel lautet: „The Corrosion of Character“, zuerst erschienen mit dem Untertitel: The personal consequences of work in new capitalism. New York, London: W. W. Norton & Co. 1999).
[16] Soufflenheim (Nr. 9), S.84-85 / „erfasst von dem unentrinnbaren Kreisen begrenzter Zeit und begrenzten Lebens“.(H. P.)
[17] „[…]s’enfoncer dans l’exil et bondir hors de lui /couler à fond de nuit et resurgir sur la terre.”/ „[…]eintauchen ins Exil und ihm entspringen, untergehen in nächtlichem Grund und wieder hochtauchen zur Erde.“ (H. P.) Ebd.
[18] „Avec Dadelsen, l’Alsace fait une entrée tardive et triomphale dans la litterature française.” In: Baptiste-Marey: “Postface” zu: Jean-Paul de Dadelsen: Goethe en Alsace. Cognac: Le temps qu’il fait 1982, S. 101.
[19] Jean-Paul de Dadelsen: La mort de la femme du pharmacien. In: derselbe: Jonas suivi de Les Ponts de Budapest et autres poèmes. Postface de Henri Thomas. Paris: Gallimard 2005, S. 131.
[20] Jean-Paul de Dadelsen: „Tod der Frau des Apothekers.“ In. derselbe: Jonas. Dichtungen. Geleitwort von Max Rychner. Köln: Jakob Hegner 1964 , S. 86.
[21] Un Panier… II, S.290; Übersetzung: „die fatale Schwere des Lebens“, Bischweiler II, S. 192.
[22] Adrien Finck: Claude Vigée. Un témoignage alsacien. Strasbourg: La Nuée Bleue 2001, S. 96 .
[23] Dieser Aspekt der elsässischen Literatur tritt auf besonders prägnante Weise im Werk von Adrien Finck hervor. Siehe z. B.: A. Finck: Der Sprachlose . Strasbourg/ Basel: Morstadt 1986 sowie derselbe: “Hammerklavier“. Neue Poesie aus dem Elsaß. Hildesheim, New York: Olms 1998. (In dem – für das Buch titelgebenden – Gedicht “Hammerklavier” wird zu Beginn darauf angespielt, dass Experten Beethoven vor dem Komponieren seiner großen Sonate op. 106 „für das Hammerklavier” das Versiegen seiner Schaffenskraft bescheinigen.)
André Weckmann möchte den elsässischen Dialekt mit seinem Gedichtband: „elsassische grammatik“ Nichtelsässern in didaktischer Manier nahe bringen. Diese Manier weist aber auch darauf hin, dass es in diesen Gedichten um etwas Grundlegenderes wie die philologisch bewusste Bestandssicherung einer verschwindenden Sprache geht. (André Weckmann: elsassischi grammatik oder ein Versuch, die Sprache auszuloten. Gedichte im elsässischen Dialekt. Nachbemerkung Fernand Hoffmann. Pfaffenweiler: Pfaffenweiler Presse 1989).
[24] Soufflenheim (Nr. 9) , S. 52 (Übersetzung: „[verpflichtet ] der doppelten Arbeit / des Töpfers und des Dichters:[…]“, ebd., S. 53.).
[25] Un Panier… II, S. 179/ Bischweiler II, S. 151.
[26] Un Panier… II, S. 186/ Bischweiler II, S. 159.
[27] Mit einem satirischen Ton kommt Vigée gelegentlich darauf zu sprechen, dass seine elsässischen Landsleute eher zu einem rezeptiven als zu einem kreativen Verhalten neigen. So charakterisiert er etwa die Elsässer in Les orties noires als „hoochtalendièrdi màdràtzeschàtz-gräwer“. Siehe Nr. 29, S. 56. In seiner Autobiographie sagt er von ihnen: „Écouter, manger, marcher, voir, jouir en silence: dans ces domaines-là, nous sommes tous champions.“ In: Un Panier… II, S. 186 / Bischweiler II , S. 159.
[28] Exemplarisch sollen dafür drei Gedichte verschiedener elsässischer Autoren – etwas wahllos – herausgegriffen werden, die jeweils aus der Spannung zwischen Untergang und Wiederkunft der eigenen Sprache leben: a) André Weckmann: E Schrej. In: A. Weckmann: De Schrej. Le Cri. Der Schrei . Poèmes des années 1972 – 1980. Gedichte der Jahre 1972 -1980 (Édition complète de l’Oeuvre poétique d’André Weckmann, Tome III). Hrsg. von Peter André Bloch. Strasbourg: Oberlin 2000, S. 108-109. b) Claude Vigée: E Bérik ém Dànnewàld/ Eine Birke im Tannenwald. In: C. Vigée: Heimat des Hauches. Gedichte und Gespräche. Hrsg. von Adrien Finck. Bühl-Moos: Elster 1985, S. 84 – 85. c) Adrien Finck: ’S Wunder vom Wort. In: Revue Alsacienne de Littérature No. 72, 2000, S. 69. (Siehe jetzt auch in: Adrien Finck: Brenngeischt. Triphonie-Europhonie. Strasbourg: bf éditions 2001, S. 20-21) Maryse Staiber spricht in diesem Zusammenhang, im Blick auf eine frühere Phase im poetischen Schaffen Adrien Fincks, von einem „ Aufschwung des Gesangs aus dem Verlust der Stimme”. M. Staiber: „Der poetische Weg zur Sprache bei Adrien Finck“. In: Frontières-Mémoires. Hommage à Adrien Finck. Textes réunis par Frédéric Hartweg et Maryse Staiber. Strasbourg: Presses Universitaires de Strasbourg 2001, S. 200.
[29] Claude Vigée: Les orties noires/ Schwàrzi sengessle flàckere em wènd . Emprunts et accompagnement complices. Fréderic Hartweg. Strasbourg: Éditions Oberlin 2000, S. 74.
[30] Ebd., S. 76. Zum Motiv des Kirschbaums siehe auch das in diesem thematischen Zusammenhang wichtige Gedicht: Pâque de la Parole. In: Claude Vigée: Mon heure sur la terre (Nr. 1), S. 539-542.
[31] Dr màndelbaum én Iérüsalem / L’amandier de Jérusalem. In: Claude Vigée: Wénderôwefîr.(Nr 2), S. 168 – 171. In dem kurzen Text L’amandier sur le gel deutet Vigée übrigens den Mandelbaum, der im Winter, Ende Januar, zu blühen beginnt, als Allegorie für ein gelungenes Gedicht. Siehe: Claude Vigée: Le passage du vivant. Paris: Parole et Silence 2001, S. 90.
[32] In: Claude Vigée: Vision et silence dans la poètique juive. Demain la seule demeure. Paris: L’Harmattan 1999, S. 82 (Übersetzung: eine Literatur der Wiederauferstehung. H.P.).
[33] Ebd. (Übersetzung: die dunkle und leidende Erde. H.P.).
[34] Ebd. (Übersetzung: die Sphäre des Erhabenen. H.P.)
[35] Ebd. (Übersetzung: das Abenteuer der fortlaufenden und endlichen Zeit. H.P.).
[36] Wie die „kleine Literatur” im Sinne von Deleuze/Guaratti so hütet sich auch die jüdische Literatur im Sinne Vigées davor, aus dem plötzlichen Gewinn einer befreienden Sprache den Anspruch auf Repräsentativität abzuleiten. Siehe etwa: Gilles Deleuze /Felix Guaratti: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt a.M : Suhrkamp 1976, S. 38-39.
[37] Claude Vigée: Les avantages du pire. In: C. Vigée: La lune d’hiver: Récit-Journal-Essai. Paris: Flammarion 1970, S. 267 (Der Titel des Aufsatzes lautet auf Deutsch: Die Vorteile des Schlimmsten. Übersetzung des zitierten Satzes: Wir haben die unerwartete Vitalität derjenigen, die man ein wenig zu schnell zur Nichtexistenz hat verurteilen wollen. H.P.).
[38] Nach Heidi Trändlin beruht eine innere Konvergenz zwischen Vigées elsässischer Dichtung (hier insbesondere repräsentiert durch das Gedicht Pâque de la Parole) und dem Judentum, bzw. zwischen Bischwiller und Jerusalem, in Vigées Perspektive auf dem gemeinsamen Verlangen nach Wiederauferstehung:
„Dans les poèmes alsaciens de Vigée, Jérusalem la ville sainte entre en résonance avec le temps et le lieu natal. De la Haute-Judée à la Basse Alsace, le poème fait un arc-en-ciel qui figure l’alliance d’un même désir de résurrection.“ Heidi Traendlin: La poésie alsacienne de Claude Vigée. Poésie baroque, poésie d’enfance. Thèse de doctorat. Strasbourg: Université Marc Bloch 1999, S. 81 (siehe auch S. 163).
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